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Widerstand im Nationalsozialismus – eine aktuelle Botschaft aus einem vergangenen Jahrhundert - Essay | Widerstand | bpb.de

Widerstand Editorial Was ist Widerstand? Widerstand im Nationalsozialismus – eine aktuelle Botschaft? Der 20. Juli 1944 in der frühen Bundesrepublik Widerstand und Selbstbehauptung von Juden im NS Widerstand und Genozid: Der Krieg des Deutschen Reiches gegen die Herero Der lange Weg des ANC: Aus dem Widerstand zur Staatspartei Widerstand und Opposition gegen den Sowjetkommunismus in Ostmitteleuropa

Widerstand im Nationalsozialismus – eine aktuelle Botschaft aus einem vergangenen Jahrhundert - Essay

Angelika Nußberger

/ 21 Minuten zu lesen

Stellen wir uns ein modernes Theater vor, karg ausgestattet wie alle modernen Theater, mit nur einer Öllampe und einem Mann, der am Schreibtisch sitzt. Er arbeitet an einem Schriftstück. Es ereignet sich nichts, der Mann liest, ist vertieft in das Dokument, das vor ihm liegt, blickt nicht auf. Weil es modernes Theater ist, sehen wir ihm sehr lange zu. Es ereignet sich nichts. Der erste Akt. Im zweiten Akt sitzt der Mann wieder an einem Tisch. Diesmal ist es ein runder Tisch. Die Öllampe gibt noch weniger Licht. Um den Mann sind andere Männer gruppiert, gleichen Alters, gleicher Verschlossenheit. Sie beugen sich zueinander und sprechen. Wir verstehen nicht, was sie sagen. Weil es modernes Theater ist, sehen wir ihnen sehr lange zu. Es ereignet sich nichts. Der zweite Akt. Im dritten Akt ist der Mann wieder alleine. Er sitzt wieder an einem Tisch, diesmal an einem kleinen wackeligen Holztisch. Die Öllampe ist nahezu erloschen. Der Mann starrt vor sich hin. Er wartet auf seine Hinrichtung. Weil es modernes Theater ist, sehen wir ihm sehr lange zu. Es ereignet sich nichts. Der dritte Akt. Ein guter Regisseur würde die Hinrichtung nicht in Szene setzen. Vielleicht ließe er sie einen Sprecher verkünden. Oder man würde uns, dem Publikum, beim Verlassen des Theaters einen Zettel in die Hand drücken. Damit wir Gewissheit haben. Der Mann ist hingerichtet worden.

Dies könnte das Grundmodell für ein Stück mit Variationen sein. Der Variationen gäbe es viele. Im ersten Akt könnte jemand Türen öffnen und auf Treppen verweisen, während Schatten vorbeihuschen. Im zweiten Akt könnte jemand verzweifelt Essensmarken zählen. Oder: Im ersten Akt könnte jemand im Dunklen Bomben bauen und Munition zurechtlegen und im zweiten Akt hinter einer Mauer hervorspringen und mit einer Pistole zu zielen versuchen. Der dritte Akt wäre immer identisch: das Warten auf die Hinrichtung.

Wir können den Personen auch Namen geben, um sie einzuordnen, fiktive Namen für das Theater, aber auch wahre Namen. Sagen wir: Es war der Pater Alfred Delp, der versuchte, die katholische Bischofskonferenz aufzurütteln und zu einer deutlichen Position gegen das NS-Regime zu bewegen und der schließlich beim Kreisauer Kreis mitarbeitete. Er wurde im Januar 1945 zu Tode verurteilt. Sagen wir: Es war Frank Kaufmann, jüdischer Abstammung, gläubiges Mitglied der Bekennenden Kirche, der Juden Unterkunft verschaffte, sie mit Geld, Lebensmitteln und gefälschten Ausweisen versorgte. Er wurde im KZ Sachsenhausen ermordet. Sagen wir: Es war Admiral Wilhelm Canaris, der enge Kontakte zum Kreisauer Kreis hatte und das Amt Ausland/Abwehr als Ort des Widerstands etablierte. Canaris wurde ins KZ Flossenbürg deportiert und im April 1945 hingerichtet.

Wir stehen auf dem Theatervorplatz. Was bedeuten diese Theaterstücke? Sind die Hinrichtungen das Ende? Sind sie der Anfang? Ich behaupte, sie sind der Anfang. Dieser Anfang liegt nunmehr fast 70 Jahre zurück. Der Anfang beginnt 1945. Wir können das, was danach geschieht, nicht mehr auf die Bühne bringen, es gibt nichts mehr zu sehen, nichts, was bildlich darzustellen wäre. Aber wir können gemeinsam darüber nachdenken. Was bedeutet das Schicksal derjenigen, die wir heute unter den weiten Begriff "Widerstandskämpfer" fassen, im Jahr 2014? Ist der "deutsche Widerstand im Nationalsozialismus" für uns mehr als ein Lexikoneintrag, den wir kopieren und archivieren, um ihn dann zu vergessen?

Ich werde eine Annäherung an die Widerstandskämpfer in drei Schritten versuchen: Im ersten Schritt will ich unter der Überschrift "Vom Vaterlandsverräter zum Helden" über die Zeitgebundenheit und Instrumentalisierung der Schicksale von Menschen, die in einem bestimmten geschichtlichen Kontext aus der Menge herausgetreten sind, nachdenken. Der zweite Schritt figuriert unter dem Titel "Vom Helden zum Beschwerdeführer". Mich interessiert, ob die für unsere Gegenwart typische Verrechtlichung "Helden" ihrer Größe und Einmaligkeit beraubt und sie, ausgestattet mit durchsetzbaren Rechtsansprüchen, vielleicht erfolgreich, aber jedenfalls glanzlos vor die gerichtlichen Instanzen ziehen lässt. Der dritte und letzte Schritt führt "Vom Beschwerdeführer zum Mitmenschen". Nehmen wir an, jene Männer und Frauen aus einer anderen Zeit stünden einfach neben uns – hätten sie uns dann etwas zu sagen?

Vom Vaterlandsverräter zum Helden

Wertungen ändern sich. Sehr eindrücklich für den zunächst langsamen und zögerlichen Beginn des Umbruchs der moralischen und später auch rechtlichen Wertungen am Ende des Zweiten Weltkriegs ist eine Stelle in den Memoiren von Joachim Fest. Er schildert die Reaktionen, als die in französische Gefangenschaft geratenen deutschen Soldaten am 11. Mai 1945 von der Kapitulation der Wehrmacht erfahren: "Schon von weitem war eine erregte Auseinandersetzung zu erkennen; als ich hinzukam, sagte einer der Gefangenen gerade zu einer Gruppe Herumstehender: ‚Na, endlich Schluss! Es wurde höchste Zeit!‘ Die Mehrzahl der Versammelten sah ihn wortlos an. Wenige Meter entfernt stand ein Feldwebel, der verschiedentlich so herrisch aufgetreten war, dass man annehmen konnte, er halte die Zeit des Herumkommandierens noch immer nicht für vorbei. Nicht ohne Schärfe fuhr er den Soldaten an: ‚Was heißt denn ‚endlich‘? Dass wir den Krieg verloren haben? Wolltest du das?’ Dabei sah er sich beifallsuchend um. Der Angesprochene, der schon im Abgehen war, machte kehrt, rückte nah an das Gesicht des Feldwebels heran und erwiderte in gedämpftem, aber uneingeschüchtertem Ton: ‚Nein! Sondern dass der verdammte Krieg zu Ende ist!‘ Ein Gefreiter mischte sich ein und brüllte über die Köpfe hin: ‚War sowieso ein Idiotenkrieg! Von Anfang an! Wer hat denn an den Sieg geglaubt?‘ Ein anderer rief in das zunehmende Durcheinander hinein: ‚Das Genie des Führers! Du lieber Himmel!‘ Und bald schrie einer gegen den anderen an, vereinzelt kam es zu Handgreiflichkeiten, und immer wieder fiel das Wort vom ‚Idiotenkrieg‘ und von der ‚Größe des Führers‘." Der große Krieg, dessen siegreiches Ende man bis zuletzt beschworen hatte, war zum "Idiotenkrieg" geworden.

Noch im Januar desselben Jahres war ein Großteil derer, die Widerstand geleistet hatten und in den KZs inhaftiert waren, wegen Hochverrats verurteilt und hingerichtet worden, weil sie nicht an die Überlegenheit und den Sieg des nationalsozialistischen Regimes glaubten, weil sie sich menschenverachtenden, aber für selbstverständlich gehaltenen Forderungen entgegenstellten, weil sie für eine Zeit "danach" planten. Die Ziele und Werte, die zu diesem Zeitpunkt noch als Hochverrat angesehen worden waren, dienten wenig später als neue Orientierungspunkte und wurden in der politischen Arbeit derjenigen, die überlebt hatten und die neu anfangen durften, beschworen. Seither wurden für die Widerstandskämpfer Gedenksteine errichtet, Straßen und Schulen nach ihnen benannt. Während an ihren offenen Gräbern 1945, so es überhaupt offene Gräber gab, nur ein sehr kleiner Kreis von Freunden und Bekannten stand, ist das Gedenken mittlerweile institutionalisiert worden.

Derartige Umwertungen, immer verbunden mit Umbrüchen und Epochenwechseln, sind uns auch aus der jüngeren Geschichte bekannt. Als am 9. April 2003 das überlebensgroße Standbild des Diktators Saddam Hussein gestürzt wurde, begann eine neue Zeit im Irak. Das Bild des sich langsam zur Erde neigenden Diktators war ein wirkmächtiges Symbol dafür. Auch in den Ländern Mittel- und Osteuropas wurden in der Umbruchszeit 1989/1990 Denkmale kommunistischer Führer verhüllt und abgerissen, Straßen und sogar Städte (etwa Karl-Marx-Stadt und Leningrad) umbenannt, um diejenigen, die einstmals als Helden galten, zu vergessen und dem Neuen den Weg zu bereiten. Umgekehrt kamen diejenigen, die zuvor persona non grata oder in Haft gewesen waren, zu überraschenden Ehren, Macht und Einfluss (etwa Václav Havel in der Tschechischen Republik). Nicht immer waren die Neuwertungen unumstritten. Als zum Beispiel 2007 ein sowjetisches Kriegerdenkmal in Tallinn, das der "Befreiung" des Baltikums durch die sowjetische Armee gewidmet war, vom Hauptplatz auf den Friedhof verbracht werden sollte, führte dies zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der russischen Minderheit. In der Ukraine wissen wir noch nicht, wer in Kürze und wer mit längerem zeitlichen Abstand als Held gelten wird.

Nicht nur Denkmäler werden versetzt oder zerstört. Ebenso ändert sich die rechtliche und moralische Bewertung; was als Recht angesehen war, wird plötzlich als schweres Unrecht verstanden. So wurden viele "Mauerschützen", die in der DDR prämiert und befördert worden waren und Anspruch auf Sonderurlaub hatten, wenn sie einen Flüchtling an der Grenze niedergestreckt hatten, nach der deutschen Vereinigung für ihr Tun verurteilt; die dafür verantwortlichen, im Politbüro hoch geehrten kommunistischen Führer des Landes wurden gleichermaßen ins Gefängnis gesperrt. Mit historischen Umbrüchen sind also in aller Regel auch Neubewertungen der Leistungen derer verbunden, die eine Epoche geprägt haben: Aus Verrätern werden Helden, Helden werden als Mörder verurteilt.

Die deutschen Widerstandskämpfer sind von Vaterlandsverrätern zu Helden geworden. Für manche aber war dies ein weiter Weg. Für viele Hinterbliebene war er verbunden mit einer bitteren Zeit der Armut und oft der Demütigung. Aber halten wir an diesen Neuwertungen noch fest? Oder sind auch sie bereits wieder dem geschichtlichen Wandel unterworfen? Ist die Verehrung der Widerstandskämpfer, sei es derer, die im Vordergrund gestanden haben wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg, sei es derer, die gesprochen und geplant, aber nicht unmittelbar zur Tat geschritten sind wie die Mitglieder des Kreisauer Kreises, sei es derer, die im Hintergrund "Rettungswiderstand" geleistet haben und oftmals namentlich nicht bekannt sind, nach vielen Jahrzehnten ein bequemes, leer gewordenes Ritual geworden, über das man sich nicht mehr viele Gedanken macht? Hat man sie gar entthront, durch andere "Helden" ersetzt? Oder aber ist das Gedenken an sie noch immer ein bewusster und identitätsstiftender Akt des kollektiven Erinnerns?

Die Tatsache, dass für die NS-Zeit die historischen Wertungen mit Blick auf Rassenideologie, Genozid und Angriffskrieg eindeutig sind, macht es gewissermaßen einfach, die Gegner des Regimes, gleich aus welchen Gründen sie sich ihm entgegengestellt haben, als die "Guten" zu identifizieren; insofern sind es grundsätzlich unstrittige Helden. Wer diejenigen verehrt, die gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime gekämpft haben, steht auf der Seite von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Es sind also "bequeme" Helden, bei denen man keine großen Kontroversen zu befürchten hat. Bei einem zweiten, genaueren Blick ergibt sich allerdings, dass dies nicht so eindeutig ist, wie es scheint. Denn diejenigen, die den Widerstand gegen das "Dritte Reich" organisiert haben, waren ja nicht nur gegen etwas, sondern hatten auch eigene Ideen entwickelt, die sie der herrschenden nationalsozialistischen Ideologie entgegensetzen wollten. Und da mag man bei manchem dann doch etwas zurückhaltend sein. Dem konservativen Gedankengut mancher Widerstandskämpfer, etwa des Goerdeler-Kreises, muss man ebenso wenig wie den von Stalins Moskau inspirierten kommunistischen Widerstandskämpfern, etwa Wilhelm Knöchel, in allen Facetten zustimmen wollen.

Auch mag die Perspektive von außen nachdenklich stimmen. So hat die Bundesregierung 2012 den ehemaligen polnischen Botschafter Janusz Reiter als Festredner zum 20. Juli eingeladen. "Es ist der schwierigste Redeauftrag, den ich je angenommen habe", begann er und erläuterte, dass er sich mit dem Thema schwer getan habe, "weil sich auch viele, vielleicht die meisten Angehörigen der deutschen Widerstandsgruppen mit Polen schwer getan haben". Das bekannte Zitat Stauffenbergs von 1939, die Bevölkerung in Polen sei "ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich nur unter der Knute wohlfühlt. Die Tausenden von Gefangenen werden unserer Landwirtschaft recht gut tun", lastet schwer auf dem Versuch eines gemeinsamen deutsch-polnischen Gedenkens. Janusz Reiter würdigte die Widerstandskämpfer daher nicht, "weil sie immer recht hatten", sondern "weil sie sich entschlossen, gegen den übermächtigen Strom ihrer Zeit zu gehen und ihr Leben aufs Spiel zu setzen".

Wie Reiter haben auch wir daher heute keine unkritische Sicht auf die damaligen Widerstandskämpfer, sondern sind bereit, zu differenzieren und Nuancen wahrzunehmen. Es sind also keine "bequemen" Helden, sondern Menschen, die in der noch nicht fernen Vergangenheit gelebt haben und in ihrem Tun widersprüchlich, suchend und unvollkommen waren – wie andere auch. Damit ist es kein leeres Ritual, der Widerstandskämpfer zu gedenken, sondern eine mit dem Wort "trotzdem" überschriebene Entscheidung: Auch wenn die Verschwörer des 20. Juli, auch wenn die anderen Widerstandsgruppen in manchem geirrt haben mögen und man ihr politisches Programm nicht als eine Vision für unsere Zeit akzeptieren will, so erkennen wir doch – trotzdem – ihren Mut und ihr "Nein" zum Nationalsozialismus als wegweisend auch für unsere Gegenwart an.

Vom Helden zum Beschwerdeführer

Stellen wir uns einmal vor, die Geschichte eines Widerstandskämpfers wie Graf von Stauffenberg hätte sich in einem europäischen Land im Jahr 2014 ereignet. Nach einem Attentatsversuch wäre ein Verschwörungsplan aufgeflogen, die Verschwörer wären in allen Landesteilen noch am Abend desselben Tages aufgespürt und vom Geheimdienst ohne Haftbefehl und Angabe eines Haftgrundes verhaftet worden. Auch eine Vorführung vor einen Richter hätte nicht stattgefunden. Der anschließende Gerichtsprozess würde rechtsstaatlichen Maßstäben Hohn sprechen und im Grunde nur aus einer hasserfüllt vorgetragenen Anklage bestehen. Der Richterspruch würde mit einem Todesurteil enden.

Wir hoffen, dass im Europa des 21. Jahrhunderts all dies nicht mehr möglich ist, auch wenn die Bilder der Gewalt in der Ukraine gerade auch mit Blick auf mögliche Konsequenzen der "Abrechnung" tief verstörend sind. Aber immerhin ist die Todesstrafe in allen Mitgliedsstaaten des Europarats und damit in allen europäischen Staaten außer Weißrussland abgeschafft. In Russland steht sie zwar noch in der Verfassung; Russland hat auch das entsprechende sechste Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht ratifiziert. Aber auch dort ist ihre Verhängung und Vollstreckung aufgrund der Rechtsprechung des Russischen Verfassungsgerichts nicht möglich. In den allermeisten europäischen Staaten gilt dies sogar nicht nur für Friedens-, sondern auch für Kriegszeiten.

Für die europäischen Staaten schiebt nicht nur das nationale Recht, sondern auch das Völkerrecht einem derartigen Vorgehen der staatlichen Behörden einen Riegel vor, nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Denn es stellt dem Betroffenen Verfahren bereit, um sich zu wehren. So könnten diejenigen, die des Hochverrats bezichtigt werden, heute bereits unmittelbar nach ihrer Inhaftierung Beschwerde zunächst bei den jeweiligen nationalen Gerichten und danach, wäre dies erfolglos geblieben, beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einlegen. Wäre das Verfahren gegen sie dennoch, wie beschrieben, weiter gelaufen, hätten sie nach der Verurteilung die Möglichkeit, sich auf der Grundlage der berühmten "Rule 39" an den Gerichtshof zu wenden und eine Eilentscheidung zu beantragen. Ein Fax würde genügen. Innerhalb weniger Stunden würde ein Richter oder eine Richterin in Straßburg den Fall prüfen, die Unzulässigkeit der Verhängung der Todesstrafe feststellen und aufgrund der unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben anordnen, dass die Entscheidung des nationalen Gerichts nicht vollstreckt werden darf. Der Fall würde als prioritär eingeordnet und mit aller Wahrscheinlichkeit würde eine Kammer des Gerichtshofs wenig später den betreffenden Staat wegen mehrerer Verletzungen der EMRK verurteilen: aufgrund der rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht entsprechenden Verhaftung (Art. 5 EMRK, Recht auf Freiheit), aufgrund der Art des Strafverfahrens (Art. 6 EMRK, Recht auf faires Verfahren) und aufgrund der Verhängung der Todesstrafe (Art. 2 EMRK, Recht auf Leben). Und der entsprechende Staat – nehmen wir einmal an, er würde sich völkerrechtskonform verhalten – würde die vom Gerichtshof festgesetzte Entschädigungszahlung zahlen, das Verfahren wieder aufnehmen und den Betroffenen nach Anhörung von Zeugen und Untersuchung aller Beweismittel wahrscheinlich zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilen. Diese müsste wiederum konventionsgemäß vollstreckt werden: Die Zelle dürfte nicht zu klein und nicht überbelegt sein, es müsste Licht und Luft geben, Waschgelegenheiten und sportliche Betätigungen. Leiden dürfte der Beschwerdeführer nicht, die Bestrafung müsste menschlich sein.

All dies zeigt: Wir leben in einer humaneren Zeit, zweifellos in einer Zeit, die nicht mit den Kriegstagen der Jahre 1944 und 1945 zu vergleichen ist. Allerdings wäre es nicht richtig anzunehmen, dass schlimme Fälle heutzutage ausgeschlossen wären. Es seien nur drei Beispiele aus der Rechtsprechung des EGMR genannt: 1994 wurden vier moldauische Bürger in Transnistrien verhaftet, von einem offiziell nicht existierenden Gericht verurteilt, misshandelt und mehrfach zu Scheinexekutionen geführt. Der Kurdenführer Abdullah Öcalan wurde 1999 in Kenia von türkischen Sicherheitskräften aufgegriffen und in einem rechtsstaatlichen Anforderungen nicht genügenden Prozess zum Tode verurteilt. Im Fall Faisal Al-Saadoon und Khalef Hussein Mufdhi gegen das Vereinigte Königreich übergaben die britischen Truppen 2008 die beiden terrorverdächtigen Gefangenen den irakischen Behörden, obwohl ihnen dort die Todesstrafe drohte.

In all diesen Fällen war der europäische Menschenrechtsschutzmechanismus zugegebenermaßen nur bedingt effektiv. Zwar wurde keiner der Beschwerdeführer getötet. Aber die moldauischen Bürger wurden erst nach insgesamt 15-jähriger Haftstrafe entlassen, ohne dass das Urteil des EGMR darauf Einfluss genommen hätte. Öcalans Todesstrafe wurde in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt, wobei es aber wohl vor allem die EU war, die effektiv Einfluss auf die Türkei nahm und sie dazu brachte, das entsprechende Protokoll zu ratifizieren. Und auch Al-Saadoon und Mufdhi wurden im Ergebnis nicht zum Tode verurteilt und hingerichtet. Aber sogar die Eilentscheidung des Gerichtshofs auf der Grundlage der "Rule 39" war wirkungslos gewesen – die britische Regierung hatte sich geweigert, sie zu befolgen.

Wichtig ist in unserem Zusammenhang aber ein anderer Aspekt: Aus all jenen, die für eine bestimmte Sache gekämpft haben, sind in einer verrechtlichten Welt verurteilte Straftäter geworden, die ihre Rechte vor verschiedenen Gerichten einzuklagen versuchten und dies unter Umständen weiter versuchen. Es geht nicht mehr um das Große, um das Ganze, um den Mut, sein Leben für seine Überzeugung zu opfern, sondern vielmehr um Anwaltsgebühren und Prozesskostenhilfe, um einzelne Beweisfragen, um die Details eines juristischen Prozesses. Aus "Helden" sind somit Beschwerdeführer geworden. Dies ist nicht abwertend gemeint. Aber es fehlt eben die "letzte Konsequenz", die "himmelschreiende Ungerechtigkeit", die mit aller Dringlichkeit gestellte Sinnfrage, die für uns im Narrativ der deutschen Widerstandskämpfer so entscheidend ist.

Warum mussten, nur wenige Monate vor dem Ende des "kollektiven Wahnsinns" in Deutschland, zu einem Zeitpunkt, als das Ende schon für alle erkennbar war, so viele ungerechte Todesurteile noch vollstreckt werden? Warum hatten die Henker solche Eile? War dies letztlich nicht einfach absurd? Gerade weil die Hinrichtung der Widerstandskämpfer so scheinbar sinnlos war, war sie eben nicht das Ende, sondern der Anfang der eigentlichen Geschichte. Was sinnlos war, war doch sinnstiftend, zumindest aus der Ex-post-Perspektive. Aber brauchen wir dieses tragische Moment, diesen letzten "Kick" wirklich, um anzuerkennen, dass Menschen Außergewöhnliches geleistet haben, aus der Menge herausgetreten sind, Vorbilder sind? Anscheinend ja: Wie uns die Erinnerung an den Widerstand zeigt, sind es vor allem die Ermordeten, die über die Jahrzehnte hinweg gefeiert werden, weit mehr als ihre Mitstreiter, die der nationalsozialistischen Verfolgungsmaschinerie entgangen sind. Dies entspricht den Wertungen der Nachkriegszeit, in der die "Helden" "gemacht" wurden.

Ist dies heute anders? Sind nicht auch diejenigen, die heutzutage Menschenrechtsverletzungen einklagen, mit denjenigen vergleichbar, die in Zeiten der Diktatur dem Regime mutig getrotzt haben? Nehmen wir wieder ein paar Beispiele aus der Rechtsprechung des EGMR: 2003 wurde die russische Richterin Olga Kudeshkina bei einem wichtigen Prozess von der Vorsitzenden des Moskauer Stadtgerichts bedrängt, in einer bestimmten Weise zu entscheiden. Sie widersetzte sich, das Verfahren wurde ihr entzogen. Sie erzählte von dem Druck, der auf sie ausgeübt worden war, in der Öffentlichkeit. Ein Disziplinarverfahren wurde gegen sie eingeleitet, und sie verlor ihre Richterstelle. Den Prozess in Straßburg hat sie gewonnen, aber noch immer ist sie ohne Arbeit.

Die Berliner Altenpflegerin Brigitte Heinisch war der Meinung, dass in ihrem Heim zu wenige Pflegekräfte eingesetzt wurden und protestierte dagegen über Jahre. Die Behörden reagierten nicht, bis Heinisch sich an die Öffentlichkeit wandte und einen Rechtsanwalt eine Strafanzeige stellen ließ. Gegen ihre außerordentliche Kündigung 2005 kämpfte sie vor den deutschen Gerichten vergebens; in Straßburg hatte sie Erfolg. Horst Zaunegger wollte als Vater eines unehelich geborenen Kindes gemeinsam mit der Mutter das Erziehungsrecht ausüben. Da diese damit nicht einverstanden war, lehnten dies die Gerichte ab, ohne die Umstände des konkreten Falls, insbesondere das Kindeswohl prüfen zu können. Auch Herr Zaunegger bekam 2009 in Straßburg Recht.

All diese Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer haben mit ihren jahrelangen Prozessen wesentliche gesellschaftliche Schieflagen aufgedeckt. Das Problem ist allerdings, dass das Recht sie in gewisser Weise zu "Egoisten" macht. Sie müssen für ihre eigenen Rechte klagen, ihre eigenen Ansprüche durchsetzen. Frau Kudeshkina klagt gegen ihre Entlassung aus dem Richterdienst, Frau Heinisch gegen ihre ungerechtfertigte Kündigung, Herr Zaunegger gegen den Ausschluss vom elterlichen Sorgerecht. Sie sind nicht Robin Hood, der sich für die Rechte der anderen einsetzt, der dies selbstlos tut, auch wenn ihr Protest über den Multiplikator "Gericht" Wirkungen für die Gesellschaft als Ganze hat. Gewinnen sie ihren Prozess, gibt man ihnen Geld. Ihr Leiden wird so zur kleinen Münze, verliert die Dimension des Tragischen und Grundsätzlichen.

Vielleicht sind daher die eigentlichen "Helden" unserer verrechtlichten Zeit die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte. Nicht jene, die auf rechtsschutzversicherte Klientel mit vorgeformten Beschwerden warten – auch wenn ihre Rolle in der Gesellschaft zweifellos von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist –, sondern diejenigen, die sich für die Rechte derer einsetzen, die die Gesellschaft rechtlos gestellt hat, die gegen den gesellschaftlichen Mainstream kämpfen.

Vielleicht ist der Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation, der einen für schizophren erklärten und teilentmündigen jungen Mann in einem elenden Heim in den bulgarischen Bergen aufgestöbert und seinen Fall um der grundsätzlichen Bedeutung willen bis zum Straßburger Gerichtshof gebracht hat, ein Held der Gegenwart? Auch manche Widerstandskämpfer haben sich – wie etwa der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen – für Menschen mit Behinderungen oder – wie der Berliner Dompfarrer Bernhard Lichtenberg – für "nichtarische" Christen eingesetzt. Vielleicht sind ihnen vergleichbar auch die russischen Rechtsanwälte, die im Prozess um die Aufarbeitung der Verbrechen von Katyn ihren polnischen Kollegen beigesprungen sind? Vielleicht sind es die Rechtsanwälte, die unter Gefahr für ihr Leben nach Tschetschenien fahren, um die Geschichten der Opfer der beiden Kriege anzuhören und Gerechtigkeit für sie einfordern?

Aber damit sind wir bereits wieder weit von unserer Gegenwart in Deutschland entfernt, angekommen in einer Welt, in der es wiederum um Leben und Tod geht. Nicht wenige der Rechtsanwälte und im Übrigen auch der Journalistinnen und Journalisten, die sich um diese Fälle gekümmert haben, sind inzwischen ermordet oder unter mysteriösen Umständen tot aufgefunden worden: Man denke an Anna Politkowskaja, Natalya Estemirova, Stanislav Markelov und Anastasja Baburova. Vielleicht ist der europäische Blick auf Menschen, die in anderen Ländern Herausragendes geleistet haben und mutig aus der Menge der Ja-Sager und Wegschauer herausgetreten sind, aber gerade das, was das 21. Jahrhundert fordert: Nicht "mein Held" und "dein Held", sondern "unser Held" in einem als Einheit verstandenen Europa.

Vom Beschwerdeführer zum Mitmenschen

Kehren wir von Russland zurück nach Deutschland. Angenommen, einer der Widerstandskämpfer aus der Zeit des Nationalsozialismus stünde neben uns, hic et nunc – hätte er uns etwas zu sagen? Können wir ihn einfach neben uns als unseren Mitmenschen, den wir bewundern, dem wir zuhören wollen, sehen?

Zunächst einmal: Wie sollen wir sie uns vorstellen, jene zum Mythos gewordenen Figuren? Ich stelle sie mir wie "Alltagsmenschen" vor, aus verschiedenen sozialen Schichten kommend, von verschiedenen Erfahrungen geprägt, Einzelgänger oder gesellschaftlich aktiv, verheiratet oder ledig, jung oder schon in fortgeschrittenem Alter, ehrgeizig oder mit Wenigem zufrieden. Manche der Persönlichkeiten, die im Lexikon als "Widerstandskämpfer" und "Held" figurieren, würden uns vielleicht kaum auffallen. Andere dagegen ragen heraus. Dies gilt für die großen Köpfe und für die im Vordergrund stehenden Akteure wie Helmuth James Graf Moltke, Dietrich Bonhoeffer, die Geschwister Hans und Sophie Scholl oder Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Wir haben ein Bild von ihnen, weil die Erinnerungskultur ein Bild von ihnen gezeichnet, manchmal auch Wünsche und Vorstellungen auf sie projiziert hat.

Heute sehen wir deutlicher als früher neben den "lauten" gerade auch die "leisen" Helden, etwa die Frauen, deren Kampf um ihre "nichtarischen" Ehemänner als "Protest in der Rosenstraße" bekannt geworden ist, oder auch die alten Frauen in Berlin, die den späteren Entertainer Hans Rosenthal versteckt und am Leben erhalten haben. Warum brauchen wir auch diese leisen Helden aus der NS-Zeit, die Helden der nachbarschaftlichen Tat, die vor allem ihre Standhaftigkeit, Unbeirrbarkeit und Furchtlosigkeit auszeichnet? Ich will versuchen, drei Antworten zu geben.

Die erste Antwort ist: Weil wir uns nach Antihelden sehnen, die das Gegenteil von dem verkörpern, was der Nationalsozialismus für uns darstellte. Der von Joachim Fest beschriebene, herrische und zum Streit bereite Feldwebel, der neben seinen von der Propaganda geprägten Ansichten nichts gelten lässt und auch dann noch nicht nachzudenken beginnt, als seine Welt bereits zusammengebrochen ist, bildet die Negativfolie dazu: Die neuen Vorbilder für die Zeit nach 1945 sollen vor allem anders sein als dieser herrische Feldwebel.

Die zweite Antwort: Weil es noch immer die NS-Zeit ist, die uns in unserer Geschichte am meisten herausfordert und bewegt. Dies gilt auch für die Jugend: 2008/2009 beschäftigte das Thema "Helden – geehrt, verkannt, vergessen" Hunderte von Jugendliche, die am von der Körber-Stiftung ausgeschriebenen Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten teilnahmen. Gefragt wurde, was sie heute unter "Helden" verstehen, worin sie vorbildliches Verhalten sehen und welche unentdeckten historischen Helden sie ins Rampenlicht stellen wollen. Rund ein Drittel aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer befasste sich mit stillen Helden und Widerstandskämpfern während des Nationalsozialismus.

Die dritte Antwort: Weil wir in unserer fortdauernden Zerrissenheit aufgrund unserer Mea-culpa-Gefühlslage Brücken brauchen zwischen der Zeit vor 1933 und der Zeit nach 1945. Um mit einem Bild von Gottfried Benn zu sprechen: Diese Menschen haben Brücken über einen Strom zu bauen versucht, der zu diesem Zeitpunkt schon fast vergangen war. So heißt es in Benns Schleierkraut-Gedicht: "jeder weiß von den Tagen/wo wir die Ferne sehn/leben ist Brückenschlagen/über Ströme, die vergehn." Und dann in der letzten Strophe: "Sterbendes will schweigen/silence panique/erst die Brücken geschlagen/das Blutplateau/dann, wenn die Brücken tragen/die Ströme – wo?"

So war es auch mit jenen, die in den letzten Kriegstagen ermordet wurden. Sie hatten Brücken zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu bauen versucht, die zurückreichten in das Gedankengut der Weimarer Republik, hatten angekämpft gegen die Ströme der nationalsozialistischen Ideologie, die sie hinwegzureißen drohten. Doch als die Brücken trugen, waren eben jene Ströme schon nicht mehr existent. Mit ihrem Tod haben sie etwas überwunden, das es wenig später nicht mehr gab. Aber die Brücken stehen noch, für uns, für die Nachgeborenen. Für uns ist es wichtig, dass der Brückenbau nicht erst begonnen hat, als alles vorbei war, sondern dass die Anfänge des Brückenbaus zurückreichen in jene düsterste Zeit der deutschen Geschichte. Als alles in sich zusammenstürzte, waren bereits die ersten Brückenpfeiler errichtet, auf die sich der Neuanfang stützen konnte.

Dies lindert – zumindest ein wenig – den Bruch in unserer Geschichte und den Bruch in unserer Identität. Denn um unsere Identität geht es bei der kollektiven Erinnerung. Die Weiße Rose, der Goerdeler-Kreis, der Kreisauer Kreis, die Verschwörer des 20. Juli und all jene, die wir nicht so leicht zu- und einordnen können, sie alle zeigen uns, dass es nicht nur Diskontinuität gibt in unserer Geschichte, sondern dass auch ein schmaler, aber tragfähiger Faden der Kontinuität über zwölf Jahre Diktatur gespannt ist. Und dass es nicht nur einige wenige Große waren, die den Mut hatten, anders zu sein und auch dann noch "Nein" zu sagen, wenn es ihr Leben kosten konnte, sondern dass es auch Menschen waren mit sehr "normalen" Biografien, Menschen mit einem bestimmen Dialekt, Menschen, die in der Familie, in der Kirche, im Verein ihr Zuhause fanden, die aus dem Schatten traten und sagten "So nicht".

Stünden sie neben uns, könnten sie uns das erklären: dass sie sich nicht von der Stelle rücken ließen, an der zu stehen sie für richtig hielten; dass man sich in "normaler" Zeit nicht vorstellen kann, wie die Welle der Geschichte über dem eigenen Kopf zusammenschlagen kann; dass man für Opfer bereit sein muss, da der einfache Weg nicht immer der richtige Weg und manches Mal auch nicht der akzeptable Weg ist.

Wir und unsere "Helden"

Ich behauptete eingangs, die Nachgeschichte, die Wirkungsgeschichte der kurz vor Kriegsende Getöteten, die 1945 begann, könne man auf der Bühne nicht inszenieren, weil es dazu keine Bilder gäbe. Vielleicht doch. Möglich wäre, dazu ein postmodernes, experimentelles Stück aufzuführen. Ich denke an eine Veranstaltung wie die des Regie-Kollektivs "Rimini Protokoll", das bei der 60-Jahrfeier des Bundesverfassungsgerichts ein entsprechendes Projekt "100 Prozent Karlsruhe" im Stadttheater inszeniert hat. Dabei stimmten 100 nach statistischen Kriterien ausgesuchte Bürgerinnen und Bürger auf der Bühne gewissermaßen mit den Füßen ab und offenbarten ihre Meinungen zu den verschiedenen Themen und Fragen jeweils dadurch, dass sie sich unter entsprechende auf der Bühne angebrachte Aufschriften stellten. So konnten sie sich bei Fragen wie "Glaubst du an Gott?", "Gehst du zur nächsten Wahl?" oder "Vertraust du der Politik?" immer, je nach Präferenz, zu den Ja- oder zu den Nein-Schildern begeben. Die Umfragen wurden so zu Standbildern.

In einem derartigen experimentellen Theater könnte man fragen: "Kennst du Georg Elser, Dietrich Bonhoeffer, Helmut James von Moltke?" Vielleicht die Hälfte der Befragten würde sich unter das Ja-Schild stellen; die andere Hälfte würde sich beim Nein-Schild platzieren, wobei die Verteilung variieren würde, je nachdem, welchen Widerstandskämpfer man ausgewählt hat und wie die jeweilige Erinnerungskultur gepflegt worden ist. Stellen wir uns vor, die Schauspielerinnen und Schauspieler würden dann – wie eingangs geschildert – die typisierte Geschichte eines Widerstandskämpfers spielen und zeigen, dass da "einer der unseren" von den Schergen des NS-Regimes hingerichtet wurde, weil er dachte, dass das Recht nicht der Gewalt zu weichen habe, dass die Gesetze der Humanität auch in der Finsternis gelten. Wie, denken Sie, würden die Bürger im experimentellen Theater mit den Füßen abstimmen zu der Frage "Soll die Erinnerung an die Widerstandskämpfer noch nach fast drei Generationen wachgehalten werden?" Wer würde sich unter das Ja-Schild stellen? Wohl kaum alle, das wäre bei einer demokratischen Abstimmung ungewöhnlich und nicht zu erwarten. Aber die große Mehrzahl, seien sie jung oder alt, seien sie an Geschichte interessiert oder nicht, würden doch wohl dafür stimmen, dass die Botschaft, aus der Menge herauszutreten und "Nein" zu sagen, wenn "Ja" zu sagen das Gewissen verbietet, auch im 21. Jahrhundert noch aktuell ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Joachim Fest, Ich nicht, Reinbek 2006, S. 268–269.

  2. Janusz Reiter, "Deutsche Widerstandskämpfer verachteten Polen", 20.7.2012, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/politik/-1.1418073 (4.6.2014).

  3. Vgl. EGMR (GK), Urteil vom 28.7.1998, Ilascu gegen Russland und Moldawien, Beschwerde Nr. 15318/89.

  4. Vgl. EGMR (GK), Urteil vom 12.5.2005, Öcalan gegen Türkei, Beschwerde Nr. 46221/99.

  5. Vgl. EGMR, Urteil vom 2.3.2010, Al-Saadoon und Mufdhi gegen Vereinigtes Königreich, Beschwerde Nr. 61498/08.

  6. Vgl. EGMR, Urteil vom 26.2.2009, Kudeshkina gegen Russland, Beschwerde Nr. 29492/05.

  7. Vgl. EGMR, Urteil vom 21.7.2011, Heinisch gegen Deutschland, Beschwerde Nr. 28274/08.

  8. Vgl. EGMR, Urteil vom 3.12.2009, Zaunegger gegen Deutschland, Beschwerde Nr. 22028/04.

  9. Vgl. EGMR (GK), Urteil vom 17.1.2012, Stanev gegen Bulgarien, Beschwerde Nr. 36760/06.

  10. Vgl. EGMR, Urteil vom 16.4.2012, Janowiec gegen Russland, Beschwerden Nr. 55508/07 und 29520/09.

Dr. iur. utr., Dr. h.c., M.A., geb. 1963; Professorin für Verfassungsrecht, Völkerrecht und Rechtsvergleichung an der Universität zu Köln; Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg/Frankreich. E-Mail Link: angelika.nussberger@echr.coe.int