Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Wachstum und Herrschaft - Essay | Wohlstand ohne Wachstum? | bpb.de

Wohlstand ohne Wachstum? Editorial Welches Wachstum und welchen Wohlstand wollen wir? - Essay Wachstum und Herrschaft - Essay Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität: aktuelle Debatten Wert des Wachstums: Kompass für eine Kontroverse Wohlstand messen Wohlstand und Umweltverbrauch entkoppeln Wir brauchen neue Indikatoren – und ein Glücks-Audit für die Politik! - Essay "Wohlstand ohne Wachstum“ braucht gleichmäßige Einkommensverteilung Nachhaltigkeit als Herausforderung für die marktwirtschaftliche Ordnung. Ein Plädoyer Wachstum für alle? Nachhaltiger Konsum Faires Wachstum und die Rolle der Unternehmen

Wachstum und Herrschaft - Essay

Ulrich Brand

/ 16 Minuten zu lesen

Die Frage, welches Wachstum und welchen Wohlstand wir wollen, wird derzeit intensiv diskutiert. Das hängt mit der aktuellen Wirtschaftskrise und einer Intensivierung der Diskussion um die ökologische Krise zusammen. Im Folgenden umreiße ich die Motive der sich entwickelnden starken Wachstumskritik. Darunter fasse ich jene Vorschläge, die aus unterschiedlichen Gründen gegen ökonomisches Wachstum plädieren. Ein umfassender Begriff der Wachstumskritik sollte nicht nur starke Positionen gegen Wirtschaftswachstum einbeziehen, sondern auch jene Ansätze, die für ein anderes Wirtschaftswachstum argumentieren. Beispielsweise findet innerhalb der Gewerkschaften und in den keynesianischen Wirtschaftswissenschaften der Begriff des "qualitativen“ Wachstums Verwendung. Der Verzicht auf Wachstum („Wachstumsskeptizismus“) wird hier mitunter als fortschrittsfeindlich kritisiert, als Idee von Postmaterialisten, die es sich leisten können, und als nicht erstrebenswerte "Askese“. Ökologisch orientierte Vorschläge für ein anderes Wachstum firmieren unter Green New Deal oder Grüne Ökonomie. Weitere Beiträge setzen sich kritisch mit der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise auseinander. Die Motive und Argumente einer grundlegenden, das heißt starken Kritik am Wirtschaftswachstum als geeignete wirtschaftspolitische Bezugsgröße sowie als Indikator für Wohlstand und Lebensqualität sind vielfältig.

Die bedeutendste Wachstumskritik ist der seit etwa 40 Jahren bestehende Diskussionsstrang der ökologischen Grenzen des Wachstums. Ausgehend von der Studie "Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome aus dem Jahre 1972 entwickelte sich eine intensive wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Debatte. Die zentrale Annahme lautet, dass es eine Knappheit von Ressourcen sowie der Möglichkeiten der Energieumwandlung gibt. Diese Diskussion wird seit den 1990er Jahren ergänzt durch die Grenzen der Aufnahmefähigkeit etwa von Wäldern und Ozeanen ("Senken“) sowie der Atmosphäre und Stratosphäre für Emissionen oder Immissionen (CO2, Chemikalien, Abfälle aller Art). Seit den 2000er Jahren wird die Zerstörung zusammenhängender Ökosysteme in der Diskussion wichtiger.

Hier setzt die ökologisch ausgerichtete Post-Wachstumsdebatte an. Viel diskutiert ist etwa das Buch "Wohlstand ohne Wachstum“ von Tim Jackson, in dem er fragt, wie in einer Welt mit weiterhin hohem Bevölkerungswachstum und begrenzten Ressourcen Wohlstand beschaffen sein soll und kann, ein "Wohlstand, der es den Menschen ermöglicht, ein gutes Leben zu führen, mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft zu schaffen, mehr Wohlbefinden zu erfahren und trotzdem die materiellen Umweltbelastungen zu reduzieren“. Dabei vertraut er weder auf wirtschaftliches Wachstum noch auf technologische Lösungen. Ein nachhaltiges Wirtschaftssystem bedürfe politischer Rahmenbedingungen (wie etwa einer ökologischen Steuerreform und Obergrenzen für den Verbrauch von Ressourcen und den Ausstoß von Emissionen), kultureller Veränderungen (wie etwa des Abbaus von Konsumismus), einer Verkürzung der Lohnarbeitszeit, des Abbaus von Ungleichheit, der Stärkung der Fähigkeiten und des Sozialkapitals der Menschen sowie der Unterstützung der südlichen Länder beim Umbau ihrer Ökonomien.

Einen zweiten Strang bildet die Glücksforschung, welche die These vertritt, dass ab einem bestimmten Punkt die Höhe des Einkommens kaum mehr mit wachsender Lebenszufriedenheit korreliert: "Wirtschaftswachstum war für lange Zeit Motor des Fortschritts, doch in den reichen Ländern ist dieser Antrieb inzwischen weitgehend erschöpft. Das ökonomische Wachstum ist nicht mehr wie einst von Maßnahmen für das Wohlergehen und Wohlbefinden der Bürger begleitet. Schlimmer noch: So haben Ängste, Depressionen und andere soziale Probleme mit wachsendem Wohlstand zugenommen.“ Mehr Gleichheit schafft bessere soziale Beziehungen, so wie umgekehrt gesundheitliche und soziale Probleme in Ländern mit großen Einkommensdifferenzen signifikant stärker sind.

Wirtschaftswachstum ab einer bestimmten Einkommenshöhe verschärft demgegenüber soziale Probleme, da in Gesellschaften mit weitgehend gesicherten Grundbedürfnissen Druck, Konkurrenz und Konsumismus zunehmen. Entsprechend benötigen die Menschen einen anderen Blick auf ihre eigenen Gesellschaften, um überhaupt ein breiteres Verständnis von Lebensqualität zu erhalten.

Ein dritter Strang nimmt Motive der ökologischen Kritik und der Glücksforschung auf und übersetzt sie in eine radikale Diagnose sowie eine attraktive Botschaft. Die Diagnose lautet, dass die Menschen in den westlichen Gesellschaften über ihre Verhältnisse leben hinsichtlich der eigenen Leistungsfähigkeit und der lokal und regional vorhandenen Ressourcen. Zudem geht das Wirtschaftssystem einher mit Investitionen, entsprechenden Krediten und zu bedienenden Zinsen. Deshalb muss die Wirtschaft wachsen. Die Botschaft ist: Die notwendige Reduktion des Ressourcenverbrauchs und der Nutzung der Senken durch weniger und andere industrielle Produktion kann mit einer stabileren Versorgung und mehr Glück im Sinne von subjektivem Wohlbefinden einhergehen. Das bedarf kultureller Veränderungen, insbesondere einer "kreativen Subsistenz“ durch Eigenproduktion, Gemeinschaftsnutzung und einer längeren Nutzungsdauer von Gebrauchsgütern. Auf der Seite der Unternehmen kann der Wachstumszwang gemildert werden, indem lokal und regional produziert wird. Kürzere und entflochtene Produktionsketten fördern Nähe und Vertrauen, was "per se eine weniger zins- und renditeträchtige Kapitalbeschaffung ermöglicht“. Hinzu kommen etwa die Reduktion und Umverteilung der Arbeitszeit und entsprechend dem veränderten Konsumverhalten langlebige Konsumgüter.

Konsens in der "starken“ wachstumskritischen Diskussion ist, dass es gesellschaftlicher Veränderungen bedarf, um vielfältige soziale und ökologische Probleme zu bearbeiten. Die Orientierung an wirtschaftlichem Wachstum ist Teil des Problems, nicht der Lösung. Wohlstand ohne Wachstum ist vorstellbar, umsetzbar und unabdingbar. Die unterschiedlichen Beiträge stellen zudem eine Kritik an der herrschenden Meinung innerhalb der Wirtschaftswissenschaften dar, da sie den nutzenmaximierenden und ausschließlich auf die Güterwelt ausgerichteten homo oeconomicus sowie die Zentralität des Wirtschaftswachstums hinterfragen.

Allerdings läuft die wachstumskritische Debatte Gefahr, zentrale Momente wirtschaftlichen, das heißt kapitalistischen Wachstums zu unterschätzen, nämlich ihren herrschaftlichen Gehalt. Wirtschaftswachstum reproduziert nämlich gesellschaftliche Verhältnisse, in denen Lebenschancen und Handlungsspielräume, Vermögen und Einkommen höchst unterschiedlich verteilt sind. Es sichert gesellschaftlichen Ein- und Ausschluss, Klassen- und Eigentumsverhältnisse, die asymmetrische Beziehung zwischen Männern und Frauen, zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten sowie internationale Ungleichheiten. Dies soll im Folgenden anhand zentraler Argumente feministischer und marxistischer Wachstumskritik ausgeführt werden. Es bedarf dazu auch einer Präzisierung, was unter kapitalistischem Wachstum verstanden wird. Mein Vorschlag lautet, dass die wachstumskritische Debatte insgesamt fruchtbarer geführt werden kann, wenn Wachstum in Verbindung mit der herrschenden kapitalistischen Produktions- und Lebensweise gesehen wird. Diese ist eben nicht nur ein System, um Güter und Dienstleistungen zu produzieren und zu konsumieren, sondern auch ein System von Macht und Herrschaft – auch und gerade über die Natur. Dieser Aspekt wird in wachstums- und kapitalismuskritischen Arbeiten kaum thematisiert. Mit einer Perspektivausweitung, so meine zweite Überlegung, öffnen sich Debatten um ein anderes Wachstum oder Post-Wachstum für die wichtige Frage, wie Gesellschaft demokratisch gestaltet werden kann.

Feministische Wachstumskritik.

Die feministische Wachstumskritik nimmt einige der oben genannten Motive auf; wenngleich feministische Einsichten immer wieder in anderen wachstumskritischen Beiträgen – und auch in der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ – übergangen werden. Wachstumskritische feministische Beiträge sehen erstens das kapitalistische System als in sich maßlos, das sich kaum um die Folgen des Wachstums kümmert. Die Gründe liegen unter anderem in der Grenzenlosigkeit des Geldes und dem profitgetriebenen Akkumulationszwang. Die kapitalistische Ökonomie ist zweitens eine Ökonomie der Trennung, in der formelle Marktprozesse von ihren Voraussetzungen – nämlich der nichtbezahlten Arbeit, insbesondere der Sorgearbeit, und den Elementen der Natur, die keine Waren sind – getrennt werden. Die alltägliche Reproduktion der Menschen, so die Kritik, basiert aber nicht nur auf dem Erwerbseinkommen, sondern auf der meist unsichtbaren und von Frauen geleisteten Haus- und Pflegearbeit. Dies wiederum hängt an asymmetrischen Geschlechterverhältnissen, an gesellschaftlichen Bewertungen von "wertvoller“ und "nicht wertvoller“ Arbeit. Insofern ist die Externalisierung von Kosten kein vom Staat durch entsprechende Regeln zu behebendes Marktversagen, wie die Wirtschaftswissenschaften annehmen, sondern ein "Prinzip“, das entscheidend zum Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft beiträgt. Drittens ist Wirtschaftswachstum eng verbunden mit einem männlichen, rationalistischen und westlichen Entwicklungsverständnis, das zuvorderst und als Bestandteil patriarchaler Dominanzverhältnisse an der Beherrschung der Natur orientiert ist.

Aus feministischer Perspektive sind andere Verständnisse von Wohlstand und dessen Produktion sowie von Genuss notwendig – und damit ein viel breiteres Verständnis von Ökonomie, das über die kapitalistische markt- und geldvermittelte Wirtschaft hinausgeht. Gemeint sind viele nicht-kapitalistische Wirtschaftsformen, die unter anderem als Gemeinschaftsökonomien bezeichnet werden. Die Perspektive weitet sich deutlich aus: Es geht um die materielle Produktion und Reproduktion des Lebens, insbesondere in der Form eines vorsorgenden Wirtschaftens und eines Arbeitsbegriffs, der nicht nur die Lohnarbeit umfasst. Wichtig ist dafür die Stärkung von Prinzipien der Kooperation und Verantwortung, der Suffizienz und Gerechtigkeit.

Marxistische Wachstumskritik.

Eine in der Tradition von Karl Marx stehende Wachstumskritik geht davon aus, dass gesellschaftliche Dynamik erstens von der Produktion des Tauschwertes und nicht von der Produktion der konkreten Gebrauchswerte bestimmt wird. Die Ware, die den Tauschwert verkörpert, hat jedoch "mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen“. Marx war in seinen Schriften durchaus sensibel dafür, dass durch die kapitalistische Akkumulationsdynamik die natürlichen "Springquellen alles Reichtums“ untergraben werden. Auch die noch nicht warenförmigen Bereiche, wie etwa öffentliche Daseinsvorsorge oder Elemente der Natur, sollen tendenziell in Waren und Tauschwert umgewandelt werden. Die kapitalistische Konkurrenz und der damit verbundene Zwang zur Akkumulation sind weitere Merkmale, warum immer mehr und billiger produziert wird und die Natur tendenziell als Gratisproduktivkraft genutzt und übernutzt wird. Das Kapital als "Fanatiker der Verwertung des Werts zwingt (…) rücksichtslos die Menschheit zur Produktion um der Produktion willen, (…) und die Konkurrenz herrscht jedem individuellen Kapitalisten die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise als äußere Zwangsgesetze auf“. Das wird vor allem im Globalisierungsprozess sichtbar, der zu einer intensiveren Konkurrenz und enormen Zunahme an Ressourcenverbrauch geführt hat.

Drittens wird von einer herrschaftlich organisierten Arbeitsteilung ausgegangen. Historisch hat sich eine Klasse von Eigentümern an Produktionsmitteln und anderen Vermögen herausgebildet, die daran interessiert ist, dass sich ihr Geld vermehrt. Die überwiegende Mehrheit der Menschen besitzt kein oder wenig Vermögen, sondern reproduziert sich durch Lohnarbeit, mit der die kapitalistischen Werte beziehungsweise Waren produziert werden. Umso mehr Menschen ihr Leben über Lohnarbeit sichern, desto eher werden die Produktion von Waren und damit kapitalistisches Wachstum ermöglicht. Das sehen wir in den vergangenen zwei Jahrzehnten in China, wo Hunderte Millionen Menschen in Lohnarbeit gezogen wurden, um Waren für die ganze Welt zu produzieren (und das in ihrer Mehrheit wohl auch wollen, wenngleich man die konkreten sozialen und ökologischen Bedingungen berücksichtigen muss). Die Klassenstruktur hat sich in vielen Ländern ausdifferenziert. Dennoch gilt: Wenn Menschen von Lohnarbeit leben, haben sie ein Interesse daran, dass sie diese Lohnarbeit nicht verlieren. Damit sichern sie auch die kapitalistischen Klassenverhältnisse. Die meisten Menschen anerkennen, weitgehend unfreiwillig und machtlos, als Lohnabhängige nicht nur die kapitalistische Wachstumsmaschinerie, sondern eben die darunter liegenden Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse.

Es werden in der Diskussion viele Treiber des Wachstums genannt: technischer Fortschritt, Produktivitätsentwicklung, Konsumismus und seine sozialpsychologischen Dimensionen, die Notwendigkeit Kredite aufzunehmen und zurückzubezahlen, Globalisierung und Urbanisierung. Das ist alles richtig. Und doch gilt es zu berücksichtigen, dass zum einen die sozialen Herrschaftsverhältnisse im Bewusstsein der solcher Herrschaft Unterworfenen nicht als solche wahrgenommen werden, sondern als stummer Zwang anonymer Verhältnisse, als kaum zu steuernde Prozesse von technischem Fortschritt und globalem Markt, von Produktivismus und Globalisierung. Mit anderen Worten: Die meisten Menschen erleben ihren Alltag als wenig handlungsfähige Individuen – allen neuen Managementmethoden und Verantwortungsübertragung sowie den Ansätzen zu politischer Partizipation zum Trotz. Das ist die Basis kapitalistischer Kultur. Zum anderen bestehen zentrale gesellschaftliche und wirtschaftliche Dynamiken unter Bedingungen kapitalistischer Konkurrenz darin, immer weitere Aspekte der Gesellschaft in marktfähige Waren zu verwandeln. Das betrifft neben der Natur auch die Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Insofern ist der kapitalistische Markt beziehungsweise die Ökonomie nicht nur die Sphäre gesellschaftlicher Innovation, Produktion, Allokation oder Konsum, sondern es konstituieren sich darüber Herrschaftsverhältnisse entlang von Klassen-, Geschlechter- und ethnisierten Linien.

Grenzen des Planeten oder Inwertsetzung der Natur?


Meine zweite Überlegung besteht darin, Grundgedanken der feministischen und marxistischen Wachstumskritik auf das Verhältnis von Gesellschaft und Natur zu übertragen.

Die ökologischen Begründungen für ein neues Wohlstandsverständnis gehen meist von einer Übernutzung beziehungsweise Zerstörung der Natur aus. Prominent steht hier der Begriff der "planetarischen Grenzen“. Die Menschheit und die einzelnen Gesellschaften sollen maximal so viel verbrauchen, dass das Ökosystem Erde sich ohne langfristigen Schaden alljährlich reproduzieren kann. Die Mittel dieser Anpassung sind eine deutlich höhere Ressourceneffizienz und technologische Innovationen, aber auch ein gesellschaftlicher Prozess der ökologischen Modernisierung, in dem über politische Rahmenbedingungen und Wertewandel ökologischen Aspekten eine hohe Aufmerksamkeit gegeben wird.

Ich schlage vor, der wachstumskritischen Debatte auch hier eine etwas erweiterte Perspektive zu geben, in der das krisenhafte Verhältnis von Gesellschaft zur Natur gefasst werden kann. Das berühmte Diktum der "Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor Adorno war: "Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird (d.h. sich aus den Abhängigkeiten von der Natur zu lösen, U.B.), gerät nur umso tiefer in den Naturzwang hinein (erhöht also die Abhängigkeit, U.B.).“ Das erleben wir heute: Der Versuch, bei der Energieversorgung Erdöl durch "saubere“ Agrartreibstoffe zu ersetzen, führt in Ländern wie Indonesien zur Umwandlung immenser kleinbäuerlich bewirtschafteter Landstriche in kapitalistisch bewirtschaftete Ölpalm-Plantagen. Der Versuch, die globale Ökonomie von der Abhängigkeit vom Öl zu befreien, schafft neue Abhängigkeiten. Kapitalistische Gesellschaften sind damit konfrontiert, dass die Antwort auf viele Herausforderungen darin gesucht wird, kapitalistische Markt- und Wachstumsmechanismen auszubauen. Im Kapitalismus wird also durchaus auf Probleme wie Umweltzerstörung reagiert. Wenn es etwas zu verdienen gibt, dann stehen Investoren nicht abseits. Auch der Staat und die Beschäftigten haben Interesse am Ausbau grüner Branchen. Daher sind eine grundlegend andere Energiebasis und höhere Effizienz von Produktion und Produkten und damit ein grüner Kapitalismus beziehungsweise eine grüne Ökonomie durchaus denkbar. Ob damit die Degradation der natürlichen Lebensgrundlagen wirkungsvoll gestoppt wird, ist nicht ausgemacht. Bislang deutet nichts darauf hin.

Mit Horkheimer und Adorno lässt sich also argumentieren: Auch eine grün gepolte Ökonomie, deren wesentlicher Antrieb Gewinn, Konkurrenzfähigkeit und westlich-technologische Rationalität sind, deklariert sich zwar als Bearbeitung der ökologischen oder gar der multiplen Krise, wird aber die Naturbeherrschung und damit -zerstörung erhöhen. Und sie wird gleichzeitig soziale Herrschaft verstärken, da auch eine grüne Ökonomie von einer Kontrolle des Kapitals über die gesellschaftlichen Naturverhältnisse ausgeht. Diesen doppelten Kern des Wirtschaftswachstums – der Herrschaft von Menschen über Menschen und der Gesellschaft über Natur – thematisiert auch die "starke“ wachstumskritische Debatte zu wenig.

Demokratische Transformationen?


Viele Debatten in Deutschland zeichnen sich bislang durch die weitgehende Ignoranz gegenüber Erfahrungen in Gesellschaften des globalen Südens aus. Insbesondere "China“ dient als Folie, wenn es um die fehlende Nachhaltigkeit nachholender Modernisierung und Industrialisierung sowie globale geopolitische und geoökonomische Konkurrenz geht. Im globalen Norden scheint derzeit Konsens zu sein, der Forderung aus dem globalen Süden stattzugeben, dass dieser wachsen können muss. Die meisten Regierungen sowie die Ober- und Mittelschichten südlicher Länder setzen in der Tat auf Wirtschaftswachstum, das mit Naturausbeutung einhergeht. Das wird von den Strategien der Rohstoffsicherung der nördlichen Regierungen und der internationalen Institutionen unterstützt. Die lokale Bevölkerung hat meist wenig oder gar nichts von der Ausbeutung von Ressourcen, sie muss jedoch oft die negativen ökologischen Konsequenzen und Verwerfungen tragen. In den Ländern des globalen Südens wäre daher zu fragen, welchen demokratischen Gehalt die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung hat. Welche gesellschaftlichen Gruppen profitieren von den dominanten Entwicklungs- und Wachstumsformen und welche nicht? Sind tote Bergarbeiterinnen und Bergarbeiter aufgrund kostensparender mangelnder Sicherheit oder vertriebene Kleinbäuerinnen und Kleinbauern lediglich zu vernachlässigende "Kollateralschäden“ von Wachstum und Entwicklung? Müssen wir das Diktum der Wirtschaftswissenschaften als Wahrheit akzeptieren, dass insbesondere zu Beginn dynamischer Entwicklung eben die soziale Ungleichheit massiv zunimmt? Oder sollten wir genauer hinsehen, ob es in den Ländern wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Debatten und politische Kräfte gibt, die sich gegen eine allzu brachiale kapitalistische Modernisierung stellen? In den Blick zu nehmen wären hier die qualitativen Veränderungen sozialer Beziehungen wie Arbeit oder Politik sowie die Formen gesellschaftlicher Bedürfnisbefriedigung.

Doch kehren wir abschließend zurück in unsere Gefilde. Petra Pinzler formulierte hinsichtlich wachstumsskeptischer Einstellungen der Bevölkerung einen wichtigen Punkt: "82 Prozent halten zumindest im Grundsatz weiteres Wirtschaftswachstum für nötig, um die politische Stabilität zu erhalten. Wie Demokratie funktionieren könnte, wenn die Wirtschaft wirklich dauerhaft schrumpfte – das also scheint für viele die wirklich unbeantwortete Frage zu sein.“ Ich habe darauf keine Antwort. Aber eine Präzisierung der Frage ginge meines Erachtens in die Richtung, dass eine kollektive Bearbeitung der sozioökonomischen und ökologischen Krise demokratisch organisiert werden sollte. Demokratische Gestaltung ist mehr als politische Partizipation zur Verbesserung von governance und politischer Legitimation sowie zur Erhöhung der Lebenszufriedenheit. Der Anspruch auf demokratische Gestaltung fragt zunächst einmal: Wer und was bestimmt eigentlich die als problematisch erachtete Entwicklungsrichtung der Gesellschaft? Wie könnte sie bewusst von allen Mitgliedern gestaltet werden? Das betrifft auch Formen der Wirtschaftsdemokratie.

Eine "wachstumsbefreite Gesellschaft“ (Wolfgang Sachs) hätte die unterschiedlichen Formen sozialer Herrschaft – klassen- und geschlechterspezifischer, rassistischer und internationaler – sowie die Herrschaft über die Natur anzugehen. Denn bislang ist die dominante Erfahrung der meisten Menschen, die Gesellschaft nicht gestalten zu können. An den Schalthebeln der politischen und ökonomischen Macht sitzen andere, welche die wesentlichen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen treffen. Und die achten darauf – dieser Aspekt ist in der aktuellen Krise zu berücksichtigen –, dass das auch so bleibt. Demokratische Prozesse hin zu Post-Wachstum beziehungsweise die demokratische Transformation der Gesellschaft umfassen attraktive und demokratisch gestaltete Formen der Produktion und Bereitstellung von Nahrungsmitteln und Kleidung, von Wohnen und Zusammenleben: Wie sehen nachhaltige Städte aus, was bedeutet solidarische Mobilität? Wie werden Nahrungsmittel nachhaltig, fair und weltweit in ausreichender Menge produziert und verteilt, die gut schmecken und gesund sind? Wie werden Konflikte ausgetragen mit den global players der transnationalen Nahrungsmittelindustrie, wenn Lebensmittel wieder lokal und regional produziert werden?

Eine wichtige Rolle spielen sozialökologische Experimente sowie "Pioniere des Wandels“ wie Erfinder, Unternehmen, Teile der Politik, Verbraucherinnen und Verbraucher, Nichtregierungsorganisationen in unterschiedlichen Bereichen wie Stadtentwicklung, Energieversorgung oder Landwirtschaft, "welche die Optionen für die Überwindung einer auf der Nutzung fossiler Ressourcen beruhenden Ökonomie testen und vorantreiben und so neue Leitbilder bzw. Visionen entwickeln helfen, an denen sich der gesellschaftliche Wandel orientieren kann. Die Pioniere agieren zunächst als Nischenakteure, können dann aber zunehmend Wirkungskraft entfalten und die Transformation entscheidend befördern.“ Damit jedoch diese Pionierarbeit nicht verpufft, sollten Fragen politischer Gestaltung mit jenen ökonomischer und politischer Macht und Herrschaft verknüpft werden. Gerade deswegen scheint es zentral, auf der Frage der Demokratie im Sinne einer bewussten Gestaltung von Wirtschaft, Technik und Entwicklung sowie der Gesellschaft im weiteren Sinn zu bestehen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Diese Diskussion geht auf die 1970er Jahre zurück. Vgl. Lutz Brangsch, Kennziffernfragen sind Machtfragen, in: Kurswechsel, (2011) 1, S. 25–38; Ulla Lötzer/Norbert Reuter, Wachstumskritik, in: Ulrich Brand et al. (Hrsg.), ABC der Alternativen, Hamburg 2012, S. 322f.

  2. Im Englischen wird der Begriff , im Französischen verwendet, die am ehesten mit "Wachstumsrücknahme“ oder "Rücknahme der Wachstumszwänge“ übersetzt werden können. Serge Latouche verwendet auch den Begriff des Nicht-Wachstums (. Vgl. Serge Latouche, Minuswachstum, in: Le Monde Diplomatique vom 12.11.2004

  3. Vgl. Norbert Reuter, Von der Wohlstands- zur reinen Wachstumsenquete?, in: Gegenblende, 15 (2012); Matthias Schmelzer/Alexis Passadakis, Postwachstum, Hamburg 2011.

  4. Vgl. Ralf Krämer/Herbert Schui, Wachstum!?, in: Sozialismus, Supplement, (2010) 7/8; Friedrich Hinterberger et al. (Hrsg.), Welches Wachstum ist nachhaltig?, Wien 2009.

  5. Vgl. Matthias Machnig, Grünes Wachstum ist drin, in: Die Zeit vom 4.11.2010.

  6. Vgl. UNEP, Towards a Green Economy, Nairobi 2011; Ralf Fücks, Das Wachstum der Grenzen, in: böll-Thema, (2011) 2, S. 4ff.; kritisch: Elmar Altvater, Mit Green New Deal aus dem Wachstumsdilemma?, in: Widerspruch 60, Juni 2011, S. 121.

  7. Vgl. Hans Christoph Binswanger, Vorwärts zur Mäßigung, Hamburg 2009; New Economics Foundation (NEF), The Great Transition, London 2010.

  8. Vgl. Johannes Pennekamp, Wohlstand ohne Wachstum, MPIfG Working Paper, Nr. 1, 2011.

  9. Vgl. Johan Rockström et al., Planetary Boundaries, in: Ecology and Society, 14 (2009) 2, S. 1–33.

  10. Vgl. Tim Jackson, Wohlstand ohne Wachstum, München 2011.

  11. Ebd., S. 54.

  12. Vgl. ebd., S. 175ff.; Joan Martínez Alier, Socially Sustainable Economic De-Growth, in: Development and Change, 40 (2009) 6, S. 1099-1119.

  13. Richard Wilkinson/Kate Pickett, Gleichheit ist Glück, Berlin 2010, S. 20.

  14. Vgl. ebd., S. 35, S. 61.

  15. Vgl. auch: Bruno S. Frey/Claudia Frey Marti, Glück, Zürich–Chur 2010; Richard Layard, Die glückliche Gesellschaft, Frankfurt/M. 2009.

  16. Vgl. Niko Paech, Befreiung vom Überfluss, München 2012.

  17. Vgl. auch: Hans Christoph Binswanger, Vorwärts zur Mäßigung, Hamburg 2009.

  18. Vgl. N. Paech (Anm. 16), S. 120ff.

  19. Ebd., S. 108.

  20. Vgl. Serge Latouche, Die Unvernunft der ökonomischen Vernunft, Zürich–Berlin 2004; Adelheid Biesecker/Sabine Hofmeister, Die Neuerfindung des Ökonomischen, München 2006; Tomáš Sedláček, Die Ökonomie von Gut und Böse, München 2012.

  21. So fragt Jackson, was unter Kapitalismus verstanden werden sollte, und stellt lapidar fest: "Das ist gar nicht so einfach.“ Vgl. T. Jackson (Anm. 10), S. 200.

  22. Vgl. Ulrich Brand/Markus Wissen, Sozial-ökologische Krise und imperiale Lebensweise, in: Alex Demirović et al. (Hrsg.), VielfachKrise im finanzdominierten Kapitalismus, Hamburg 2011, S. 78–93.

  23. Vgl. Friederike Habermann, Ecommony statt Economy, in: informationen für die frau, 60 (2011) 10, S. 17–19.

  24. Vgl. Adelheid Biesecker/Uta von Winterfeld, Geld, Wachstum und gutes Leben, in: Netzwerk Vorsorgendes Wirtschaften (Hrsg.), Wege Vorsorgenden Wirtschaftens, Marburg (i.E.).

  25. Vgl. Adelheid Biesecker/Andrea Baier, Gutes Leben braucht andere Arbeit, in: Politische Ökologie, 29 (2011) 125, S. 54–63.

  26. Vgl. Julie Graham/Katherine Gibson (J.K. Gibson-Graham), The End Of Capitalism (As We Knew It), Minneapolis–London 2006.

  27. Vgl. A. Biesecker/U. v. Winterfeld (Anm. 24).

  28. Vgl. F. Habermann (Anm. 23); Uta von Winterfeld, Vom Recht auf Suffizienz, in: Werner Rätz et al. (Hrsg.), Ausgewachsen!, Hamburg 2011, S. 57–65.

  29. Karl Marx, Das Kapital. Erster Band, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 23, Berlin 1968, S. 86.

  30. Ebd., S. 530.

  31. Ebd., S. 618. Vgl. auch: Elmar Altvater, Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen, Münster 2005.

  32. Vgl. Karl Marx, Die deutsche Ideologie, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 3, Berlin 1969, S. 34.

  33. J. Rockström et al. (Anm. 9).

  34. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1944/2006, S. 19.

  35. Vgl. auch: Christoph Görg, Regulation der Naturverhältnisse, Münster 2003; Ulrich Brand, Post-Neoliberalismus, Hamburg 2011.

  36. Vgl. Christa Wichterich, Kapitalismus mit Wärmedämmung, in: informationen für die frau, 60 (2011) 10, S. 5–7; Ulrich Brand, After Sustainable Development, in: GAIA – Ecological Perspectives for Science and Society, 21 (2012) 1, S. 28–32.

  37. In China hat sich eine intensive Diskussion um Knappheit und ökologische Folgen des Modells nachholender kapitalistischer Industrialisierung entwickelt. Zudem berechnet die Regierung ein "grünes Bruttoinlandsprodukt“, für das die Umweltschäden abgezogen werden. Es wird jedoch aufgrund der Kritik aus manchen Provinzen nicht veröffentlicht. Für diese Diskussion wird der Begriff der Wachstumskritik (noch) nicht verwendet. Diese Hinweise verdanke ich Josef Baum und Daniel Fuchs.

  38. Die Zeit vom 18.8.2010, online: Externer Link: http://www.zeit.de/2010/34/Emnid-Umfrage (28.5.2012).

  39. Vgl. Alex Demirović, Demokratie in der Wirtschaft, Münster 2007; Joachim Beerhorst, Demokratisierung der Wirtschaft, in: Alex Demirović et al. (Hrsg.), Kritische Theorie im gesellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt/M. 2004, S. 354-383.

  40. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, Welt im Wandel, Berlin 2011, S. 6f.

Dr. habil., Dipl.-Pol., Dipl.-Betriebswirt (BA), geb. 1967; Professor für Internationale Politik, Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien, Universitätsstraße 7, 1010 Wien/Österreich. E-Mail Link: ulrich.brand@univie.ac.at