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Anatomie eines Niedergangs? Griechenland und die Europäische Union

Andreas Stergiou

/ 15 Minuten zu lesen

Nimmt man in Griechenland das seit Beginn der gegenwärtigen Krise vorherrschende politische Vokabular unter die Lupe, stellt man rasch fest, dass zwei Begriffe häufig benutzt werden: "Okkupatoren" und "internationale Zinswucherer". Damit sind die Staaten der Eurozone und der Internationale Währungsfonds (IWF) gemeint, welche die schlimmste Misere der Nachkriegszeit verursacht haben sollen. Das in Griechenland gängige Erklärungsmuster besagt, dass sich die Gläubiger das Ziel gesetzt haben, das Land mithilfe der sogenannten Troika (EU-Kommission, Europäische Zentralbank und IWF) seines staatlichen Eigentums und seiner vermeintlich ungeheuren Bodenschätze zu berauben.

Beliebt ist auch die These, die von vielen Ökonomen und Politikern in Europa mitgetragen wird, dass die Handelsbilanzüberschüsse Deutschlands eine der Ursachen der Schuldenkrise Europas seien. Die massiven Exporte der Deutschen hätten zu den Außenhandelsdefiziten der europäischen Staaten und indirekt auch zu ihrer Staatsverschuldung geführt. Durch im Vergleich zu anderen EU-Staaten unfair niedrige Löhne hätten die Deutschen ihre Nachbarn unter Druck gesetzt und ihnen die Chance genommen, selbst in die Bundesrepublik Deutschland zu exportieren, da die Niedriglöhne die Binnennachfrage in Deutschland reduzierten. Die Architektur der Eurozone und der EU seien lediglich auf die Bedürfnisse und die Zielsetzungen Deutschlands sowie anderer exportstarker EU-Staaten zugeschnitten.

Nicht zuletzt seien die Europäer am Elend Griechenlands schuld, weil sie aufgrund des Dublin-II-Abkommens, Griechenland ganz allein und ausschließlich die Aufgabe aufbürdeten, das Problem der illegalen Einwanderung in die EU anzugehen.

Die Zunahme der europakritischen Tendenzen in Griechenland mag auf den ersten Blick ein Produkt der Krise selbst und der von der Troika nicht durchdachten oktroyierten Sparmaßnahmen sein, welche die nun bereits fünf Jahre andauernde Rezession vertieften und hauptsächlich die sozial Schwächeren trafen. Tatsächlich ist der gegenwärtige Antieuropäismus Höhepunkt einer Entwicklung, deren Anfänge in die frühen 1980er Jahre zurückreichen.

Unvollendete Europäisierung

Griechenlands Antrag auf volle Mitgliedschaft in die damalige Europäische Gemeinschaft (EG) im Jahr 1975 stieß anfänglich auf Ablehnung. Die EG-Kommission riet im Januar 1976 von einer schnellen Aufnahme ab: Griechenlands Wirtschaft sei landwirtschaftlich geprägt, nicht konkurrenzfähig und leide an Inflation, Arbeitslosigkeit und einem Handelsdefizit. Doch nach langwierigen Verhandlungen wurde Griechenland am 1. Januar 1981 primär aus politischen Gründen – so sollte dadurch die damals noch junge und wacklige griechische Demokratie stabilisiert werden – das zehnte EG-Mitglied. Wie die anderen südosteuropäischen Staaten musste auch Griechenland in den 1980er Jahren eine dreifache Transformation bewerkstelligen: politisch eine Demokratisierung, ökonomisch die Einführung der Marktwirtschaft und gesellschaftlich die Hinwendung zum Pluralismus und adäquater sozialer Sicherung. Jedoch war die Transformation der griechischen Gesellschaft nur begrenzt erfolgreich.

Unmittelbar nach dem EG-Beitritt Griechenlands im Oktober 1981 kamen die Sozialisten unter Andreas Papandreou an die Macht. Mit dem Slogan "Griechenland den Griechen" und "EG und NATO das gleiche Syndikat" hatten sich die Sozialisten in den Jahren zuvor all jenen Wählerinnen und Wählern geöffnet, die sich "von ausländischen Mächten" gegängelt fühlten und sich vom sozialen und politischen Geschehen ausgeschlossen sahen. Forderungen nach dem sofortigen Austritt Griechenlands aus der NATO und aus der EG hatten Papandreou geholfen, sich den Wertvorstellungen und der traditionellen Verschlossenheit des Kleinbürgertums anzunähern und den bürgerlichen Parteien gleichzeitig nicht-kommunistische Wählerklientel abspenstig zu machen. Doch diese und viele andere Wahlversprechen, durch die der Sozialismus in Griechenland verwirklicht werden sollte, löste er nie ein.

Nicht die Politik Griechenlands, sondern die ursprünglichen Vorstellungen Papandreous veränderten sich: Er erkannte schnell, dass die Überweisungen von der EG ihm dazu verhelfen konnten, seinen Klientelapparat aufzubauen. Die PASOK (Panhellenische Sozialistische Bewegung) wurde zu einer Klientelpartei wie schon zuvor die Nea Dimokratia (Neue Demokratie). Ferner ermöglichte die Mitgliedschaft Griechenlands in der EG die Aufnahme von billigen Krediten, mit denen er seine sozialen Wohltaten wie die Anhebung von Löhnen und die Verteilung diverser Subventionen und Zuschüsse finanzieren konnte. Bei seinem Amtsantritt 1981 betrug Griechenlands Staatsverschuldung knapp 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts; nach seiner Amtszeit 1990 hatte sie 80 Prozent erreicht.

Papandreous Politik hatte schwerwiegende Folgen. Nach der PASOK-Rhetorik war die europäische Integration kein den historischen Gesetzmäßigkeiten entsprungenes Postulat. Man war Europäer, solange dies mit den wirtschaftlichen Interessen Griechenlands zu vereinen war. Das Denkmuster bestand darin, dass die Europäische Union eine Einnahmequelle für den nationalen Haushalt sei und primär der Finanzierung von Klientelbedürfnissen der jeweiligen Regierungsparteien diente. Die griechische EG-Politik zielte also einzig und allein darauf, die Position Griechenlands in den europäischen Institutionen zu stärken, um die eigenen Interessen durchzusetzen.

Die zweite schwerwiegende Folge des EG-Beitritts war das wirtschaftspolitische Muster, dem auch die Nachfolgeregierungen folgten. Die sogenannte reale Ökonomie wurde durch den Ausbau der Staatsfirmen und die Ankurbelung des privaten Konsums auf Touren gebracht. Die Reallöhne wurden ungeachtet der Produktivität erhöht und zum größten Teil durch neue Schulden finanziert. Dabei wurden nach der bewährten klientelpolitischen Logik der öffentliche Dienst mit neuen Beamten und die Staatsfirmen mit neuen Angestellten und Arbeitern aufgebläht.

Der EG-Beitritt hatte wirtschaftliche Konsequenzen, die mit der institutionellen und wirtschaftlichen Struktur der EG an sich zusammenhingen. Griechenland erlebte nach dem Beitritt zur Zollunion und dem damit bedingten Abbau von Zöllen eine enorme Importwelle aus den exportstärkeren Ländern der EG. Allein im ersten Jahr (1981) stieg das Handelsbilanzdefizit um 86,6 Prozent und blieb seitdem defizitär. Die niedrigen Lohnkosten in Griechenland zogen dabei – anders als in Spanien und Portugal, die 1986 der EG beitraten – keineswegs die erhofften ausländischen Investitionen ins Land. Schuld waren die übergroße Bürokratie und die Korruption.

Auch die von der EG und später den EU-Regional-, Struktur- und Agrarfonds zugewiesenen Finanztransfers trugen wenig zum wirtschaftlichen Aufschwung des Landes bei, sodass sich die bestehende Wettbewerbslücke zu den exportorientierten europäischen Ländern nicht schloss. Schuld daran waren primär planerische Inkompetenz und Veruntreuung der Gelder. Griechenlands Wirtschaft verlor ihre (ohnehin geringe) Konkurrenzfähigkeit.

In den 1990er Jahren und unter dem Druck des Eintritts in die Eurozone wurde der Versuch unternommen, Griechenlands Integration in die politischen und wirtschaftlichen Institutionen der EU zu verbessern. Dadurch wollte es sich auch einen ökonomischen und militärischen Vorteil in der griechisch-türkischen Konfrontation verschaffen. Sowohl die konservativen als auch die darauffolgenden sozialistischen Regierungen begannen damit, Staatsausgaben zu streichen und zaghaft Reformen einzuleiten, um die öffentlichen Finanzen zu konsolidieren. Das Staatsdefizit schmolz langsam, und die Inflation wurde resolut bekämpft – obwohl sich der griechische Staat (wie auch andere EU-Länder) dabei manchmal fragwürdiger Methoden bediente; dazu gehörte unter anderem das Beschönigen von Haushaltsstatistiken.

Auch politisch konnte sich Griechenland langsam vom Image des "Querulanten" in der EU befreien und in seinen Beziehungen zu den europäischen Partnern einen Kurs steuern, der sich nicht primär um die nationalen Probleme Griechenlands drehte, sondern auch die Förderung Europas als eine politische Union verfolgte. Besonders die Entwicklung einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik wurde von Athen unterstützt.

Doch an den strukturellen Wirtschaftsproblemen des Landes – wie der weitverbreiteten Korruption und Vetternwirtschaft, der ineffizienten und gigantischen öffentlichen Verwaltung, der vorteilhaften Steuerbehandlung von ganzen gesellschaftlichen Gruppen und Berufszünften, der Steuerfreiheit der Reichen und der weitverbreiteten Steuerhinterziehung – änderte sich wenig.

Griechenlands Beitritt zur Eurozone am 1. Januar 2001 ermöglichte den griechischen Regierungen zum ersten Mal, auf dem internationalen Kapitalmarkt Kredite zu günstigen Zinsen aufzunehmen. Für Anleihen, die sich Griechenland bis dahin selbstständig hatte verschaffen können, waren ungefähr zehn Prozent Zinsen verlangt worden. Unter dem Schirm der Eurozone und mit Garantien der Europäischen Zentralbank konnte der griechische Staat zum ersten Mal langfristige, zinsgünstige Anleihen aufnehmen und die Tilgung der Schulden hinausschieben.

Damit begann die griechische Tragödie, denn die Regierungen, die im darauffolgenden Jahrzehnt an der Macht waren, setzten dieses Geld nicht investiv ein, etwa um die Produktionsstrukturen zu modernisieren (wodurch sich ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum hätte ergeben können), sondern konsumtiv, um den Staatsapparat zu vergrößern und neue Beamte einzustellen oder für Projekte wie die Olympischen Spiele und den Kauf von Waffen und Rüstungsgütern. Weil jedoch die Staatseinnahmen nicht ausreichten, um die alten Schulden zu bedienen, mussten immer neue Anleihen aufgenommen werden. Da die griechische Wirtschaft in der Vergangenheit nicht auf den gemeinsamen europäischen Markt vorbereitet und damit nicht konkurrenzfähig war, strapazierte dies die Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Wirtschaft zusätzlich.

Dies ist allerdings bis zu einem gewissen Grad auch auf die Architektur der Eurozone zurückzuführen: Die Leistungsfähigkeit der griechischen Wirtschaft – genauso wie die der portugiesischen und der spanischen – kann der Standortkonkurrenz innerhalb der Währungsunion und der durch die Verträge von Maastricht (1992) und Lissabon (2007) vorangetriebenen ökonomischen Deregulierung nicht standhalten, solange die Eurozone keine einheitliche Wirtschaftsunion ist. Die griechischen Regierungen waren daher Täter und Opfer zugleich.

Der Beginn der globalen Wirtschaftskrise 2008 fiel mit dem Ende der Laufzeit der meisten dieser Staatsanleihen zusammen, wodurch Griechenland 2010 zahlungsunfähig wurde. Der Schuldenberg wuchs, ohne dass sich jemand in Europa daran störte, obwohl der marode Zustand der griechischen Staatsfinanzen vielen bekannt war. Vom privaten und staatlichen Konsum Griechenlands profitierten hauptsächlich exportorientierte EU-Staaten wie Deutschland, Frankreich oder die Niederlande. Besonders das Rüstungsgeschäft sorgte für lukrative Gewinne, da Griechenland trotz der verhältnismäßig geringen Bevölkerung von elf Millionen Menschen zu den fünf größten Rüstungsimporteuren der Welt zählte. Selbst im Jahr 2010 – als Griechenland bereits von den internationalen Kapitalmärkten abgeschnitten war und Krisengespräche über Stützungsmaßnahmen für seinen Staatshaushalt führte – gab das Land in Frankreich „schlappe zwei Milliarden Euro für Rüstungsgut“ aus; auch Außenminister Guido Westerwelle erinnerte „die griechische Regierung an die Bestellung der Eurofighter, nur Wochen vor dem griechischen Offenbarungseid“ im Frühjahr 2010.

Seit dem Beginn der Eurokrise wird immer häufiger darüber spekuliert, dass Griechenland die Eurozone verlassen könnte. So könnte das Land wieder eigenes Geld drucken, seine Währung abwerten und dadurch indirekt seine Wettbewerbsfähigkeit steigern. Das Szenario übersieht jedoch die fehlenden Grundlagen einer schnellen Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Die war nämlich auch zu Zeiten der Drachme nicht gegeben. Durch die Abwertung der neuen Währung könnte sich Griechenland kaum Importe leisten – dies allein würde reichen, um seine wirtschaftlichen Kapazitäten zu vernichten. Die Inflation würde in die Höhe getrieben und große Teile der Bevölkerung würden in die Armut stürzen. Daraus ergäbe sich eine politisch brisante Mischung, welche die demokratische Ordnung – und in der Konsequenz auch die EU-Mitgliedschaft des Landes – gefährden würde.

Die griechische Haushaltskrise beeinflusst auch die Möglichkeiten des Landes, seinen Aufgaben innerhalb des EU-Grenzregimes und bei der Eindämmung der illegalen Einwanderung in die EU nachzukommen. Haushalts- und Staatskrise untergruben die Kontrollmechanismen der Behörden gerade zu einem Zeitpunkt, zu dem die Unruhen in der arabischen Welt Griechenland zum Brennpunkt der Migration machten. Laut EU-Kommission gelangten 2011 drei Viertel der undokumentierten Einwanderer über die östliche Mittelmeerroute, das heißt über die Türkei nach Griechenland und von dort weiter in andere EU-Staaten. Vor allem in westeuropäischen Staaten wird kritisiert, dass Griechenland seinen Pflichten nicht nachkomme: "Flüchtlinge, Arbeitssuchende ohne Visum oder Schlepper könnten deshalb ungehindert nach Deutschland reisen." Auch innerhalb des Landes nehmen Ressentiments und Restriktionen gegenüber Einwanderern zu.

Griechenlands Rolle im EU-Grenzregime

Griechenland war in seiner neueren Geschichte stets ein Auswanderungsland. Aus diesem Grund hatte die griechische Gesellschaft eine durchaus positive Einstellung zu den sehr wenigen Einwanderern, die sporadisch in Griechenland sesshaft wurden. Der Zusammenbruch der kommunistischen Regimes und die damit zusammenhängenden politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Osteuropa nach Ende des Kalten Krieges führten zu einem bedeutenden Anstieg des Migrationspotenzials in dieser Region. Das wirkte sich auch auf Griechenland aus. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass viele ethnische Griechen in dieser Region lebten, setzte zu Beginn der 1990er Jahre eine galoppierende Zuwanderung von ethnischen Griechen, aber auch von Menschen aus Albanien, Bulgarien, Rumänien, der Ukraine und Georgien ein. Griechenland wurde damit de facto zu einem Einwanderungsland.

Die mangelnde Vorbereitung des griechischen Staates, aber auch die der EU auf das Einwanderungsgeschehen veränderten die Haltungen innerhalb der griechischen Gesellschaft gegenüber Einwanderern. Da aber der Dienstleistungs-, Bau- und Agrarsektor reichlich Beschäftigungsmöglichkeiten, vornehmlich im informellen Sektor, boten, wurden die Emigranten trotz mancher negativer Reaktion zumindest strukturell allmählich in die griechische Gesellschaft integriert.

Von 1996 bis 2005 glich der griechische Staat seine Flüchtlings- und Asylpolitik den Standards der EU und anderer Mitgliedstaaten an. Die Einwanderungs- und Ausländerpolitik Griechenlands basierte bis Ende der 1980er Jahre im Wesentlichen auf dem Gesetz 4310 aus dem Jahr 1929. 2001 und 2005 wurden Versuche unternommen, unter gewissen Bedingungen den Migrantinnen und Migranten, die sich illegal in Griechenland aufhielten, einen legalen, regulären Aufenthaltsstatus zu gewähren. Den neuen Bestimmungen zufolge wurde das Aufenthaltsrecht mit der Arbeitsgenehmigung verbunden. Das Gesetz sah unter anderem ein erleichtertes Verfahren zur Anwerbung temporärer Arbeitskräfte vor. Arbeitsgenehmigungen wurden zunächst für die Dauer von einem Jahr erteilt und konnten jährlich verlängert werden. Zum ersten Mal wurde das Aufenthaltsrecht mit einer Arbeitserlaubnis verbunden. Die Zeit für die Familienzusammenführung wurde von 15 Jahren auf zwei reduziert; das heißt Ausländer konnten bereits nach einem zweijährigen legalen Aufenthalt die Einwanderung ihrer Familienangehörigen beantragen.

2010 wurde auch das Abstammungsprinzip (ius sanguinis) für den Erwerb der Staatsangehörigkeit und die Einbürgerung modifiziert. Mit dem neuen Staatsangehörigkeitsgesetz wurde im Wesentlichen das Territorialprinzip (ius soli) eingeführt: So können in Griechenland geborene Kinder automatisch die griechische Staatsangehörigkeit erhalten, wenn ihre Eltern legal und fünf Jahre lang ständig in Griechenland gelebt haben. Auch Menschen, die woanders geboren sind, können nach einem bestimmten Daueraufenthalt einen griechischen Pass erwerben.

Von herausragender Bedeutung für die griechische Migrationspolitik waren die Ratifizierung der Genfer Flüchtlingskonvention, des Schengener Abkommens, des Dublin-Abkommens von 1990 sowie des Dublin-II-Abkommens von 2003. Letzteres besagt, dass jedem Flüchtling der Grenzübertritt in die EU-Zone ermöglicht werden muss. Ein wie früher zwischen Griechenland und der Türkei befindlicher Landminengürtel zur Abwehr von undokumentierter Einwanderung ist verboten.

Zur politischen und strukturellen Herausforderung für Griechenland wurde vor allem Artikel 10 des Abkommens: "(1) Wird auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien (…) festgestellt, dass ein Asylbewerber aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig. Die Zuständigkeit endet zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts. (2) Ist ein Mitgliedstaat nicht oder gemäß Absatz 1 nicht länger zuständig und wird auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien (…) festgestellt, dass der Asylbewerber – der illegal in die Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten eingereist ist oder bei dem die Umstände der Einreise nicht festgestellt werden können – sich zum Zeitpunkt der Antragstellung zuvor während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens fünf Monaten in einem Mitgliedstaat aufgehalten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig. Hat der Asylbewerber sich für Zeiträume von mindestens fünf Monaten in verschiedenen Mitgliedstaaten aufgehalten, so ist der Mitgliedstaat, wo dies zuletzt der Fall war, für die Prüfung des Asylantrags zuständig.“ Das bedeutet, dass die Flüchtlinge automatisch in diejenigen Länder zurückgeschickt werden, über deren Grenzen der Übertritt in die EU erfolgte. Entsprechend sind sie für die Flüchtlinge auch verantwortlich.

Diese Bestimmung erwies sich für Griechenland als besonders problematisch. Denn als Folge des Afghanistan- und des Irak-Krieges, der andauernden politischen und ökonomischen Instabilität in Afrika und der Umbrüche und Aufstände in den arabischen Staaten nahm der Migrationsdruck auf die griechischen Grenzen in den vergangenen Jahren massiv zu. Insbesondere die Landgrenze zur Türkei entwickelte sich zum „Einfallstor nach Europa“, über die viele ihren Weg in die EU suchten und nach wie vor suchen. Schätzungen zufolge sollen drei von vier undokumentierten Einwanderern in der EU über diese östliche Mittelmeerroute gekommen sein. Die meisten haben die griechisch-türkische Grenze überquert oder sind über das Ägäische Meer nach Griechenland gekommen. Von dort aus versuchen die Ankömmlinge, in andere EU-Länder weiterzureisen. Tausende sind beim Versuch, die EU über das Meer zu erreichen, ums Leben gekommen. Jedes Jahr erreichen etwa 150.000 bis 200.000 undokumentierte Einwanderer über Land und See Griechenland. Ihre ersten Ankunftsziele sind die griechischen Inseln Samos, Lesbos und Agathonisi, die direkt vor der türkischen Küste liegen. Menschenschmuggler verlangen von jedem Einwanderer etwa 2.000 bis 5.000 Euro, um sie mit einem Motorboot nach Griechenland zu bringen.

Aus diesem Grund bat der griechische Staat im Oktober 2010 die EU-Kommission darum, die sogenannten Soforteinsatzteams der EU-Grenzschutzagentur Frontex (Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen) nach Griechenland zu schicken, damit sie die Landgrenze zur Türkei kontrollieren. Es war das erste Mal, dass ein Mitgliedstaat die Entsendung von Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke anforderte.

Im Januar 2011 teilten die griechischen Behörden mit, dass man beabsichtige, entlang der 206 Kilometer langen Landgrenze zur Türkei einen Grenzzaun zu errichten, um dem Flüchtlings-Zustrom einen Riegel vorzuschieben. "Vorbild" ist der Zaun zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Mexiko.

Der Plan wurde zwar von vielen Menschenrechtlern und der linken Opposition kritisiert. Doch waren auch sie der Meinung, dass die unkontrollierte Einwanderung bereits explosive wirtschaftliche, soziale und humanitäre Probleme in der griechischen Gesellschaft verursacht hatte. Denn bis dato hatten die Behörden die Emigranten angesichts fehlender Unterbringungsmöglichkeiten – die Auffanglager sind restlos überfüllt – wieder auf freien Fuß setzen müssen, mit der offiziellen Aufforderung, das Land binnen einem Monat zu verlassen.

Dazu sind aber die illegal eingereisten Migrantinnen und Migranten, die in der Regel ihr Hab und Gut verkaufen, um sich das nötige "Reisegeld" zu verschaffen, nicht in der Lage. Sie tauchen meistens in der Anonymität der großen Städte, hauptsächlich in Athen, unter, wo sie notgedrungen auf den Straßen betteln oder sich kriminellen Banden anschließen, um zu überleben. Lediglich der Zugang zur Gesundheitsversorgung steht ihnen offen. In den betroffenen Stadtteilen entstehen Fremdenangst und Rassismus.

Mittlerweile ist fast jeder zehnte in Griechenland lebende Mensch ein nicht-europäischer Ausländer – die Tendenz steigt. Der Aufstieg der neofaschistischen Partei "Goldene Morgendämmerung" und diverse rassistische Zwischenfälle haben deutlich gemacht, dass das Thema Immigration, das teilweise in den vergangenen Jahren auch durch die Medien angeheizt wurde, im überwiegenden Teil der Bevölkerung zunehmend für Unmut und für Ressentiments sorgt. Die griechischen Behörden haben aus diesem Grund einerseits die Türkei dazu aufgerufen, Maßnahmen zu ergreifen, um die Einwanderung von ihrem Territorium aus einzudämmen. Andererseits haben sie die EU-Länder dazu aufgefordert, eine gesamteuropäische Migrations- und Asylpolitik (beziehungsweise eine "Verteilung" der Asylsuchenden auf alle Staaten) und einen gemeinsamen Schutz der EU-Außengrenzen einzuleiten.

Zusammenhänge beachten und europäische Solidarität wiederbeleben

Viele EU-Länder werfen Griechenland einen unzureichenden Schutz der EU-Außengrenzen gegen illegale Einwanderung vor. Medienberichten zufolge planen der Europäische Rat und die Mitgliedstaaten bereits für den Fall, dass Griechenland infolge der Eurokrise in einen Ausnahmezustand geraten sollte, wieder Grenzkontrollen zu Griechenland einzuführen. Außerdem besteht seit Juni 2012 eine Vereinbarung auf Ministerebene über eine Neufassung des Schengen-Abkommens, die einen solchen Notfallmechanismus vorsieht. Dies wiederum wäre der erste Schritt hin zum Ausschluss Griechenlands aus der EU.

Wie sehr zurzeit die Folgen der unkontrollierten Migration, die Wirtschaftskrise und der Antieuropäismus in Griechenland zusammenhängen, lässt sich nicht zuletzt am spektakulären Aufstieg vor allem rechtspopulistischer Parteien bei den Parlamentswahlen 2012 ablesen: Sie machen in erster Linie "die Europäer" und die EU für die griechische Misere verantwortlich. Doch die meisten Griechinnen und Griechen sind sich bewusst, dass die Krise in erster Linie innenpolitische und strukturelle Gründe hat. Dennoch sind sie verärgert über die populistische und pauschale Kritik in den europäischen Medien – und darüber, dass "die Europäer" ihnen Sparmaßnahmen auferlegen, welche diejenigen treffen, die am wenigsten für die Krise verantwortlich sind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. So auch der britische Premierminister David Cameron in seiner Rede in Davos im Januar 2012.

  2. Die Tatsache, dass der Leiter der EU-Task-Force für Griechenland ein Deutscher ist, wird oftmals als "Beweis" dieser These angeführt.

  3. Vgl. Vyron Theodoropoulos, Verhandlungen auf der Zielgeraden, in: Foteini Tomai (Hrsg.), Griechenlands Beitrag zum Prozess der Europäischen Integration, Athen 2006 (griechisch), S. 43f.

  4. Vgl. Heinz-Jürgen Axt, Vom Populismus zur Europäisierung, in:Südosteuropa Mitteilungen, (2008) 2, S. 40.

  5. Vgl. hierzu den Beitrag von Heinz A. Richter in dieser Ausgabe. (Anm. d. Red.)

  6. Vgl. George Pagoulatos, Economic Adjustment and Financial Reform, in: South European Society & Politics, 5 (2000) 2, S. 193–202.

  7. Vgl. Christos Paraskevopoulos/Panagiotis Getimis/Leeda Demetropoulou, Griechenland als Gegenstand europäischer Kohäsionspolitik im Rahmen der EU-Strukturfonds, in: Björn Egner/Georgios Terizakis (Hrsg.), Das politische System Griechenlands, Baden-Baden 2009, S. 229–246.

  8. Vgl. Stafanos Stathatos, Die Entwicklung der Europäischen Union und die Position Griechenlands, Athen 2006 (griechisch).

  9. Vgl. Der Tagesspiegel vom 5.10.2004.

  10. Vgl. Panagiotis Ioakeimidis, Griechenlands Präsenz im Internationalen Europäischen und Regionalen System, Athen 2007 (griechisch), S. 159–168.

  11. Vgl. Giorgos Argeitis/Giannis Dafermos/Maria Nikolaidi, Staatsverschuldungskrise in Griechenland: Gründe und Perspektiven, Athen 2011 (griechisch), S. 32.

  12. Vgl. Panagiotis Liargovas, Die Europäische Wirtschaftsunion und Griechenland, in: Giannis Valinakis (Hrsg.), Griechische Außenpolitik und Europäische Politik, Athen 2010 (griechisch), S. 283–296.

  13. Eberhard Rondholz, Die Rüstungsgeschäfte mit Griechenland gehen weiter, in: Neue Rheinische Zeitung vom 24.2.2010.

  14. Zeit Online vom 7.1.2012: Externer Link: www.zeit.de/2012/02/Ruestung-Griechenland/seite-2 (29.6.2012).

  15. Vgl. hierzu den Beitrag von Karl Brenke in dieser Ausgabe. (Anm. d. Red.)

  16. Vgl. Pressemitteilung der EU-Kommission "Erster Schengen-'Check-up' durch die Kommission" vom 16.5.2012.

  17. Handelsblatt vom 16.5.2012.

  18. Vgl. Panos Kazakos, Zwischen Staat und Markt, Athen 20066 (griechisch), S. 528–532.

  19. Vgl. Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, Amtsblatt Nr. L 050 vom 25/02/2003 S. 0001–0010.

  20. Vgl. European Agency for the Management of Operational Cooperation at the External Borders of the Member States of the European Union (FRONTEX), Annual Risk Analysis 2012, S. 4f.

  21. Im Rahmen von Frontex wurden 2007 die sogenannten Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke geschaffen, um die Mitgliedstaaten im Süden und Osten bei der Grenzsicherung zu unterstützen. Bis dato waren sie jedoch nie zum Einsatz gekommen.

  22. Vgl. United Nations High Commissioner for Refugees/Office in Greece, Contribution to the dialogue on migration and asylum, Mai 2012.

  23. Vgl. Ina Hommers, Die Migrationspolitik der EU, Bonn 2009, S. 13.

  24. Vgl. Der Standard vom 29.5.2012.

Dr. phil., geb. 1974; Dozent an der Fakultät für Politikwissenschaft der Universität Kreta, Gallos University Campus, 74100 Rethymnon, Kreta/Griechenland. E-Mail Link: snandreas@hotmail.com