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Eine Verteidigung der Demokratie – gegen den maßlosen Bürger - Essay | Parlamentarismus | bpb.de

Parlamentarismus Editorial Verteidigung der Demokratie Systemneustart dringend erforderlich "Verflüssigung" der Politik – was dann? Krise der repräsentativen Demokratie? Substanzverluste des Parlamentarismus Politische (Un-)Gleichheit Politische Verfasstheit der kommunalen Ebene Wille der Fraktion Haushaltsautonomie des Parlaments – Kronjuwel adé?

Eine Verteidigung der Demokratie – gegen den maßlosen Bürger - Essay

Laszlo Trankovits

/ 9 Minuten zu lesen

Wahlsieger teilen alle das gleiche Schicksal: Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sich Enttäuschung und Zorn über sie entladen. Es scheint, dass die Fristen dafür immer kürzer werden. Selbst charismatische Hoffnungsträger wie der US-Präsident Barack Obama verlieren angesichts der Realitäten im Amt sehr schnell an Glanz. Wer regiert, verliert. Die Politik, herausgefordert von der Komplexität einer globalisierten Welt und einer nie gekannten Beschleunigung der Web-2.0-Realität, ist stärker denn je konfrontiert mit des Volkes Stimme und dem Furor der Medien. Politik ist heute eine Dauerveranstaltung, deren Mechanismen immer stärker schwer beeinflussbaren Märkten sowie den Medien – also der Öffentlichkeit – gehorchen. Stammtisch, Web und "kritische Öffentlichkeit" eint oft die Hybris gegenüber der Politik. Man wettert gegen die Politik, als ob in Regierungen, Parlamenten und Parteien nur Versager, Blinde und Gekaufte sitzen. Dabei ist die politische Klasse in den großen westlichen Demokratien keineswegs so verrottet und unfähig, wie sie oft dargestellt wird. Die allgemeine Verachtung gegenüber der Politik spiegelt sich nicht selten im abfälligen, respektlosen Ton und überheblicher Attitüde gegenüber einer angeblich "schmutzigen Politik" wider. Zumindest in Deutschland war sie wohl nie so sauber wie heute.

Die Politik ist heute mehr denn je überfordert. Macht und Gestaltungsmöglichkeiten von Regierungschefs und parlamentarischen Mehrheiten werden überschätzt. Kaum ein Politiker kann mehr die Erwartungen seiner Anhänger erfüllen. Zum einen schränken die ökonomischen Folgen der Globalisierung und die wachsende Macht supranationaler Organisationen den Handlungsspielraum nationaler Politik ein. Zum anderen ufern die Erwartungen aus. Deshalb wächst das Legitimationsproblem des politischen Systems: Politikverdrossenheit und sinkende Wahlbeteiligungen sind die Symptome.

Die westlichen, repräsentativen Demokratien haben heute zwei Feinde: eine globalisierte, vernetzte und beschleunigte Welt auf der einen, die Hybris der Bürger auf der anderen Seite. Jede Regierung, selbst die der Supermacht USA, ist mit den Realitäten der internationalen Finanzmärkte und der globalisierten Wirtschaft konfrontiert. Für Berlin, Rom oder Wien kommen die Zwänge der Europäischen Union hinzu. Bürger und Parteien verfolgen die negativen, kaum zu beeinflussbaren Folgen der Globalisierung und des Zusammenwachsens Europas mit dem Gefühl wachsender Ohnmacht. Das öffentliche Wehklagen über diese in der Tat herausfordernde und beunruhigende Entwicklung ist ein politisches Dauerthema. Politiker aller Couleur, Wissenschaftler und Kommentatoren können sich des Beifalls sicher sein, wenn sie populistisch "mehr Kontrolle" von Finanzmärkten fordern oder "mehr demokratisch legitimierte Entscheidungsprozesse in Europa".

Gefahren

Das Thematisieren der anderen Gefahr für unsere Demokratie ist aber fast ein Tabu. Denn es geht um die Bedrohungen für die Demokratie durch die vielfältigen Formen von zu viel Demokratie, zu viel Mitbestimmung, zu viel Transparenz. Dank der modernen Medienwelt und der Demoskopie ist der Bürger ohnehin ständig öffentlich präsent, lautstark, sensibel. Im schlimmsten Fall wird der Bürger zum maßlosen, ungeduldigen und emotionalen Schrecken der Politik. Das ändert zwar nichts daran, dass in unserer Demokratie niemand anderes als die Wähler der Souverän bleiben und nur sie die politische Machtfrage entscheiden dürfen. Dieses Grundrecht darf niemals angetastet werden. Aber nur in der repräsentativen Demokratie ist es möglich, dass das Volk der politische Souverän ist und gleichermaßen das komplexe Staatswesen funktions- und zukunftstüchtig bleibt. Verfassungen bewahren unser demokratisches System in der Regel wirkungsvoll vor einer Machtübernahme durch Extremisten und Ideologen. Aber niemand schützt die Demokratie vor den Bürgern, die – sei es aus Unreife, Unwissenheit, Egoismus oder Zorn – das politische System durch Ungeduld, Willkür oder Maßlosigkeit lahmzulegen drohen. Deshalb brauchen wir nicht mehr, sondern eher weniger Demokratie. Vor allem brauchen wir mehr Vertrauen in das repräsentative System.

Die aktuelle Euro- und Finanzkrise kann auch gelesen werden als eine direkte Folge von mehr Mitbestimmung und mehr Demokratie. Denn nicht nur die oft geschmähten Lobbyisten, die meist Interessen wichtiger gesellschaftlicher Kräfte vertreten, sondern vor allem die Wähler selbst treiben die Politik immer stärker vor sich her. Politiker befinden sich in einem Dilemma – und zwar umso mehr, je weniger in einer Gesellschaft Arbeitsmoral, Gesetzestreue und Sinn für das Gemeinwohl verwurzelt sind. Entweder folgen Politiker und Parteien den Begehrlichkeiten der Wähler oder sie bekommen kein Mandat und keine Regierungsmacht. Wenn es eine Entschuldigung für die hohe Staatsverschuldung gibt, dann liegt sie im gewachsenen Anspruchsdenken der Bürger. Selbst der Finanzcrash 2008 in den USA hatte eine wesentliche Ursache in der Weigerung des Kongresses, der waghalsigen Kreditvergabe der Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac einen Riegel vorzuschieben. Der politische Wille, jedem Amerikaner den Traum von einem Eigenheim zu erfüllen, war stärker als die ökonomische Vernunft.

Der Gestaltungs- und Partizipationsanspruch der Bürger wächst in einer säkularisierten Gesellschaft, die im Grunde tief verunsichert ist. Viele alte Fundamente wanken. Nur noch das demokratische Gemeinwesen bietet eine eher vage gesellschaftlich verbindliche Werteordnung. Die Relevanz lebenslanger Familienstrukturen sinkt. Die traditionellen Leuchttürme der Orientierung verlieren an Bedeutung: Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Verbände und Vereine leiden fast überall unter teilweise dramatischem Mitgliederschwund. Eine orientierungslose, tribalisierte Gesellschaft begegnet Institutionen und Autoritäten grundsätzlich mit wachsendem Misstrauen und wachsender Ablehnung. Das allgemeine Anspruchsdenken wächst, die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung nicht.

Ausgerechnet in diesen Zeiten dramatischen Umbruchs und einer allgemeinen Verunsicherung über die Zukunft glauben viele in einem Zuwachs an politischer Mitbestimmung und Transparenz mit den ungeheuren Herausforderungen besser fertig werden zu können. Dabei wird die Welt immer komplexer und vernetzter. Die Fähigkeit des Einzelnen, die Komplexität von Problemen zu erfassen, sinkt zwangsläufig. Die Zahl der Menschen, die mit Arbeitswelt und moderner Gesellschaft nicht zurecht kommen, wächst. Die immer längeren Wartezeiten bei Psychotherapeuten sind nur ein Beleg. Böse formuliert könnte man sagen, dass eine Gesellschaft in dem Maße ihrer wachsenden Verunsicherung und Inkompetenz zusätzliche Macht durch Formen von direkter Demokratie beansprucht.

Um Gegenwart und Zukunft besser zu gestalten, brennende Probleme zu lösen, braucht es enormes Fachwissen und großen Fleiß. Auch Politiker, Wissenschaftler und andere Experten ächzen unter den ungeheuren Informationsfluten, der allgemeinen Beschleunigung und den großen Komplexitäten. Dabei gibt es für die großen Themen und Konflikte unserer Zeit ohnehin keine Patentrezepte und "richtige" Lösungen, sondern angesichts der vielen Interessen und Aspekte meist nur Kompromisse und Zwischenlösungen.

Die populäre Forderung nach mehr Partizipation geht kaum einher mit einem Pflichtgefühl, sich intensiv bilden, informieren und engagieren zu müssen. Es wächst die Sucht danach, "abgeholt zu werden". Hintergrund ist ein Missverständnis dessen, was Gleichheit der Menschen und der Respekt vor dem Bürger wirklich bedeuten – auch in einer Demokratie haben Kompetenz, Bildung und Ernsthaftigkeit einen hohen Stellenwert. Aber völlig unabhängig vom Schwierigkeitsgrad politischer Probleme, ob Eurokrise oder Nahost-Konflikt, scheint jedermann jederzeit bereit zu sein, Position zu beziehen. Es ist Ausdruck einer Zeit, in der man erwartet, mit "Gefällt-mir-Klicks" ernst genommen zu werden.

Manche träumen davon, dass das demokratische System mithilfe des Webs eine neue Dimension bekommt, dass eine liquid democracy mit bisher nie gekannter Bürgerbeteiligung entsteht. Tatsächlich ist das Web 2.0 auch ein Aphrodisiakum der Demokratie mit phantastischen Möglichkeiten für mehr Transparenz, Kommunikation und Beteiligung. Jeder kann heute leicht seiner Stimme Gehör verschaffen. Aber das Web ist auch eine Gefahr für die Demokratie, weil die Illusion geweckt wird, direkte Demokratie und ständige Partizipation könnten funktionieren. Das aber wäre ein Irrweg, der in Chaos und Unregierbarkeit münden könnte. Die Forderung nach mehr Mitbestimmung schürt eine gefährliche Illusion über die Weisheit der Massen.

Die Argumente für mehr Demokratie in Deutschland sind höchst fragwürdig. Die erschreckend niedrigen Wahlbeteiligungen bei Volksentscheiden wie die in Hamburg (Schulsystem) und Bayern (Rauchverbot) ebenso wie bei zahlreichen Direktwahlen von Oberbürgermeistern belegen, dass eine deutliche Mehrheit der Bürger Chancen zur Mitbestimmung nicht nutzt. Selbst wenn politische Partizipation vom heimischen Wohnzimmer per Internet möglich wäre, käme erfahrungsgemäß nur ein Teil der Bürger zu Wort.

Glücksfall repräsentative Demokratie

Es ist ein Glücksfall der Geschichte, dass wir in Deutschland das solide Gerüst der repräsentativen Demokratie haben. Das System der Checks and Balances sollte sorgsam abgewogene Politikgestaltung ermöglichen, die Hektik der Moderne reduzieren, perspektivische oder "nachhaltige" Konzepte ermöglichen können. Wer entscheidet, muss zumindest politisch verantwortlich gemacht werden können – das wäre in einer direkten Demokratie nur noch verschwommen möglich. Je mehr der Bürger mitbestimmt, desto mehr droht das System zu einer zukunftsblinden Stimmungsdemokratie zu entarten. Angesichts des permanenten Wahlkampfs, der Talkshow-Marathons und Demoskopie-Gläubigkeit befindet sich die Politik ohnehin schon auf einem gefährlich sprunghaften und kurzsichtigen Pfad. In der repräsentativen Demokratie können im optimalen Fall Politiker und Parteien für Entscheidungen bei Wahlen belohnt oder bestraft werden. Die langsamen Räder der repräsentativen Demokratie mit Wahlen, Parlamentsdebatten, Anhörungen und Gesetzesprozedere garantieren zumindest die Chance auf intensive Prüfung, Abwägung und Interessenausgleich.

Das politische System mag reformbedürftig sein. Eine besonders große Gefahr ist wohl, dass politische Entscheidungen und Programme nicht mehr, wie im politischen System angelegt, eindeutig zuzuordnen sind. Der Konsensdruck durch den Zwang zu Koalitionen, die Macht des Bundesrats und der Einfluss eines recht politischen Bundesverfassungsgerichts erschweren es zunehmend, Politiker und Parteien mit klaren, deutlich unterscheidbaren Konzepten zu identifizieren und Verantwortung für Politikentscheidungen klar zuzuordnen. Verstärkt wird diese gefährliche Konturenlosigkeit der Parteien durch die Scheu, sei es aus Unwillen oder Unfähigkeit, klare politische Alternativen in den Debatten um die großen politischen Themen zu formulieren. Es wäre sicher auch im Sinne der notwendigen Entschleunigung, den permanenten Wahlkampf durch Reduzierung der unzähligen Wahltermine zu zügeln, vielleicht auch, Legislaturperioden zu verlängern.

Ausgerechnet die Piratenpartei belegt, wie gut unser demokratisches Gemeinwesen wirklich noch funktioniert. Die Piraten haben bewiesen, dass sich mit bescheidenem Engagement und einer Idee – mag sie noch so befremdlich und vage sein – beim Wähler punkten lässt und Mandate zu holen sind. Der Erfolg zeigt aber auch, dass es in der Web-2.0-Welt genügen kann, mit einer Verweigerungshaltung zu beeindrucken. Die Piraten müssen noch nachweisen, dass sie mehr sind als der institutionalisierte Ausdruck des Machtanspruchs der Unwissenden.

Auch Bürger müssen kritisiert und gefordert werden

Dank vieler emanzipatorischer Bewegungen sowie moderner Sozial- und Gesellschaftspolitik sind unsere demokratischen Gemeinwesen gereift: Gerade die Deutschen könnten nach schrecklichen historischen Tiefpunkten historisch und global betrachtet stolz auf das Erreichte sein – sie sind es aber nicht. Deutsche Politiker haben oft nicht den Mut, das bestehende politische System offensiv zu verteidigen und gleichzeitig den Bürger sehr viel deutlicher zu fordern. Es ist wenig populär, Anspruchsdenken, Egozentrik, Wehleidigkeit oder Militanz in der Gesellschaft zu kritisieren, die Bereitschaft zum Engagement – und damit auch ein Stück weit zu Anpassung und Unterordnung – einzuklagen.

Vielleicht wäre eine Wählerbeschimpfung angebracht? Als Peter Handke 1968 mit seiner "Publikumsbeschimpfung" das Theater aufwühlte, ging es darum, den passiven Zuschauer und Kulturkonsumenten zu provozieren und ihn einzubeziehen. Der Bürger wird kaum gefordert. Der Wähler gilt Politikern wie Medien als heilig, mag er auch noch so unbescheiden und irrational, willkürlich und ungerecht, emotional oder manipuliert handeln. Das Formulieren schmerzlicher Wahrheiten ist ebenso wie das Eintreten für moralische Prinzipien nicht sonderlich attraktiv. Aber sie gehören zur politischen Reife einer Gesellschaft. Wahrheiten sind auch in einer Demokratie nicht mehrheitsabhängig.

Gegen die Krise der Demokratie gibt es kein Patentrezept. Sicher braucht es mehr politische Bildung. Viele Indizien sprechen dafür, dass es vor allem in den Schulen dringenden Handlungsbedarf gibt. Aber es ist auch Zeit, politisch-moralische Forderungen an den Bürger zu stellen. Es muss auch heißen: Informiere Dich! Bilde Dich! Engagiere Dich! Ein wesentlicher Schritt ist die Erkenntnis von Verantwortung. Das wiederum hätte vielleicht die Bescheidenheit zur Folge, die allerorten fehlt. Dankbarkeit gegenüber der Gesellschaft ist fast ein Fremdwort geworden.

Die Demokratie ist tatsächlich in der Krise, in jedem westlichen Land drückt sich das je nach System anders aus, gibt es andere Baustellen. Aber überall wachsen die Gefahren und Anfeindungen. Um die Demokratie zu verteidigen, braucht es ein klares Bekenntnis zum repräsentativen System. Nicht mehr Partizipation und Mitbestimmung ist vonnöten, sondern eher weniger. Provokant formuliert: Wir sollten heute – im Unterschied zu den 1960er und 1970er Jahren – nicht "mehr Demokratie wagen", sondern weniger.

Geb. 1950; Journalist und Autor; dpa-Korrespondent für Afrika südlich der Sahelzone, Sitz in Kapstadt; Autor von "Weniger Demokratie wagen" (2011).
E-Mail Link: trankovits.laszlo@dpa.com