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Substanzverluste des Parlamentarismus | Parlamentarismus | bpb.de

Parlamentarismus Editorial Verteidigung der Demokratie Systemneustart dringend erforderlich "Verflüssigung" der Politik – was dann? Krise der repräsentativen Demokratie? Substanzverluste des Parlamentarismus Politische (Un-)Gleichheit Politische Verfasstheit der kommunalen Ebene Wille der Fraktion Haushaltsautonomie des Parlaments – Kronjuwel adé?

Substanzverluste des Parlamentarismus

Heinrich Oberreuter

/ 16 Minuten zu lesen

Modernere Theorien bestätigen Walter Bagehots Erkenntnis des komplementären Zusammenhangs von gesellschaftlichem und institutionellem Wandel aus dem 19. Jahrhundert. Auch sie gehen von der Priorität gesellschaftlicher Prozesse aus, die auf politische Institutionen einwirken und deren Funktionsweisen verändern, ohne notwendigerweise ihre grundlegenden Prinzipien unterminieren zu müssen. Möglich ist aber auch das. Unter der Voraussetzung, dass diese Prinzipien konsensfähig sind, könnte von ihrem Verfall dann gesprochen werden, wenn nicht mindestens gleichwertige, konsensstiftende Alternativen an ihre Stelle treten. "Geistesgeschichtliche Grundlagen" unterliegen in der Realität ihrer Umsetzung evolutionären Entwicklungen. Anders gerieten sie ebenso ins Abseits, wie wenn ihre Identität verloren ginge. Status-quo-Orientierung erfasst diese seit fast zwei Jahrhunderten bekannten Zusammenhänge nicht. Leichtfertig wäre es andererseits, Fragen nach Erosionstendenzen der Integrations-, Legitimations- und Kommunikationsfähigkeit des modernen Parlamentarismus nicht zu stellen, soweit sie seine Leitideen berühren.

Integration

Grundsätzlich repräsentieren Parlamente die Gesellschaft in ihrer politischen und sozialen Vielfalt. Gerade dadurch, dass diese Differenzierungen in ihnen zum Ausdruck kommen, eröffnen sie eine Chance für das Mindestmaß gesellschaftlicher Integration: Pluralität gewinnt Handlungsfähigkeit. Staatliche "Einheit" wird über die parlamentarischen Entscheidungsrechte und -prozesse einer funktionsfähigen Volksvertretung wirksam.Diesen Vorgang charakterisiert das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung als "integrative Repräsentanz". Diese selbst setzt wiederum offene Kommunikation, ebenso aber auch ein Mindestmaß an Integrationswillen voraus, das besonders im Zeitalter der Individualisierung nicht unstrittig zur Verfügung steht.

Um die aktuellen Entwicklungen zu erfassen, müssten Fragen nach grundsätzlichen Veränderungen des Verhältnisses von Politik und Gesellschaft gestellt werden. Beide haben sich offensichtlich in den jüngeren Modernisierungsprozessen entkoppelt – jedoch keineswegs nur wegen Parteiversagens oder fraktionengesteuerten Parlamentarismuswandels, sondern aufgrund struktureller Entwicklungen. Im Kern ist diskussionsbedürftig, ob Parteien traditionellen Zuschnitts und Verständnisses in einer seit dem 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts erheblich gewandelten Gesellschaft noch angemessene, zukunftsfähige politische Institutionen sind. Sie sind zu Anpassungsprozessen gezwungen, die sie zu einem neuen Parteientyp wandeln – ein Typus, der sich immer weniger auf Identifikation durch klassisches Milieu, prinzipientreues Programm und ebenso traditionelle wie wirkungsarme Partizipationstechniken stützt, sondern auf Kommunikationsmanagement und vielfältige kurzfristige Interessenbefriedigung.

Diese Veränderung vollziehen Parteien nicht autonom. Sie folgen (sicher nicht immer voll bewusst) gesellschaftlichen Ursachen. Nicht nur, dass sich die überkommenen sozialmoralischen Milieus, welche die beiden großen Volksparteien getragen haben, durch Säkularisierung einerseits und Schwinden des sekundären Sektors in der Ökonomie andererseits in Auflösung befinden. Von den Wahlberechtigten brachten die beiden "Großen" 2009 gerade noch 39,7 Prozent (1976 waren es 82,1 Prozent) hinter sich, von den Wählern 56,8 Prozent (1976 waren es 91,2 Prozent). Individualisierungsschübe, Wertewandel, Pluralisierung der Lebensstile und Organisationsskepsis stehen parteilichen Bindungen entgegen. Zunehmend verlieren die nahestehenden gesellschaftlichen Vorfeldorganisationen an Bedeutung oder entschwinden sogar – nicht zuletzt auch als Rekrutierungsfelder für Parlamentsmandate. Es zerrinnen nicht nur Zielgruppen. Angesichts der wachsenden Attraktivität der Metapher "Unterm Strich zähl’ ich" verpuffen parteipolitische Aggregationsbemühungen. In einer Gesellschaft sich reduzierender Bindebereitschaft muss sich notgedrungen auch die Bindekraft von Parteien reduzieren – mit Rückwirkungen auf diese selbst, auf das Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger sowie die Aktionsweisen von Fraktionen im Parlament, in denen sich die gesellschaftlichen Pluralisierungstendenzen spiegeln.

Jüngste Wahlergebnisse belegen diese Entwicklung. Beide großen Parteien verloren beispielsweise 2009 – die eine desaströs, die andere überschaubar, aber immerhin trotz ihres Kanzlerinnenbonus’. Zu Millionen gaben sie frühere Votanten ins Nichtwählerlager ab, was als Indikator für eine über das Parlament hinausweisende Politikdistanzierung gelten kann. Dass die thematisch spezifischeren kleineren Parteien zulegen, indiziert ihre Attraktivität für individuelle Optionen und zugleich einen abnehmenden generellen Integrationswillen eines wachsenden Segments der Bevölkerung – ein Trend, der für die modernen Gesellschaften Europas typisch ist. Deren Individualisierung und Pluralisierung geht der Desintegration der Parteiensysteme samt ihren parlamentarischen Konsequenzen voraus, die sich längere Zeit schleichend vollzog, jetzt aber unübersehbar ist. Die Gesellschaft nimmt sich die Freiheit, sich zu entwickeln, ohne auf Parteien und Institutionen, ihre Organisation und ihr Selbstverständnis Rücksicht zu nehmen. Parteien sind, was sie stets waren: ein Sekundärphänomen. Sie drücken die Gesellschaft aus, aber sie schaffen sie nicht. Je erfolgreicher sie dabei wären, umso differenzierter müssten nun parlamentarische Repräsentation und Entscheidungsprozesse werden, und umso herausfordernder stellte sich das Problem "integrativer Repräsentanz".

Die moderne Wählergesellschaft differenziert sich in unterschiedliche, durchaus stetigem Wandel unterworfene, wahlentscheidungsrelevante Lebensstile und Lebenswelten, deren Komplexität die klassischen sozialmoralischen Milieus übertrifft. Die Ausprägung solcher Lebenswelten und Lebensstile ist stets im Fluss, entlang des Wandels der Gesellschaft, der Sozialstrukturen und der Soziokultur. Die Gesellschaft ist in Bewegung – mit Konsequenzen für politikrelevante Einstellungen und Verhaltensweisen sowie nicht zuletzt für die Funktionsweise der parlamentarischen Institutionen. Es entstehen neue Milieus von „Gleichgesinnten“, die mit den alten alles andere als identisch und schwierig zu integrieren sind. Grüne, Liberale, Piraten und partiell auch die Linkspartei zeigen, wie das Streben nach parlamentarischer Vertretung, zunächst auf Durchsetzung gerichtet, institutionelle Funktionsfähigkeit, "Regierbarkeit" und Integration erschweren kann. Wer, wie die traditionellen Volksparteien, einer Office-Seeking-Function und der Idee umfassender Verantwortung verpflichtet bleibt, muss die unterschiedlichsten Lebenswelten jenseits eines vorgeblichen "Markenkerns" ansprechen.

Was bedeutet aber eine derartige Angebotsdifferenzierung für die Integrations- und Mobilisierungsfähigkeit von Parteien? Kleinere scheinen eher die Chance auf spezifische Korrespondenz mit dem einen oder anderen der je aktuellen "Milieus" zu haben, woraus ihnen begrenzte Wettbewerbsvorteile zufallen, wovon die Individualisierung, nicht aber Gesamtverantwortung und Integration profitieren. Zugespitzt ergibt sich: Weniger die Parteien und Fraktionen bewirken strukturelle soziale Veränderungen, sondern gesellschaftlicher Wandel verändert ihre Aktionsbedingungen und beeinflusst die Funktionsweise des parlamentarischen Systems.

Gesellschaftliche Entwicklungen greifen inzwischen weiter als die üblichen Überlegungen, inwiefern sozialer Wandel und normative Ansätze in Theorie und Rechtsprechung zur Deckung zu bringen sind. Prinzipiell und in der aktuellen Vertrauenskrise scheint die Idee "integrativer Repräsentanz" durch Parlamentarismus keineswegs ausreichende Popularität zu besitzen. Auch langfristig steht hinter repräsentativer Demokratie nur ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger, hinter der direkten Demokratie aber eine Mehrheit zwischen 51 Prozent und 55 Prozent. Dass sich Abgeordnete in erster Linie an den Interessen der Bevölkerung orientieren, meinten Anfang der 1990er Jahre 42 Prozent, 2010 nur noch 15 Prozent. Zugleich wurde Politikerinnen und Politikern ausgesprochene Bürgerferne attestiert.

Das im Kern antiinstitutionelle Bedürfnis nach "Selbstregierung" entspricht jedenfalls eher dem Individualisierungstrend als einem gemeinwohlorientierten Partizipationsbedürfnis. Dabei kann nicht einmal mehr von einer befriedigenden, integrativen Wirkung von Plebisziten ausgegangen werden, wenn – wie bei "Stuttgart21" artikuliert – engagierte Akteure nur Abstimmungsergebnisse akzeptieren wollen, die ihrer Intention entsprechen. Dabei lässt sich der Eindruck, die Protestkultur sei gewachsen, empirisch nicht belegen. In der Protestlandschaft hat sich allerdings die Skepsis gegenüber der Fähigkeit von Institutionen, Leistungen und Interessen zu berücksichtigen, verfestigt. Sie zeigt immense Sensibilität und Mobilisierungskraft bei technischen Großprojekten im Nahraum und führt zugleich in alle Problemzonen, die zwischen individueller Betroffenheit und Gemeinwohl angesiedelt sind.

Aus ihnen herausführen könnten ergänzende neuere projektbezogene zivilgesellschaftliche Vertretungs- und Delegationsstrukturen neben den üblichen Formen repräsentativer Demokratie, aber in Kooperation mit ihnen. Beispiele gibt es etwa in Norwegen, Dänemark, Großbritannien, den Niederlanden und der Schweiz, Experimente auch in Deutschland. Vertrauensgewinn und Integrationsbereitschaft auf kommunaler und regionaler Ebene wären nicht zu unterschätzen. Die generelle Politik-, Parteien- und Parlamentarismusdistanz wäre davon aber nur indirekt tangiert, „integrative Repräsentanz“ bliebe fragwürdig.

Legitimation

Kein anderer Akteur außer dem Parlament besitzt in der Regel die Kompetenz, verbindliche politische Entscheidungen zu legitimieren. Darüber hinaus verlangt das Verfassungsgericht, alles, was wesentlich ist, der Regelung durch den Gesetzgeber zu unterwerfen. Nicht nur der Bundestag hat seit Jahrzehnten erhebliche Anstrengungen unternommen, seine Expertise zu stärken, um substanziell konkurrierenden Akteuren Paroli bieten zu können. Von Perioden der Kriegsverwaltungswirtschaft über die stetig wachsende Entfaltung des aktiven Staats und der an ihn gerichteten Leistungserwartungen bis zur Komplexität der modernen technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und nicht zuletzt durch die Integration (unter Delegation von Souveränitätsrechten) in einen Staatenverbund mit 27 und eine Währungsunion mit 17 Mitgliedern unterschiedlichster Interessen, hat die Macht der Exekutive seit dem 20. Jahrhundert erheblich zugenommen. Dies ging auf Kosten des Parlaments, trotz dessen grundsätzlichen Willens zur Selbstbehauptung, der gerade zu Zeiten sichtbar wird, in denen in den Mehrheitsfraktionen die Solidarität mit der eigenen Regierung ausfranst.

Aber selbst diese stößt – wie neuere Tendenzen der Externalisierung der Politikformulierung durch Auftragsvergaben für Gesetzentwürfe an Anwaltskanzleien oder fachlich spezialisierte Unternehmen sowie die befristete Anstellung von Verbands- und Wirtschaftsvertretern in den Ministerien zeigen – an Grenzen ihrer Kapazitäten und Kompetenzen. Von überschaubarem Umfang, scheint diese Externalisierung politisch noch beherrscht. Allerdings wohnt ihr die Tendenz inne, den Einfluss der Interessen durch embedded lobbyists dem parlamentarischen noch weiter vor zu verlagern. Dies wäre im Grunde ein Beleg für die Prognosen allmählicher Evolution "post-parlamentarischer Demokratie" mit wachsender Potenz privater Akteure und neuen außerparlamentarischen Formen politischer Steuerung: ein von Interessen, Experten, informalen Gruppen und Netzwerken unter Einbeziehung der Exekutive geprägtes System, das den Abgeordneten zwar den Mythos der Entscheidung lasse, aber nicht mehr deren substanzielle Beeinflussung, weil die intransparenten Absprachen des verhandelnden und paktierenden Staats – der Exekutive – mit Privaten sie in eine so gut wie unauflösliche Ratifikationssituation bringen. Intransparente Absprachen erlangen gesetzliche Verbindlichkeit, ohne aus allgemeiner Diskussion und Partizipation hervorzugehen. Der Akzent solcher Verfahren liegt auf Effektivität, nicht auf demokratisch-parlamentarischer Legitimation.

Tendenzen begründen allerdings noch keinen neuen Typus, wie Verfechter der Post-Parlamentarismus-These selbst einräumen, die vorerst nur Entwicklungslinien beschreiben und deren inhärente Grenze nicht berücksichtigen: die Parlamentarisierung der Regierung und deren Rechtfertigungszwänge gegenüber ihrer parlamentarischen Basis. Deren Wirksamkeit unterliegt allerdings in der Regel Loyalitäts- und Opportunitätserwägungen und ist folglich situationsabhängig.

Unstrittig sind in jüngster Zeit manifeste, vom Bundesverfassungsgericht mehrfach verurteilte Eingriffe in Parlamentsrechte und Beeinträchtigungsversuche seiner Verfahrensautonomie durch die klassischen Instrumente des Zeitdrucks und der Vertraulichkeit speziell in der Eurokrise, aber nicht nur in ihr allein. Offensichtlich bieten bereits Opportunitätserwägungen oder Stimmungslagen hinreichend Grund, Parlamentskompetenzen und sogar Gesetze nicht zu respektieren.

Im Jahr 2011 hat Bundestagspräsident Norbert Lammert, aus dem Spektrum der Fraktionen weithin unterstützt, der Regierung begründet vorgeworfen, sie agiere „grob verfassungswidrig“ bei der über ein Jahr anhaltenden Nichtanwendung eines geltenden Gesetzes (zur Sperrung der Kinderpornografie), beziehungsweise sie handele "grenzwertig" bei der Aussetzung der Wehrpflicht ohne gesetzliche Grundlage, eigentlich sogar gegen das noch bestehende Gesetz. 2010 schon war beim Europäischen Stabilisierungsmechanismus nur durch einen Kraftakt der Regierung abzutrotzen, dass sie sich "bemüht", wenigstens mit dem Haushaltsausschuss "Einvernehmen" herzustellen, wenn Milliarden fließen. Dass dieses "Bemühen" maßgebliche Beteiligung des Haushaltsgesetzgebers nicht gewährleistet, hat das Bundesverfassungsgericht dann in einer das Parlament substanziell schützenden Entscheidung festgestellt.

Beim jüngsten Evakuierungseinsatz des "Parlamentsheeres" wurde die notwendige Zustimmung dieses Parlaments auf der Basis einer "kuriosen Rechtsauffassung" umgangen. Fraktionsübergreifend wird der Bundestagspräsident auch in seiner Rüge unterstützt, den gesetzlichen Bestimmungen für die Beteiligung des Bundestags am "Pakt für Wettbewerbsfähigkeit" zur Stabilisierung des Euros sei das Kanzleramt „nicht oder allenfalls unzureichend" gerecht geworden: durch vage Andeutungen, während die Medien bereits detailliert über die konkrete Initiative berichteten. In der Kernenergie schließlich ist 2011 quasi in einer Notstandsmentalität ohne Rechtsgrundlage agiert worden: Auf entschlossenes Handeln käme es an, nicht auf "juristische Spitzfindigkeiten" (so der damalige Bundesumweltminister), und der Hinweis auf das Recht sei "Erbsenzählerei" (so die Vorsitzende einer ehedem entschieden rechtsstaatsorientierten Fraktion). Der zur Begründung nachgeschobene Paragraf des Atomgesetzes bezieht sich auf Gefahr im Verzuge, die aus Japan hierzulande jedoch keineswegs drohte. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier hält das Atom-Moratorium 2011 "eindeutig für verfassungswidrig". Während bei der 1968 Aufruhr verursachenden Notstandsverfassung der Grundsatz galt, dass für ruhige Zeiten wie für den echten Notstandsfall die gleichen Rechtsgrundsätze zu gelten hätten, bricht sich nun in einer Stimmungslage Ausnahmezustandsmentalität Bahn: die Stunde der Exekutive. Das Parlament wird von der Regierung auf die Seite geschoben. Von ihm verabschiedetes Recht wird gebrochen oder umgangen. Man beachte dabei die Häufung der Fälle binnen weniger Wochen und Monate. Dabei geht es nicht nur um die Position des Bundestages, sondern auch um die Integrität des Rechtsstaats; denn dieser beruht auf dem Vorrang des Gesetzes, das Politik und Regierung bindet – nicht umgekehrt.

Soweit es angerufen worden ist, hat das Bundesverfassungsgericht diesen Tendenzen entschieden Grenzen gesetzt. Das Recht des Bundestages auf Mitwirkung in Angelegenheiten der EU setze eine intensive und frühzeitige Informationspflicht der Bundesregierung (Art. 23 GG) voraus – umso intensiver, je komplexer der Vorgang ist und je tiefer er in den parlamentarischen Zuständigkeitsbereich eingreift. Der Bundestag dürfe nicht in eine bloß nachvollziehende Kontrolle geraten und müsse sich fundiert befassen und äußern können, bevor die Regierung wirksame und bindende Erklärungen nach außen abgebe. Unzulässig sind Kompetenzaushöhlungen, die eine parlamentarische Repräsentation des Volkswillens rechtlich oder faktisch unmöglich machen. Insofern müssten die Abgeordneten des Deutschen Bundestages auch in einem System intergouvernementalen Regierens die Kontrolle über grundlegende haushaltspolitische Entscheidungen behalten und dürften diese Verantwortung nicht durch unbestimmte Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen. Schließlich bestehen in einem potenziellen, von Eilbedürftigkeit und Vertraulichkeit begründeten Konflikt zwischen Funktionsfähigkeit des Organs und den gleichen Statusrechten aller Abgeordneten enge, vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit regierte Spielräume zur Delegation von Plenarentscheidungen auf Sondergremien, die Karlsruhe im Falle des Europäischen Stabilisierungsmechanismus nicht zu erkennen vermochte.

Legitimität fließt nicht aus Parteigremien, Kanzlerwillen, Koalitionsvereinbarungen, Regierungsbeschlüssen oder aus Verabredungen der Bundesregierung mit Ministerpräsidenten. Sie fließt allein aus der parlamentarischen Gesetzgebung unter Beachtung der verfassungsmäßigen Zuständigkeiten. In der Missachtung dieses Grundsatzes liegt eigentlich schon mehr als "nur" eine Marginalisierung des Parlaments. Verfestigte sich diese Tendenz, verlöre das Parlament nicht nur seine Fähigkeit zur Teilhabe an der politischen Führung. Es würde auch des Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger beraubt, die nicht daran interessiert sind, macht- und einflusslos vertreten zu sein. Um den Bundestagspräsidenten zu zitieren: "Es schadet dem Ansehen des Parlaments, wenn der Eindruck entsteht, als folgten wir vornehmlichen oder tatsächlichen Vorgaben, statt selbstständig zu urteilen und zu entscheiden." Genau dieses Urteil oder Vorurteil der Fremdbestimmung ist ein klassischer und aktueller Topos der Parlamentskritik ganz unterschiedlicher Provenienz. Er begründet die tiefe Vertrauenskrise des Parlamentarismus nicht nur in Deutschland.

Kommunikation

Die jüngsten Urteile des Bundesverfassungsgerichts orientieren sich strikt an der Unverbrüchlichkeit des Demokratieprinzips und seiner Umsetzung in einer Abfolge der Legitimation durch Bürgerwille, Wahl und Parlamentsentscheidung. Es wäre eine Fehlinterpretation, sie nur als Konfliktregelung zwischen Unions- und Nationalebene, Abgeordneten und Institution oder Parlament und Regierung zu interpretieren. Sie behandeln den Anspruch des Bürgers, im Rahmen der konsentierten Legitimationsstruktur regiert zu werden. Ausdrücklich beabsichtigen sie, ihn vor einem entsprechenden Substanzverlust zu bewahren, worin das Kernargument gegen eine Entleerung parlamentarischer Gestaltungsmöglichkeiten und mit ihr der legitimierenden Ratio des Wahlrechts zu sehen ist. Vielfach wird in diesem Kontext an das Prinzip parlamentarischer Öffentlichkeit als Voraussetzung für die Einbeziehung der Bürger und der Kontrolle der Politik durch sie erinnert. Wichtigen Entscheidungen "muss deshalb grundsätzlich ein Verfahren vorausgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten". Legitimation durch Kommunikation bleibt die Kernfunktion des Parlamentarismus.

Aber Parlamente verfügen nicht autonom über ihre Außenbeziehungen. Demokratische Legitimation bleibt in der Massendemokratie stets auch journalistischen Selektions- und Interpretationsmustern unterworfen, die ihrerseits politischen Legitimations- und Kontrollprozessen nicht ausgeliefert sind (und nicht sein dürfen). Über den Zugang zur Öffentlichkeit entscheiden durchaus auch von der Kommerzialisierung der elektronischen und der Boulevardisierung zahlreicher Printmedien bestimmte Nachrichtenwerte. Zugespitzt formuliert: Während ehedem parlamentarische Öffentlichkeit sensationell war, muss heute im Parlament Sensationelles geschehen, damit es öffentlich wird. Klagen über Vermittlungsdefizite sind vielfältig und pointiert. Die Zerlegung der Politik in dramatisierende Events von Sieg und Niederlage macht die intellektuelle Auseinandersetzung mit legislativen Materien überflüssig und vermeidet die Vermittlung von Politik als Prozess.

Wie bedeutsam ist diese Außendarstellung noch? Oft weisen Klagen darauf hin, dass der auf Meinungsbildung und Legitimation einwirkende Dialog immer weniger in den institutionellen Arenen stattfindet, sondern "politische" Öffentlichkeit andernorts, speziell in Talkshows, hergestellt wird. Für die Akteure wird es immer unwichtiger, über parlamentarische Öffentlichkeit zu verfügen. Die politische Auseinandersetzung findet um Anteile an der Fernsehkommunikation statt und keineswegs nur über die Kontroversen zwischen Politikern, sondern um die oberflächliche Interpretation politischer Realität zwischen Politikern, Medienmachern und Prominenten. Legitimation und Kommunikation rücken wieder auseinander.

Die "Fernsehdemokratie" ist Parlamentsdemokratie nur in höchst eingeschränktem Maße. Aufgrund von Bedeutung und Reichweite dieses Mediums ist es stilbildend geworden, hat die Logik der bildlichen Information zur Logik der Massenkommunikation insgesamt avancieren lassen und zugleich auch – Stichwort Medialisierung – die Politik ihrer Eigengesetzlichkeit unterworfen. Zu den diesen Prozess begleitenden fundamentalen Veränderungen gehört auch eine Aufspaltung der politischen Handlungswelten, die normativen Maximen des Parlamentarismus widerspricht. Im Entscheidungshandeln ist ein hohes Maß an Rationalität freizusetzen. In der kommunikativen Legitimation von Entscheidungen dominieren dagegen vereinfachte Darstellung und Reduzierung von Komplexität.

Gleichzeitig führt die extreme Personalisierung der Politik zu einer übermäßigen Konzentration auf Persönlichkeitseigenschaften von Kandidaten und Amtsinhabern statt auf politische Positionen und Tugenden. Politische Führungspersönlichkeiten müssen maximalen Nutzen aus dem Mediensystem ziehen. Trotz mancher Gegenbeispiele zeigt sich im nationalen wie internationalen Kontext, dass der Gewinn von Führungsämtern mit Telegenität und Beherrschung des spezifischen journalistischen Zeichensystems zunehmend korrespondiert. Dem deliberierenden Parlamentarismus widerstreitet medialisierte Politik in drei Dimensionen: Zum ersten verliert Politik, die der visuellen Logik der Fernsehinszenierung entspricht, bei den Rezipienten an Seriosität; sie wird – wenn überhaupt – im Kontext des Unterhaltungsbedürfnisses wahrgenommen. Zum zweiten entspricht sie nicht der tatsächlichen Komplexität politischer Willensbildungsprozesse. Ihre dramaturgischen Notwendigkeiten lassen Kontinuität und Rationalität vermissen. Die elektronisch hoch sensibilisierte Nation bedarf beständig neuer Reize. Zum dritten wird fast ausschließlich das "Zeigbare" vermittelt. Karriere gemacht haben die Stichworte Visualisierung, Personalisierung und Ritualisierung. Hintergründe, Zusammenhänge und reale Abläufe politischer Willensbildungsprozesse werden vernachlässigt oder sind weder inszenier- noch zeigbar.

Euphorie und Ernüchterung

Euphorische Hoffnungen richteten sich auf "Computer-Demokratie" und Internet. Letzterem wurde bei seinem Aufkommen vielfach angemutet, durch interaktive Anwendungschancen das Idyll einer virtuellen Versammlungsdemokratie zu ermöglichen, welche im Grunde die repräsentative Demokratie ersetzen und ihre kommunikative Legitimation überflüssig erscheinen ließe. Mittlerweile ist Realitätssinn zurückgekehrt. In den Piraten gruppiert sich um das Netz eher eine Generation, die parlamentarischer Repräsentation negativ gegenübersteht. Es vollzieht sich der gleiche Prozess wie stets in der Geschichte: Öffentlichkeit bemächtigt sich neuer Medien, und neue Medien bemächtigen sich ergänzend der politischen Öffentlichkeit – ohne die jeweils erwartete, befürchtete oder erhoffte "revolutionäre" Konsequenz. Medientechnik und soziopolitischer Kontext begründen einen inkrementalen Demokratiewandel, ohne die bekannten Problemstellungen obsolet werden zu lassen. Jedenfalls gelingt im Netz keineswegs die "Schaffung einer gesellschaftsumfassenden Agora". Das Publikum ist fragmentiert, die politische Bühne eine unter vielen. Gesellschaftliches Interesse am Legitimationsdiskurs besteht nicht allgemein.

Die Geschichte des Parlamentarismus ist eine Geschichte seiner Herausforderungen. Aktuell entfalten sich diese keineswegs in Deutschland allein, blickt man nur auf grundsätzlich stabile Demokratien. Selbst Capitol Hill in Washington, D.C. verlor jüngst an Identität, Macht und Kontrollpotenz – ja sogar an Respekt der Exekutive. Das britische Unterhaus kämpft um seine Kommunikations- und Kontrollkompetenz. Ob Frankreichs "rationalisierter" Parlamentarismus sich zu emanzipieren versteht, bleibt offen. In Italien schließlich gehört das Regieren mit Notstandsdekreten seit Jahrzehnten zum Normalzustand.

Wenn der liberale Rechtsstaat "ein moralisches Gut ersten Ranges" ist und "seine Verwirklichung in der repräsentativen Demokratie" als eine „der intelligenten Erfindungen, die die Menschheit im Felde der Politik gemacht hat" gelten kann, sollte sich ihrem Substanzerhalt permanente Aufmerksamkeit zuwenden, und zwar im Sinne der Priorität der Substanz vor aktuellen politischen Opportunitäten. Zur Legitimation supranationaler Regierung bedarf es beispielsweise der Etablierung dieser Substanz auf supranationaler Ebene. Bei allen Demokratisierungsprozessen der Europäischen Union wäre die These allzu kühn, die parlamentarische Repräsentation entspräche bereits den auf nationalstaatlicher Ebene gültigen normativen Maßstäben. Solange das so ist, spricht das Bundesverfassungsgericht mit guten Gründen der Bewahrung demokratischer Legitimität Priorität vor der Vertiefung der Integration zu.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Heinrich Oberreuter, Institutionen, in: Klemens H. Schrenk/Markus Söldner (Hrsg.), Analyse demokratischer Regierungssysteme, Wiesbaden 2010, S. 263–272.

  2. BVerfGE 51, 222 (236, 238, 249).

  3. Vgl. Peter Lösche, Ende der Volksparteien, in: APuZ, (2009) 51, S. 6–12.

  4. Sinus unterscheidet zehn solcher "Milieus", wie etwa prekäres, hedonistisches, traditionelles, pragmatisches, leistungsorientiertes ("Performer"). Vgl. Webseite: Externer Link: www.sinus-institut.de/loesungen/sinus-milieus.html (25.8.2012).

  5. Das sollte etwa gelten für das sozioökologische "Milieu" und die Grünen, das liberal-intellektuelle "Milieu" und die FDP oder das überaus netzaffine "Milieu" und die Piraten.

  6. Vgl. Renate Köcher, Der Ruf nach dem Plebiszit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 20.10.2010.

  7. Vgl. Dieter Rucht et al., Befragung von Demonstranten gegen Stuttgart 21, Pressekonferenz im Wissenschaftszentrum Berlin am 27. Oktober 2010; Göttinger Institut für Demokratieforschung (Hrsg.), Neue Dimensionen des Protests?, Göttingen 2010.

  8. Vgl. Peter C. Dienel, Demokratisch. Praktisch. Gut, Bonn 2009; Karin Huber et al., Höhere Akzeptanz von Entscheidungen durch innovative Formen der Beteiligung von Betroffenen und Öffentlichkeit, München 2011.

  9. Vgl. BVerfGE 33, 125.

  10. Vgl. Marian Döhler, Gesetzgebung auf Honorarbasis, in: Politische Vierteljahresschrift, 53 (2012) 2, S. 181–210.

  11. Vgl. Svein S. Andersen/Tom R. Burns, The European Union and the Erosion of Parliamentary Democracy, in: Svein S. Andersen/Kjell A. Eliassen (eds.), The European Union, Beverly Hills–London 1996, S. 227–231; Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt/M. 2008.

  12. Vgl. Marco Bülow, Wir Abnicker, Berlin 2010.

  13. Vgl. Dieter Grimm, Lässt sich die Verhandlungsdemokratie konstitutionalisieren?, in: Claus Offe (Hrsg.), Demokratisierung der Demokratie, Frankfurt/M. 2003, S. 193–210.

  14. Vgl. BVerfG, 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10 vom 7.9.2011; 2 BvE 8/11 vom 28.2.2012; 2 BvE 4/11 vom 19.6.2012.

  15. Vgl. Winfried Hassemer, Dalli, dalli, das Haus brennt, in: FAZ vom 28.6.2012; Paul Kirchhoff, Verfassungsnot!, in: ebd. vom 12.7.2012.

  16. Vgl. Norbert Lammert, Regierung agiert grob verfassungswidrig, in: ebd. vom 12.3.2011.

  17. Zit. nach: BVerfG, 2 BvE 4/11 vom 19.6.2012.

  18. Vgl. FAZ vom 17.3.2011.

  19. Zit. nach: Handelsblatt vom 17.3.2011.

  20. Vgl. BVerfG, 2 BvE 4/11 vom 19.6.2012

  21. Vgl. ders., 2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10 vom 7.9.2011

  22. Vgl. ders., 2 BvE 8/11 vom 28.2.2012. Vgl. zur Bedeutung der Gleichheit aller Abgeordneten für die Parlamentsautonomie Gerald Kretschmer, Art. 40, Rn. 8 in Bruno Schmidt-Bleibtreu/Hans Hofmann/Axel Hopfauf (Hrsg.), GG. Kommentar zum Grundgesetz, Köln 201112.

  23. Zit. nach: Spiegel Online vom 7.11.2010: Externer Link: www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,727717,00.html (20.10.2011).

  24. Vgl. Heinrich Oberreuter, Krise der Demokratie?, in: Internationale Katholische Zeitschrift Communio, 40 (2011) 4, S. 323–332; Oscar W. Gabriel/Lisa Schöllhammer, Warum die Deutschen ihrem Abgeordneten nicht mehr vertrauen als dem Bundestag, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 40 (2009) 2, S. 414–430.

  25. BVerfG, 2 BvE 8/11 vom 28.2.2012, Rn. 108.

  26. Vgl. Norbert Lammert, Parlament und Partizipation in der Mediendemokratie, in: Die politische Meinung, 56 (2011), S. 147–158.

  27. So Wolfgang Thierse in einer Rede beim "MainzerMedienDisput" am 4.11.2003, online: Externer Link: www.thierse.de/reden-und-texte/reden/rede-mainzer-medien-disput (28.8.2010).

  28. Vgl. FAZ vom 11.5.2005; Tissy Bruns, Republik der Wichtigtuer, Bonn 2007.

  29. Vgl. Thomas Meyer, Politik als Theater, Berlin 1998, S. 107.

  30. Frühzeitig registriert von: Wolfgang Bergsdorf, Legitimität aus der Röhre, in: Publizistik, 28 (1983), S. 40ff.

  31. Herbert Krauch, Computer-Demokratie, Düsseldorf 1972.

  32. Vgl. Jürgen Stern, Externer Link: www.mehr-demokratie.de: Das Internet und die Zukunft der deutschen Politik, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik, 51 (2002), S. 245–270. Kritisch: Susanne Gaschke, Klick. Strategien gegen die digitale Verdummung, Freiburg u.a. 2009, S. 135ff.

  33. Vgl. Thomas Zittel, Repräsentativverfassung und neue Kommunikationsmedien, in: Winand Gellner/Fritz von Korff (Hrsg.), Demokratie und Internet, Baden-Baden 1998, S. 111–125.

  34. Stefan Marschall, Strukturwandel der parlamentarischen Öffentlichkeit, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 50 (2003), S. 436.

  35. Carl Friedrich von Weizsäcker, in: Süddeutsche Zeitung vom 24.1.1978.

  36. Vgl. Andreas Voßkuhle, Über die Demokratie in Europa, in: FAZ vom 9.2.2012.

Prof. Dr. phil., geb. 1942; ehemaliger Direktor der Akademie für Politische Bildung in Tutzing; Redaktionsleiter Staatslexikon, Universität Passau, Michaeligasse 13, 94032 Passau.
E-Mail Link: heinrich.oberreuter@uni-passau.de