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Anpassung des Pflegesektors zur Versorgung älterer Menschen | Alternde Gesellschaft | bpb.de

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Anpassung des Pflegesektors zur Versorgung älterer Menschen

Michael Isfort

/ 14 Minuten zu lesen

Es gilt als gesichert, dass mit Hochaltrigkeit nicht automatisch Hilfe- und Pflegebedürftigkeit einhergehen und auch bis ins hohe Alter Ressourcen vorhanden sind, die gezielt gefördert und erhalten oder sogar ausgebaut werden können. Dies weist darauf hin, dass Prävention und Förderung der Fähigkeiten stärker in den Vordergrund gerückt werden müssen, denn Pflegebedürftigkeit ist nicht in allen Fällen ein Schicksal, dem man tatenlos entgegenblicken muss.

Dennoch steht im Vordergrund der öffentlichen Debatten über Alter und alternde Gesellschaften meist die Thematik der Pflegebedürftigkeit. Diese ist im Sozialgesetzbuch (SGB) XI ausgeführt und wird durch eine Begutachtung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen festgestellt. Pflegebedürftig sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§14 SGB XI) der Hilfe bedürfen. Ausschlaggebend für die Einstufung und die gestaffelten Leistungen sind längerfristige und wiederkehrende Hilfebedarfe bei der Körperpflege, der Ernährung, der Mobilität und der häuslichen Versorgung.

Auch wenn dies junge Menschen (wie etwa nach Unfällen mit Folgeschäden) mit einschließt, so ist hervorzuheben, dass Hilfe- und Pflegebedürftigkeit vor allem bei hochaltrigen Menschen über 75 Jahren entsteht. Der Sechste Altenbericht der Bundesregierung weist darauf hin, dass die überwiegende Mehrheit älterer Menschen nicht hilfe- und oder pflegebedürftig ist; bei den 70- bis unter 75-Jährigen ist nur jeder Zwanzigste (fünf Prozent) pflegebedürftig im Sinne des SGB XI; das Verhältnis von Pflegebedürftigen zu Nicht-Pflegebedürftigen verkehrt sich erst bei den über 90-Jährigen in Richtung überwiegender Hilfebedürftigkeit, denn hier sind es 61 Prozent, die als pflegebedürftig im Sinne des SGB XI eingestuft sind.

Im Dezember 2009 waren laut Pflegestatistik des Bundes etwa 2,34 Millionen Menschen als pflegebedürftig im Sinne des SGB XI eingestuft. Zwischen 1999 und 2009 zeigte sich eine Zunahme um etwa 16 Prozent. 69,2 Prozent aller Pflegebedürftigen wurden 2009 zuhause versorgt – entweder mit oder ohne Unterstützung durch einen ambulanten Pflegedienst. Während jedoch der Anteil der allein durch die Familie versorgten Pflegebedürftigen über die Zeit betrachtet eher stabil blieb (Zunahme um 3,7 Prozent), ist die Versorgung durch ambulante Dienste deutlich angestiegen (um 33,69 Prozent). In teil- und vollstationären Einrichtungen werden aktuell um 32 Prozent der Pflegebedürftigen betreut. Auch hier lässt sich über die Jahre eine starke Zunahme beobachten (etwa um 30 Prozent). In der Pflegestatistik 2011 weisen alle Prognosen auf eine weitere Zunahme hin.

Festzuhalten ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt, dass sich der von der Bevölkerung geäußerte und im Sozialgesetzbuch formulierte Anspruch von "ambulant vor stationär" in den Entwicklungen nicht eindeutig abbildet. Die hohe Zunahme der stationären Versorgung kann unter anderem auf eine sich wandelnde Bereitschaft und Möglichkeit zur Übernahme häuslicher Pflege in der Familie zurückgeführt werden. Dabei spielen soziale Milieus und die mit einer Versorgung verbundenen Kosten eine Rolle. Daneben sind besondere Risiken für einen Heimeinzug zu beachten wie der Anteil älterer Menschen in Einpersonen-Haushalten oder eine vorliegende demenzielle Erkrankung. Die komplexen Problemlagen, die mit der Übernahme der Pflege in der Familie in Verbindung stehen, weisen auch auf veränderte Rollen, Netzwerk- und Familienstrukturen hin. Analysen der Barmer GEK zeigen auch Zusammenhänge des Eintrittsalters in die pflegerische Versorgung, des Pflegearrangements zu Beginn der vorliegenden Erkrankung und weiterer Faktoren auf.

Hervorzuheben ist dennoch die Tatsache, dass aktuell ein hoher Anteil der Pflegebedürftigen (45,5 Prozent) von den Familien alleine versorgt wird. Ein weiterer Aufbau der professionellen Versorgung wird unter anderem aufgrund eines bestehenden Fachkraftmangels in der Pflege erschwert. Die Beschäftigtenzahlen der Altenpflegenden stiegen in den vergangenen zehn Jahren um 85.000 Personen, die Zahl der Gesundheits- und Krankenpflegenden um 35.600. Studien gehen davon aus, dass bis 2025 oder 2030 mehrere Hunderttausend Pflegende zusätzlich beschäftigt werden müssten, wenn der Status quo fortgeschrieben wird und keine neuen Konzepte entwickelt werden.

Hilfebedürftigkeit und Versorgung

Neben der Pflegebedürftigkeit existiert ein Hilfebedarf in der Bevölkerung, der unterhalb der im SGB XI formulierten Leistungsbereiche oder Leistungszeiten (zeitliche Unterstützungsbedarfe) liegt. Ulrich Schneekloth und Hans Werner Wahl ermittelten für das Jahr 2002 einen Hilfebedarf bei etwa drei Millionen Menschen. Dabei wurden für etwa 1,4 Millionen Personen ein täglicher Hilfebedarf festgestellt. Es ist davon auszugehen, dass der Großteil der Hilfebedürftigen einen Unterstützungsbedarf hat, der nicht zwingend durch ausgebildetes Pflegepersonal beantwortet werden muss, jedoch eine umfassende Unterstützung und eine komplexe Organisation des häuslichen Arrangements erfordert. Eine allgemeingültige Definition zum Hilfebedarf existiert nicht. Die Abbildung (s. PDF-Version) zeigt Bereiche und Abgrenzungsversuche der unterschiedlichen Formen der Unterstützungen auf. Die Auflistung ist nicht vollständig, erfasst aber die Ebenen des Unterstützungsbedarfs. Diese Ebenen bilden auch den Ausgangspunkt der Neuausrichtung der Versorgung, denn es gilt zukünftig nicht nur die Pflegebedürftigkeit zu fokussieren, sondern auch die Prävention der Pflegebedürftigkeit und die Neuausrichtung von Leistungen ins Blickfeld zu rücken, die den Hilfebedarf beantworten. Damit verbunden ist die Notwendigkeit, die häusliche Situation nachhaltig zu stabilisieren und Leistungen zugänglich zu machen, die eher in einem niedrigschwelligen Bereich liegen.

Als ein erster Bereich, in dem Unterstützung erforderlich werden kann, ist die Teilhabe zu nennen. Hier wird die lebensweltliche Gestaltung im sozialen Miteinander betrachtet und die Möglichkeit, am Gemeinschaftsleben teilzunehmen. Mit dem Begriff der Inklusion soll verdeutlicht werden, dass keine Ausgrenzung aufgrund von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit entstehen soll. In diesem Bereich wird ein stark unterschiedlicher Bedarf existieren (etwa hinsichtlich des Wunsches nach Kontakthäufigkeit und Aktivität). Die Zunahme an Einpersonen-Haushalten macht es notwendig, sich damit zu beschäftigen, denn es muss einer möglichen Vereinsamung von älteren Alleinlebenden entgegengetreten werden.

Von der Teilhabe abzugrenzen sind haushalterische Leistungen, welche die konkrete Haushaltsführung und Unterstützung umfasst. In diesem Bereich können Besorgungen für den Haushalt, Leistungen der konkreten Haushaltsführung (wie Reinigungsleistungen, Wäscheversorgung) und die Vor- und Zubereitung von Speisen und Leistungen, die zur Aufrechterhaltung der Funktionen des Wohnraums zählen (wie leichte Reparaturarbeiten, Glühbirnenwechsel) sowie Gartenarbeiten (Außenbereich des Wohnraums) benannt werden.

Als eine weitere Ebene der Unterstützung kann die Sicherheit und Grundpflege ausgemacht werden. Hier sind Aspekte der engeren Betreuung, Begleitung und Beaufsichtigung zu finden. Gleichermaßen aber umfasst sie auch bereits konkrete körperbezogene Versorgungsleistungen (wie Waschen, Ankleiden) sowie Maßnahmen, die häufig auch von Pflegediensten erbracht werden (wie Prophylaxen zur Vermeidung von Erkrankungen, Trainings zur Mobilitätssteigerung sowie Leistungen, die in Bereiche der Aktivitäten des täglichen Lebens fallen wie Kontinenztraining/Inkontinenzversorgung). Ein herausgehobener Aspekt für Menschen mit einer Demenz ist die Tagesstrukturierung als Leistung. Sie wird benötigt, damit durch wiederkehrende Rhythmen und Rituale ein Orientierung und Sicherheit gebendes Muster im Alltag erhalten bleibt.

Ein vierter Bereich ist die fachpflegerische Unterstützung. Hier können Leistungen beschrieben werden, die ein umfangreiches und spezifisches Grundwissen erfordern, wie es etwa für das Verabreichen von Medikamenten notwendig wird. Auch die Einschätzung zur Verbesserung der Lebenssituation durch den Einsatz von Hilfsmitteln oder die konkrete Anleitung und Beratung zu pflegerischen Fragen sind zu nennen. Fallen medizinische Messungen an (wie Vitalwerte, Blutzucker), so bedarf es ebenfalls einer umfassenden Wissensbasis, um etwa Wirkungen von Medikamenten auf Kreislauf, Müdigkeit, Stimmung und Ausscheidungsfunktionen einzuschätzen oder Entscheidungen herbeizuführen wie das Aufsuchen eines Arztes und die Neueinstellung eines Medikamentes.

Die Frage, ab wann eine Leistung bereits pflegerischer Expertise bedarf oder ob es sich noch um eine zum Haushalt gehörende Tätigkeit handelt (etwa Assistenz beim Toilettengang) und wer diese vornehmen darf (Pflegeperson, Hilfskraft, Haushaltshilfe, Familie), führt immer wieder zu Problemen in der Abgrenzung der Tätigkeitsfelder helfender Berufe und der benötigten Qualifikationsniveaus der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Aus der Perspektive der Menschen mit Hilfebedarf ergeben sich komplexe Bedarfslagen, die nicht in einzelne Maßnahmen zu zergliedern sind. Zum Beispiel umfasst ein "morgendliches Fertigmachen" sämtliche körperbezogenen Maßnahmen (wie Waschen, Kämmen, Zähneputzen, Ankleiden), aber auch haushalterische Leistungen (Bett aufschütteln, Frühstück bereiten) und medizinische Leistungen (Einnahme der Frühmedikation). Diese Bündelungen sind in den Sozialgesetzgebungen nicht als Einheit zu erkennen.

Eng mit dieser Problematik verbunden ist die Klärung der rechtlichen und haftungsrechtlichen Konsequenzen, die in der alltäglichen Versorgungssituation auftreten können. So dürfen beispielsweise Angehörige Medikamente geben, da sie als Teil der Familie Unterstützungen nicht gewerblich erbringen. Eine Haushaltshilfe, die für Leistungen entlohnt wird, darf dies jedoch nicht, da es sich im engeren Sinne um eine medizinische Leistung handelt, die gewerblich nicht ohne Qualifikation erbracht werden darf. Somit muss für diese Leistung bei Abwesenheit eines Angehörigen eine ausgebildete Pflegekraft aktiv werden oder ein ehrenamtlicher Helfer/Nachbar, der kein Entgelt bekommt. Die Frage, ob eine Leistung regulär oder irregulär erbracht wird, klärt sich somit nicht über die Leistung selbst, sondern über die Situation und die Person, die sie erbringt.

Vor diesem Hintergrund ist besonders die Diskussion um die Beschäftigung von mittel- und osteuropäischen Haushaltshilfen zu verstehen, die auch bei einer regulären Anstellung im Einzelfall irreguläre Leistungen erbringen. Mittel- und osteuropäische Haushaltshilfen bilden für zahlreiche Familien in Deutschland eine Möglichkeit, den Hilfebedarf und eine dauerhafte Anwesenheit abzusichern. Als "Live-Ins" leben die Frauen für eine begrenzte Zeit in den Haushalten der Pflegebedürftigen. Dabei gehen gängige Schätzungen von mindestens 100.000 Dienstleisterinnen und Dienstleistern aus dem europäischen Ausland aus.

Diese Form der Beschäftigung sollte jedoch nicht ohne eine umfassende Diskussion zur Situation der Frauen gewählt werden. Die überwiegend irreguläre Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte, die meist ohne Arbeits-, Krankenversicherungs-, Unfallversicherungs- und Haftpflichtschutz tätig sind und keine geregelte Frei- und Urlaubszeit haben, machen diese Form der Arbeit für die Beschäftigten nicht nur aus finanzieller Sicht prekär. Häufig werden Haushaltshilfen auch in Ergänzung zu anderen Hilfeformen eingesetzt.

Die hohe Anzahl kann neben der Suche nach einer "preiswerten Lösung" unter anderem auch darauf zurückgeführt werden, dass sich (etwa nach einem Krankenhausaufenthalt) in Familien eine drängende Versorgungsproblematik ergibt, die schnell gelöst werden muss. So werden Entscheidungen getroffen, ohne dass sich Betroffene im Vorfeld umfassend informieren konnten. Als ein Problembereich kann ausgemacht werden, dass der Zugang zum Versorgungssystem bürokratisch und kompliziert erscheint und dass Familien in aller Regel keine umfassende Kenntnis über die bestehenden Versorgungsmöglichkeiten haben.

Das Versorgungssystem für hilfe- und pflegebedürftige Menschen in Deutschland ist sehr ausdifferenziert. Es liegen zahlreiche Formen der Unterstützung und der gesetzlich finanzierten Leistungsansprüche vor. Im Mittelpunkt stehen Leistungen, wie sie sich aus der gesetzlichen Pflegeversicherung, den Hilfen zur Pflege (Sozialhilfe), den privaten Haushalten und in gewissen Anteilen auch durch die Krankenversicherung und die Rehabilitationsleistungsträger ableiten lassen. Hier stehen Leistungen aus dem SGB XI wie häusliche Pflege, Tagespflege, Kurzzeitpflege, Pflegegeld oder Pflegeberatung im Vordergrund. Zu den Personengruppen, die im formellen und informellen Pflegesystem unterstützend tätig sind, gehören Pflegekräfte, Haushaltshilfen, Familienangehörige oder ehrenamtlich Engagierte. Faktoren, die auf die Ausgestaltung, die Finanzierung und die Sicherung der Systeme einwirken können, sind unter anderem die Erreichbarkeit der Angebote, das Handeln und mögliche Anreize der öffentlichen Institutionen, kommunale Planung, die Situation auf dem Arbeitsmarkt, die Finanzkraft der Altershaushalte sowie Auswirkungen des europäischen Lohngefälles.

Es kann festgehalten werden, dass die Komplexität für Außenstehende ohne strukturierte Hilfe kaum überschaubar erscheint. Hinzu kommt, dass gesetzliche Leistungen nicht überall gleichermaßen erreichbar sind. Als ein Beispiel kann hier die Tagespflege benannt werden. Es existiert zwar ein Rechtsanspruch auf diese Form der Unterstützung, ob eine Familie eine solche Leistung aber nutzen kann, hängt von dem regionalen Angebot und der Erreichbarkeit ab. So zeigen die geringen Nutzungsgrade der Verhinderungspflege, der Tagespflege und der Kurzzeitpflege, dass offenbar nicht alle Leistungsbereiche bekannt oder wohnortnah zugänglich sind.

Die neueren Reformen zur Pflegeversicherung verfolgen das Ziel, die familiäre Versorgung zu stärken. Damit verbunden sind die Aufstockung von zusätzlichen Betreuungsleistungen für Menschen mit einer Demenz (von 1200 Euro auf 2400 Euro im Jahr) und die Ausweitung eines Leistungsanspruchs für Menschen mit Demenz, die nicht pflegebedürftig im Sinne des SGB XI eingestuft sind (225 Euro für Pflegesachleistungen oder 120 Euro Pflegegeld im Monat). Daneben wurde eine Flexibilisierung der ambulanten Leistungen eingeführt, die es Familien und Betroffenen ermöglicht, stärker als bislang zu entscheiden, welche Leistungen durch ambulante Pflegedienste erbracht werden sollen. Für Angehörige wurde die Fortzahlung des Pflegegeldes auch bei Nutzung von Kurzzeit- oder Verhinderungspflege in einer Einrichtung angepasst.

Darüber hinaus soll mit einem Anreizsystem der Aufbau einer privaten Pflegeversicherung vorangetrieben werden. Als weitere Bemühungen können flankierende Maßnahmen ausgemacht werden wie die Förderung von alternativen Wohnprojekten (etwa Demenz-WGs oder Mehrgenerationenhäuser) oder die Einführung einer Familienpflegezeit, die es Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Betrieben ermöglichen soll, eine häusliche Pflege zu organisieren und auch selbst durchzuführen. Viele dieser Ansätze führen in die richtige Richtung, wenn sie Angehörige entlasten oder aber neue Konzepte befördern.

Handlungsbedarfe und -ansätze

Mit den bisherigen Reformen wurden auch einfache Leistungsausweitungen verbunden oder neue Leistungen zu den bestehenden zugefügt. Dabei muss kritisch diskutiert werden, ob eine einfache finanzielle Förderung auch die Bedarfe der betroffenen Menschen und ihrer Angehörigen trifft. Ungelöst bleibt bislang das Problem des bürokratischen Zugangs für Maßnahmen sowie die fehlende Steuerung durch das komplexe Versorgungssystem. Mit jeder neuen Leistung erhöht sich die Komplexität und damit die Schwierigkeit für Betroffene, ihren Rechtsanspruch auch ohne umfassende Hilfe von außen geltend machen zu können.

Vor allem zentrieren sich die Maßnahmen auf die Verbesserung der Versorgung in der Familie. Dies ist nicht unkritisch, denn die familiäre Versorgung wird vor allem von Frauen geleistet. Hier stehen sich konkurrierende Ziele gegenüber, denn mit der Förderung wird gleichzeitig einer Steigerung der Frauenerwerbstätigkeit entgegengewirkt. Zudem wird das gesellschaftliche Problem der Versorgung von Hilfe- und Pflegebedarf zurück an die Familien delegiert und somit "privatisiert".

In skandinavischen Ländern besteht ein stärker serviceorientiertes System: Hilfen greifen früher und scheinen besser koordiniert. Die Leistungen der Pflegeversicherung in Deutschland werden bislang vor allem aus Beitragszahlungen finanziert. Ein Ausbau in Richtung eines serviceorientierten Pflegewesens hätte Konsequenzen: Entweder müssten die Beitragssätze der Pflegeversicherung deutlicher steigen als bislang, oder öffentliche Gelder müssten eingesetzt werden.

Bislang wird keine schlüssige Lösung für die Bearbeitung der oben skizzierten Hilfebedarfe sichtbar. Der größte Bedarf entsteht unterhalb der Schwelle der Pflegebedürftigkeit. Hier existieren bislang kaum strukturierte Ansätze, die wohnortnah Leistungen vermitteln oder koordinieren (wie Begleitung, Spaziergänge, kleine Reparaturen). Auch bei diesem Aspekt wird stärker mit dem Engagement der Familie, der Nachbarschaft oder des Ehrenamtes gerechnet. Als ein maßgeblicher Kritikpunkt an den bisherigen Anpassungen kann beschrieben werden, dass der gesetzlich gültige Pflegebedürftigkeitsbegriff insbesondere körperbezogene Problematiken in den Vordergrund des Leistungsanspruchs stellt. Teilhabe und Betreuungsleistungen werden so nicht hinreichend fokussiert und in der Folge auch nicht gefördert.

Seit 2008 liegt neben einem definierten Katalog zu einem erweiterten Pflegebedürftigkeitsbegriff auch ein Instrument zur Begutachtung vor. Hier sollen die folgenden Aspekte Berücksichtigung erfahren und zum Leistungsanspruch führen: 1. Mobilität, 2. kognitive und kommunikative Fähigkeiten, 3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, 4. Selbstversorgung, 5. Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen, 6. Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte, 7. außerhäusliche Aktivitäten und 8. Haushaltsführung. Der Pflegebedürftigkeitsbegriff wurde jedoch bislang nicht umgesetzt. Dies scheint jedoch eine wichtige Voraussetzung dafür zu sein, die notwendigen Anpassungen im Versorgungsbereich zu gestalten.

Im Folgenden werden Kernelemente einer Anpassung des Pflegesektors benannt. Eine umfassende Diskussion aller Punkte kann nicht erfolgen, da es sich um Bündelungen von komplexen und ineinandergreifenden Maßnahmen handelt. In zahlreichen Stellungnahmen und Empfehlungen wurden sie beschrieben und in Projekten bereits erfolgreich erprobt. Die Herausforderungen an eine Anpassung des Pflegesektors heißen: Beratung und Steuerung durch Case- und Care-Management für Betroffene, Implementierung pflegepräventiver Ansätze durch zugehende Beratungsangebote und Hausbesuche älterer Senioren, Aufnahme von "Programmleistungen" mit umfassenden Versorgungsansätzen in das SGB XI (etwa Aufnahme einer Programmleistung "Demenz"), Verbesserung der kommunalen Vernetzung der pflegerischen Infrastruktur und des Zugangs zu Leistungen, Stärkung der Rehabilitation für Hilfe- und Pflegebedürftige, Umsetzung flexibler Budgets für Hilfe- und Pflegebedürftige, Ausbau von Tagesbetreuungen, Nachtversorgung und Kurzzeitpflege, Aufbau und Förderung niedrigschwelliger Hilfsangebote und quartiersbezogener Hilfsnetzwerke, Ausbau von neuen Wohnformen und neuer Versorgungskonzepte, Entbürokratisierung bei Genehmigungs-, Prüf- und Überwachungsverfahren von Dienstleistern und der Dokumentationspflichten professionell Pflegender, Förderung der Pflegebildung, Finanzierung der Umschulung und Schaffung von Förderangeboten lernschwächerer Schüler in der Pflegeausbildung, Umsetzung modularer Ausbildungskonzepte zur arbeitsbegleitenden Qualifizierung oder Stärkung des Ehrenamts mit Durchlässigkeit in den Teilerwerb.

Wesentliche Entwicklungspotenziale ergeben sich beispielsweise auf dem Feld der Verknüpfung und Vernetzung von Bedarfen und Nachfragen auf der Seite der Haushalte mit den Strukturen und Angeboten auf der Seite der Anbieter. In der Fachdebatte wird dies unter den Themen Case- und Care-Management diskutiert. Das Case-Management bezieht sich auf die Erfassung und Bearbeitung individueller Bedarfs- und Problemlagen im Sinne einer Einzelfallunterstützung und -steuerung. So finden qualifizierte Beratungen in wohnortnahen Beratungszentren oder in der Häuslichkeit statt. Die Bedarfsabschätzung erfolgt etwa in Dänemark nach einer Rückmeldung von Seniorenhaushalten im Rahmen einer jährlich wiederholten schriftlichen Anfrage. So gewinnen die kommunalen Case-Manager einen guten Überblick über die Versorgungsschwierigkeiten vor Ort.

Das Care-Management bezieht sich auf die Erfassung, Planung und Steuerung bedarfsgerechter und wohnortnaher Angebotsstrukturen. Die Kommunen binden weitere Akteure wie Einrichtungsträger, Wohnungswirtschaft, Leistungsanbieter, Kirchengemeinden, Vereine und Initiativen ein und diskutieren mit ihnen gemeinsam Stärken und Defizite in der Angebotsstruktur der Quartiere. Diese werden in den nächsten Schritten geschlossen. So können Wohnraumplanungen, neue Konzepte der Hilfsangebote oder auch kommunal vernetzte Ehrenamtsbörsen entstehen und die Arbeit aufnehmen. Durch die Rückkopplung der neuen Angebote an die Case-Manager kann in der Beratung zusehends auf passende, wohnortnahe Angebotsstrukturen, die durch den Care-Management-Prozess angestoßen wurden, zurückgegriffen werden.

Wichtig sind dabei die übergreifende Auswertung der gewonnenen Daten und Erkenntnisse, ihre systematische Verknüpfung und die Fortschreibung dieser Sozialraumentwicklung. So trivial dies klingt, so selten ist dies in Deutschland jedoch der Fall. Meist agieren die Akteure unabhängig voneinander, und es wird oftmals nicht miteinander kommuniziert, da man sich als Konkurrenten auf einem Markt begegnet.

Das Beispiel des kommunal initiierten Projektes "Pflegeoptimierung Siegen-Wittgenstein" hat jedoch gezeigt, dass hier nicht über Utopien gesprochen wird. Zugleich ist aber auch sichtbar geworden, dass es eines Kraftaktes in den Kommunen bedarf, diese Ideen auch umzusetzen. Dies ist ein Beispiel dafür, wie auf der Ebene der Vernetzung und der Verschränkung der Leistungen wichtige Impulse gesetzt werden können, um den Pflegesektor an zukünftige Aufgaben anzupassen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Ulla Walter et al., Alt und gesund?, Wiesbaden 2006.

  2. Vgl. Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.), Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2010.

  3. Vgl. Externer Link: http://www.gbe-bund.de/glossar/Pflegestatistik.html (12.12.2012).

  4. Vgl. Baldo Blinkert/Thomas Klie, Soziale Ungleichheit und Pflege, in: APuZ, (2008) 12–13, S. 25–33; Ullrich Bauer/Andreas Büscher, Soziale Ungleichheit und Pflege, in: Pflege & Gesellschaft, 12 (2007) 4, S. 304–317.

  5. Vgl. Ulrich Schneekloth/Hans Werner Wahl (Hrsg.), Möglichkeiten und Grenzen selbstständiger Lebensführung in stationären Einrichtungen (MuG IV), Berlin 2007.

  6. Vgl. Anne-Christin Kunstmann, Familiale Verbundenheit und Gerechtigkeit, Wiesbaden 2010.

  7. Vgl. Barmer GEK (Hrsg.), Pflegereport 2011, St. Augustin 2011.

  8. Vgl. Anja Afentakis/Tobias Maier, Projektionen des Personalbedarfs und -angebotes in Pflegeberufen bis 2025, in: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Wirtschaft und Statistik 11, Wiesbaden 2010, S. 990–1002; Dennis A. Ostwald et al., Fachkräftemangel, Frankfurt/M. 2010; Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Themenreport "Pflege 2030", Gütersloh 2012.

  9. Vgl. Ulrich Schneekloth/Hans Werner Wahl (Hrsg.), Möglichkeiten und Grenzen selbstständiger Lebensführung in privaten Haushalten (MuG III), Berlin 2005.

  10. Vgl. Andrea Neuhaus/Michael Isfort/Frank Weidner, Situation und Bedarfe von Familien mit mittel- und osteuropäischen Haushaltshilfen (moH), Köln 2009.

  11. Vgl. Zeit Online vom 5.2.2008: Externer Link: http://www.zeit.de/2007/48/Pflegekasten (12.12.2012).

  12. Vgl. Margret Steffen, "Grauer Pflegemarkt" und Beschäftigung ausländischer Pflegehilfskräfte, 2011: Externer Link: http://www.epsu.org/IMG/pdf/ver.di-Broschure-Grauer-Arbeitsmarkt-2011.pdf (12.12.2012).

  13. Vgl. Martha Meyer, Pflegende Angehörige in Deutschland, Hamburg 2006.

  14. Vgl. Cornelia Heintze, Auf der Highroad – der skandinavische Weg zu einem zeitgemäßen Pflegesystem, Berlin 2012: Externer Link: http://library.fes.de/pdf-files/wiso/09243-20120730.pdf (12.12.2012).

  15. Vgl. Klaus Wingenfeld et al., Das neue Begutachtungsassessment zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit, 2008, online: Externer Link: http://www.aok-gesundheitspartner.de/imperia/md/gpp/bund/pflege/mediathek/pflege_begutacht_bericht.pdf (12.12.2012).

  16. Vgl. Deutscher Verein für Öffentliche und Private Fürsorge (Hrsg.), Empfehlungen für eine kommunale Infrastruktur für ältere und pflegebedürftige Menschen, Berlin 2011; Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen Rheinland-Pfalz (Hrsg.), Pflege und Unterstützung im Wohnumfeld, Mainz 2009.

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Dr. rer. medic., geb. 1970; Professor für Pflegewissenschaft und Versorgungsforschung, Katholische Hochschule NRW, Wörthstraße 10, 50668 Köln. E-Mail Link: m.isfort@katho-nrw.de