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Selbstorganisation und Selbsthilfe älterer Migranten | Alternde Gesellschaft | bpb.de

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Selbstorganisation und Selbsthilfe älterer Migranten

Monika Alisch Michael May

/ 13 Minuten zu lesen

Das Jahr 2011 wurde auf Beschluss des Europäischen Rates zum "Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit" ausgerufen. Das Jahr 2012 schloss als "Europäisches Jahr des aktiven Alterns und der generationenübergreifenden Solidarität" direkt an. Kaum etwas unterstreicht die politische Bedeutung der Stützung und Initiierung von Selbstorganisation, Selbsthilfe und freiwilligen Engagements – nicht zuletzt von älteren Menschen – deutlicher. Es entstanden eine Reihe von Studien – unter anderem der für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSF) verfasste "Bericht zur Lage und zu den Perspektiven des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland". Hierin kamen die Autorinnen und Autoren zum Befund, dass "der Anteil Engagierter an der Wohnbevölkerung in Deutschland (…) je nach Untersuchung erheblich" variiert. So lag die Engagementquote der Altersgruppe ab 50 Jahren in Deutschland "laut Freiwilligensurvey 2004 bei 32,9 Prozent. Hinsichtlich der gleichen Altersgruppe ergab für 2006 der European Social Survey (ESS) 24,9 Prozent und der Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE) 12,9 Prozent."

Diese Diskrepanzen werden zum einen mit den unterschiedlichen Stichproben und Erhebungsmethoden, zum anderen mit der Vielfalt der jeweils zugrunde gelegten Konzepte von "freiwilligem Engagement" und deren Operationalisierung erklärt. Dies gilt vor allem für die Gruppe der älteren Migrantinnen und Migranten sowie bestimmte Formen ihres Engagements, die bisher kaum erfasst wurden. So gesteht der Abschlussbericht mit Blick auf die Ergebnisse der zweiten Welle des Deutschen Alterssurveys (DEAS) (einer bundesweiten repräsentativen Befragung von Personen im Alter von 40 bis 85 Jahren) ein, dass – obwohl dort eine eigene "Ausländerstichprobe" gezogen wurde – es nicht nur durch Telefoninterviews zu einer Selektion hinsichtlich der Sprachkompetenz gekommen sei, sondern "das Erhebungsinstrument primär auf die Bedürfnisse der deutschen Bevölkerung zugeschnitten" gewesen sei. Ähnlich räumt auch der Freiwilligensurvey von 2009 ein, das Engagement von Migrantinnen und Migranten "durch das methodische Design nur ausschnittweise" abbilden zu können.

Vor diesem Hintergrund haben wir im Praxisforschungsprojekt "Ältere Migrant(inn)en im Quartier: Stützung und Initiierung von Selbsthilfe und Selbstorganisation" andere methodische Wege gewählt. In vier nach städtebaulicher Struktur sowie Zusammensetzung der migrantischen Bevölkerung verschiedenen Untersuchungsquartieren wurden jeweils Fokusgruppen von 20 älteren Migrantinnen und Migranten gebildet. In diesen Gruppen sollte die Zielgruppe quartiersbezogen nach Ethnien, Religionszugehörigkeit, Lebenslagen und Lebensweisen repräsentiert sein. Mit qualitativen Verfahren wurden deren alltägliche Formen der Selbstorganisation und Selbsthilfe sowie der Raumaneignung ermittelt. Im Hinblick auf die eingangs angesprochene Stichprobenproblematik scheint nach Ergebnissen dieser quantitativen Erhebung (untersucht wurden 801 Personen) zumindest für die im vorliegenden Fall untersuchte Gruppe älterer Zuwanderer weniger eine klassische Repräsentativität von Bedeutung. Vielmehr variierten die Quoten zu Formen der Selbsthilfe und Selbstorganisation sowie des Engagements und der Engagementbereitschaft in den Untersuchungsorten stark. Aufgrund der hohen Standardabweichung wäre es statistisch fragwürdig gewesen, hier überhaupt mit Mittelwerten zu operieren. Zudem zeigten sich in nahezu allen untersuchten Dimensionen die stärksten statistischen Zusammenhänge zum Quartier. Diese waren in aller Regel sogar stärker ausgeprägt als die zu Geschlecht, Bildung oder zum Herkunftsland. Gerade die nur bei einigen, sehr spezifischen Dimensionen gefundenen Zusammenhänge zum Herkunftsland werten wir als starken Beleg dafür, dass die anderen Untersuchungsbefunde kein Spezifikum der ohnehin sehr heterogenen Gruppe der älteren Zuwanderer darstellen. So kann davon ausgegangen werden, dass sich in einem hoch verdichteten innerstädtischen Wohnquartier mit hoher Bevölkerungsfluktuation auch bei der autochthonen deutschen Bevölkerung beispielsweise kaum stabile Strukturen nachbarschaftlicher Unterstützungsnetzwerke ausbilden. Zudem zeigten sich Belege, dass dort auch bei Autochthonen ein ehrenamtliches Vereinsengagement ähnlich schwach ausgebildet ist, wie bei den von uns befragten Zugewanderten.

Unterschiede in den Engagementformen

Um zu überprüfen, ob sich das Engagement von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund unterscheidet, wurden beide Gruppen unter Berücksichtigung "sozialstrukturelle(r) Merkmale, zu denen das Bildungsniveau, das Haushaltseinkommen und der Tätigkeitsstatus der Befragten zählen", verglichen. Wenn dabei eine deutlich geringere Chance auf gesellschaftliche Beteiligung von Migrantinnen und Migranten der ersten Generation konstatiert wurde, korrespondiert dies mit Berechnungen auf der Grundlage der Basisstichprobe 2008 des DEAS, wonach Menschen mit eigener Migrationserfahrung sich deutlich weniger ehrenamtlich in Vereinen engagieren (7,2 Prozent) als autochthone Deutsche (20,5 Prozent). Auf der anderen Seite zeigen diese Befunde aber auch, dass sich in Deutschland geborene Menschen mit Migrationshintergrund, die im Freiwilligensurvey nicht als Migrantinnen und Migranten erfasst wurden, mit 24,5 Prozent sehr viel stärker ehrenamtlich in Vereinen engagieren als autochthone Deutsche.

Bei diesen Befunden spielen aber vermutlich Altersverschiebungen ebenfalls eine Rolle, sind doch in Deutschland geborene Menschen mit Migrationshintergrund in der Altersgruppe der Älteren zwischen 65 und 74 Jahren, erst Recht aber bei den über 75-jährigen Hochbetagten sehr selten vertreten. Zudem sinkt nach Daten des Freiwilligensurveys allgemein "das organisationsgebundene Engagement bei den Älteren und Hochbetagten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung und zu den jungen Alten", während das informelle Engagement noch auf einem beachtlich hohen Niveau verbleibt. So zeigen sich die von AMIQUS befragten älteren Zugewanderten mit jeweils 80 Prozent sehr stark nicht nur in familiäre, sondern auch in nachbarschaftliche Hilfsnetzwerke eingebunden. Für autochthone Deutsche kaum fassbar, erhalten in einem Untersuchungsquartier mit zwei stark ausgeprägten ethnischen Communities 80 Prozent der Befragten Unterstützung aus dem Freundes- und Bekanntenkreis bei der Sorge um Kranke in der Familie und 52 Prozent Hilfe bei eigener Krankheit. Dies entspricht in etwa der Unterstützung, die sie auch aus der eigenen Familie durch Kinder und Ehepartner erhalten. In allen anderen Quartieren ist die nachbarschaftliche Hilfe, die sich auch auf Haushalt und Besorgungen bezieht, deutlich weniger ausgeprägt – am geringsten im innerstädtischen, von starker Fluktuation geprägten Untersuchungsquartier.

Keineswegs sind jedoch die von uns Befragten nur Empfänger oder Empfängerin solcher informeller Hilfen, sondern sind darin auch selbst engagiert. Dabei zeigt sich ihr nachbarschaftliches Engagement für die eigene ethnische Community mit 67 Prozent etwas deutlicher ausgeprägt als für "herkunftskulturell Andere" mit 61 Prozent. Ines Wickenheiser konstatiert mit zunehmendem Alter einen Rückgang informeller Hilfen von 28,1 Prozent bei 60- bis 70-Jährigen über 17,7 Prozent bei 70- bis 80-Jährigen bis schließlich 8,4 Prozent bei über 80-Jährigen. Und während sich nach Wickenheisers Berechnungen nur insgesamt 18,1 Prozent in der (Enkel-)Kindbetreuung engagieren, sind es bei den von uns befragten älteren Zugewanderten 62 Prozent, die sich über solche Tätigkeiten wie Abholen, Kochen, Betreuen noch stark um ihre Kinder und Enkel kümmern. Wobei solche Hilfeformen bei Angehörigen von Handwerkstraditionen mit 70 Prozent und bei Frauen mit 69 Prozent besonders stark ausgeprägt sind.

Sowohl die Ergebnisse des Alters- als auch des Freiwilligensurveys verweisen darauf, dass "höher Gebildete, die oft auch einen höheren Sozialstatus haben, (…) durch ihre (oft mehrfachen) Mitgliedschaften und ihre vielen Leitungsfunktionen (…) die Organisationslandschaft des dritten Sektors in besonderem Maße" tragen. Dabei sind die Hochgebildeten mit 43 Prozent sogar gegenüber denen mit mittlerer Bildung deutlich überrepräsentiert, die sich mit 35 Prozent um nur drei Prozent von denen mit einfacher Bildung abheben. Darüber hinaus weisen die DEAS-Daten einen engen Zusammenhang zwischen einem ehrenamtlichen Engagement und der Nutzung außerhäuslicher Bildungsangebote nach. Wie jedoch viele bildungsbürgerlich geplante Angebote der Erwachsenen- und Altenbildung Menschen nicht erreichen, die sich ihre Kompetenzen ohne oder mit geringer formaler Bildung angeeignet haben, grenzen auch die formalisierten Verfahren und legalistischen Rationalitätsprinzipien von Vereinen diese Menschen aus. Denn in der Organisation ihrer alltäglichen Reproduktionstätigkeiten setzen diese vor dem Hintergrund ihres soziokulturellen Erfahrungshintergrundes sehr viel stärker auf Formen wechselseitiger Selbsthilfe im Medium von Solidarität und Vertrauen: Diese werden auf der Grundlage persönlicher Pietätsverpflichtungen erbracht, in Verbindung mit den sich aus diesen zwischenmenschlichen Beziehungen ergebenden Regulierungsformen eines Bedarfsausgleichs. Wenn heute Angehörige gebildeter Milieus "Tauschringe" zu etablieren versuchen, vergessen diese, dass in subsistenz- und landwirtschaftlich ebenso wie in handwerklich geprägten Milieus, aus dem viele ältere Zugewanderte der ersten Generation stammen, eine ähnliche Form wechselseitigen Austausches verschiedenster Arbeitsleistungen und Güter eine lange Tradition hat.

Dies betrifft aber nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund, sondern auch autochthone Deutsche, die aus diesen Milieus stammen. Darüber hinaus konnte auch die individuelle und familiäre Reproduktion in der ehemaligen DDR zu einem großen Teil nur über solche Netze wechselseitigen Austauschs von verschiedensten Arbeitsleistungen und Gütern in befriedigender Weise sichergestellt werden. Die auch 2009 noch deutlich hinter den westdeutschen Bundesländern zurückbleibende Engagementquote in den ostdeutschen Bundesländern lässt sich vermutlich damit erklären, dass es dort durch die Erfahrungen der DDR eine große Skepsis gegenüber formalisierten Organisationsformen gibt.

Wenn gefordert wird, dass "Engagementpolitik und Organisationen" sich "heute vermehrt darum bemühen (müssen), mehr Menschen aus einfachen Verhältnissen (…) für die Mitgliedschaft in gemeinnützigen Organisationen und für die Teilnahme am freiwilligen Engagement zu gewinnen", und dabei in einer Fußnote Menschen mit Migrationshintergrund besonders hervorgehoben werden, übersehen die Autoren, dass in dieser Weise nicht allein "Mitgliedsbeiträge für sozial Schwache schon oft eine kaum zu überwindende Hürde" darstellen. Selbst wenn gemutmaßt wird, dass möglicherweise "Sprachkenntnisse, geschlechtsspezifische Rollenvorstellungen, geringere Gelegenheitsstrukturen sowie Benachteiligungserfahrungen eine Rolle" spielen könnten, wird nur ein Teil der Ausschlussmechanismen benannt, auf welche wir im Rahmen des AMIQUS-Projekts gestoßen sind.

Engagementbereitschaften

Die Angaben aus den drei Erhebungswellen des Freiwilligensurveys zeigen, dass zwar die Bereitschaft zur Ausdehnung des Engagements in allen Altersgruppen kontinuierlich gestiegen ist, der Zeitaufwand für das Engagement zwischen den drei Erhebungszeitpunkten sich jedoch kaum verändert hat, sodass sich diese Bereitschaft offensichtlich nicht in die Praxis umgesetzt hat. Diese Befunde des Freiwilligensurveys korrelieren mit Ergebnissen der AMIQUS-Untersuchung, wonach der Anteil der bisher Nichtengagierten, die eine Engagementbereitschaft eindeutig bejahten, zwar über die Jahre kaum zugenommen hat (junge Ältere: 16 Prozent in 1999/19 Prozent in 2004/20 Prozent in 2009; Ältere: 6/7/10; Hochbetagte: 2/4/4). Allerdings ist die Bereitschaft jener, die zumindest "vielleicht dazu bereit" sind, in den vergangenen zehn Jahren stark gestiegen: am deutlichsten bei den jungen Alten von 24 Prozent über 32 Prozent auf 41 Prozent; gefolgt von den Älteren (13/23/27) bis zu den Hochbetagten, bei denen die Quoten mit 6/9/14 selbstverständlich deutlich geringer ausfallen. Sowohl die Befunde der standardisierten Befragung als auch unsere Erfahrungen mit den über die Zukunftswerkstätten initiierten und handlungsforschend begleiteten Projekten zeigen jedoch, dass es ein weit größeres Engagementpotenzial gibt, wenn an den konkreten Interessen der Menschen sowohl im Hinblick auf die Inhalte als auch die (Sozial-)Formen des Engagements angesetzt wird.

So signalisierten über 70 Prozent der im Rahmen des AMIQUS-Projekts Befragten ihre Bereitschaft, an einer "Vergemeinschaftung über nützliche Tätigkeiten an (halb-)öffentlichen Orten" mitzuwirken. Dieser Typus bündelt Interessen der älteren Befragten, die sich auf den Wunsch nach Orten beziehen, an denen man mit anderen zusammenarbeiten und reden kann, und konkretisierte sich in Ideen zu Werkstatt-, Garten-, Näh- und Kochprojekten. Im Unterschied zu den eher formalisierten Vereinsangeboten geht es hier um Orte als Gelegenheitsstrukturen, die über gemeinsames aktives Handeln von verschiedenen Bevölkerungsgruppen angeeignet werden können. Wie unsere Befragung zeigt, bildet sich in Untersuchungsquartieren, die solche halböffentlichen Orte bereits vorhalten, ein Typus von Netzwerken aus, den wir als "in spezieller peer-group und darüber vermittelt auch mit anderen vernetzt" bezeichnet haben. Fast die Hälfte der Befragten ist in diesen Quartieren in ein solches Netz eingebunden. Demzufolge eröffnet gerade das (gemeinsame) Engagement an solchen Orten den zunächst meist nach Geschlecht und Herkunftskultur recht homogenen Gruppen eine zwanglose Vernetzung mit anderen (Nutzer-)Gruppen.

Während im Freiwilligensurvey weit weniger als 20 Prozent angaben, sich sozial- und kulturell zu engagieren, signalisierte die Hälfte unserer Befragten ein Interesse, kulturell aktiv zu werden und etwa vier von zehn würden sich gern sozial im Stadtteil und/oder für die Interessen von Zugewanderten engagieren. Dabei zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zwischen einem sozialen Engagement für Zugewanderte und dem Stadtteil insgesamt. Auch in unserer Befragung waren es eher Zugewanderte mit höheren Bildungsabschlüssen, die eine besondere kulturbezogene Engagementbereitschaft äußerten und ihre im Herkunftsland erworbenen Kompetenzen, die in Deutschland oft nicht anerkannt wurden, jetzt für ein entsprechendes Engagement fruchtbar machen wollen. Sie waren es auch, die sich für kulturschaffende Initiativen wie einen Chor oder bildnerisches Gestalten engagiert haben oder als in Deutschland nicht anerkannte Medizinerinnen und Mediziner eine muttersprachliche Gesundheitsberatung initiierten.

Mittlere Bildungsabschlüsse dominierten hingegen bei den Interessen für ein soziales Engagement und im Hinblick auf die Interessen von Zugewanderten ebenso wie beim politischen Engagement. Für Letzteres haben ein Viertel der Befragten Interesse gezeigt. Es findet sich vor allem bei denjenigen, die schon Erfahrungen mit politischem Engagement in ihren Communities oder im Ausländerbeirat gesammelt haben, gewerkschaftlich engagiert waren, aber auch bei solchen, die sich erst nachträglich politisierten. Hier zeigt sich auch einer der wenigen in unserer Untersuchung gefundenen Zusammenhänge zum Herkunftsland: Zugewanderte aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion sind vor dem Hintergrund ihrer politischen Erfahrung mit nur elf Prozent nicht einmal halb so oft zu einem politischen Engagement bereit wie der Durchschnitt. Obwohl in der Befragung ebenfalls nicht einmal halb so viele Frauen wie Männer eine politische Engagementbereitschaft bekundeten, ist als einzig dezidiert politische Initiative von türkischen Frauen aus einer Zukunftswerkstatt heraus ein Projekt zur doppelten Staatsbürgerschaft gestartet worden. Sie engagieren sich damit vor allem für die Interessen ihrer Kinder und Enkel und unterstreichen damit die Befunde von Dathe, wonach das Engagement nicht nur im Sozial- und Gesundheitsbereich, sondern insbesondere für die Kinder (auch in Schulen und Kindergärten) – unabhängig vom Alter – noch immer eine hochgradig weibliche Angelegenheit ist. An allen Untersuchungsorten entstanden "Initiativen zur Schaffung von Frauenöffentlichkeit" in Form von Frauentreffs oder -cafés.

Nachhaltige Selbstorganisation

Wenn Dathe davon ausgeht, dass "neben der Initiative und der Motivation des Einzelnen das Vorhandensein materieller Ressourcen, verfügbare Zeit und eine Engagement fördernde soziale Infrastruktur" die wesentlichen Voraussetzungen für Engagement sind, ist für Menschen, die bisher kaum Gelegenheiten hatten, ihre Interessen zu artikulieren, und deren Formen der Selbsthilfe und Selbstorganisation im Alltag bisher weitgehend unsichtbar geblieben sind, die Liste der Voraussetzungen noch zu ergänzen.

So erscheint es nach unseren Erfahrungen wenig Erfolg versprechend, Menschen, die ihre alltägliche Reproduktion und die ihrer Familie bisher nur im Rahmen eines informellen Hilfsnetzwerkes auf Gegenseitigkeit gewährleisten konnten, für formellere Formen eines freiwilligen Engagements zu gewinnen. Hier kann es nur darum gehen, für diese bisher von Forschung und Politik übersehenen informellen Engagementformen eine Öffentlichkeit zu schaffen und sie zu unterstützen. Denn zumindest bei den von uns untersuchten älteren Zugewanderten sind diese Hilfsnetzwerke an ihre Grenzen gekommen, haben wir doch in dem Untersuchungsquartier mit der am stärksten ausgeprägten Nachbarschaftshilfe zugleich auch die höchsten Unterstützungsbedarfe vor allem bei der Pflege von Angehörigen festgestellt. Zudem fehlt gerade den älteren Zugewanderten der Zugang zu Ressourcen, die der öffentlichen Verwaltung unterliegen und deren Nutzung durch eine hohe Formalisierung der Verfahren behindert wird. Im Hinblick darauf werden allenfalls spezielle Beratungssysteme zu etablieren versucht (wie etwa Lotsensysteme, Hilfen bei Behördengängen und dem Ausfüllen von Formularen). Auch bei diesen Beratungsressourcen stellt sich allerdings das Problem, wie ältere Migrantinnen und Migranten zu diesen Angeboten Zugang finden, liegt es doch letztlich in ihrer Verantwortung, um solche Hilfen für die Hilfen zu ersuchen.

Statt entsprechende Orte als Gelegenheitsstrukturen, die über gemeinsames aktives Handeln von verschiedenen Bevölkerungsgruppen angeeignet werden können, als Infrastruktur öffentlich zur Verfügung zu stellen, erfolgt eine Finanzierung professioneller Engagementförderung sowie von Betätigungsangeboten aufgrund sinkender kommunaler Finanzmittel und zunehmend zentralistischer Steuerungsversuche heute stark über eine Projektförderung. Dies setzt die in solchen Projekten hauptamtlich Tätigen unter Legitimationszwang und führte teilweise soweit, dass Initiativen der älteren Migrantinnen und Migranten nicht nur so umdefiniert werden mussten, dass sie in die entsprechende Projektförderung passten, sondern dass sie gleich ganz als Leistung der Professionellen ausgegeben wurden.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die in professionellen Diskursen zumeist als Empowerment diskutierte Aufgabe, solche auf informellen Engagementformen basierende Unterstützungsnetzwerke mit dem professionellen Hilfesystem zu vermitteln, ohne dass die in den entsprechenden Netzwerken Engagierten ihrer Eigeninitiative und Selbstbestimmung in praktischer Solidarität enteignet werden. Auf der anderen Seite zeigen unsere Erfahrungen, dass gerade bei sozio-kulturell sehr heterogenen Gruppen eine professionelle Moderation notwendig ist, um spontane Selbsthilfen in Formen demokratischer Selbstorganisation zu überführen. Sie sollte zwar nicht die Spontaneität solcher Selbstregulierung durch allzu formalisierte Entscheidungsabläufe blockieren. Für den Umgang mit Konflikten gilt es jedoch, gemeinsame Regeln zu erarbeiten. Und ebenso sind misslingende Selbstregulierungen mithilfe einer angemessenen professionellen Unterstützung oder Mediation in einer Weise aufzuarbeiten, dass niemand ausgegrenzt wird.

Strukturell betrachtet scheint die Einrichtung kommunaler Ressourcen- oder Quartierfonds, über die jene Initiativen selbst verfügen können, die sich um solche Mittel bewerben, ein wichtiges Mittel zur demokratischen Engagementförderung. Denn wenn solche Initiativen selbst einen Modus der Verteilung finden müssen, können sie sich in der Diskussion nicht allein darauf beschränken, ihr spezifisches Eigeninteresse zu vertreten. Vielmehr müssen sie sich dabei auf ein "Gemeinwohl" beziehen, das durch diesen Prozess politisch an Konturen gewinnt.

Dr. phil., geb. 1963; Professur im Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Fulda, Marquardstraße 35, 36039 Fulda. E-Mail Link: monika.alisch@sw.hs-fulda.de

Dr. phil., geb. 1954; Professor an der Hochschule RheinMain, Kurt-Schumacher-Ring 18, 65197 Wiesbaden. E-Mail Link: michael.may@hs-rm.de