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Die Kluft. Was Deutschland teilt | Gesellschaftliche Zusammenhänge | bpb.de

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Die Kluft. Was Deutschland teilt

Julia Friedrichs

/ 12 Minuten zu lesen

Man mag es kaum mehr schreiben, so oft sind die Metaphern, welche die wachsende Ungleichheit in diesem Land bebildern, zuletzt bemüht worden: Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander. Die Kluft zwischen denen, die viel haben, und denen, die am Rande stehen, klafft tief. Die Zahlen zu diesen Wortbildern lauten so: Das oberste Zehntel der Bevölkerung besitzt immer mehr, zuletzt 53 Prozent des gesamten Nettovermögens. Die untere Hälfte der Haushalte dagegen hat nicht mehr als ein Prozent. Während die Löhne in den oberen Einkommensgruppen in den vergangenen zehn Jahren satt anstiegen, sind sie am unteren Ende inflationsbereinigt gesunken. Auch wenn neueste Zahlen darauf hindeuten, dass im vergangenen Jahr die Niedriglöhner erstmals wieder Boden gut machen konnten. Über vier Millionen Menschen arbeiteten im Jahr 2010 für einen Bruttolohn von unter sieben Euro in der Stunde. Wer einmal arm ist, der hat zunehmend Schwierigkeiten aufzusteigen: 65 Prozent der Haushalte im untersten Einkommenssegment verbleiben dort auf Dauer. Noch bis in die späten 1980er Jahre war die deutsche Gesellschaft wesentlich durchlässiger.

19 Prozent der deutschen Teenager haben im Lesen, Schreiben und Rechnen extreme Schwierigkeiten, in Finnland zum Beispiel fallen nur acht Prozent der Schüler in diese "Risikogruppe". Es sind vor allem die armen Kinder, an denen die Schule scheitert. Nur in drei weiteren Ländern der OECD hängt der Erfolg der Schüler mehr vom Elternhaus ab als in Deutschland.

"Die Lebenswelten von Unter- und Oberschicht fallen immer stärker auseinander", sagte Renate Köcher, die Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach dem "Spiegel". Diese Einschätzung deckt sich offensichtlich mit dem, was die allermeisten Deutschen in ihrem Alltag erleben. In der Langzeitstudie "Deutsche Zustände" hat das Team des Bielefelder Professors Wilhelm Heitmeyer versucht, die Empfindungen der Menschen in Zahlen zu fassen. Ende 2011 erschien der zehnte Band der Reihe. Darin beschreiben 43 Prozent der Menschen ihr Leben als ständigen Kampf, 49 Prozent glauben, dass sie ihren Lebensstandard nicht halten können, 71 Prozent sagen, dass die Gesellschaft immer weiter auseinanderdriftet, und 62 Prozent befürchten, dass es keine Mitte mehr gibt, sondern nur noch oben und unten. Zahlen, die Menschen vermessen, und Metaphern, die ihre Situation in eine griffige Formel bringen, sind notwendige Werkzeuge in der politischen Debatte. Ihr Nachteil ist, dass sie oft so abstrakt sind, dass die Leben hinter diesen Begriffen und Zahlen verschwinden.

Seit acht Jahren recherchiere ich für Dokumentarfilme, Bücher und Magazinbeiträge an beiden Enden der Gesellschaft: ganz oben und ganz unten. Ich war bei der Elite und bei denen, die manche höflich das abgehängte Prekariat nennen, manche die Ausgeschlossenen, manche schlicht Unterschicht – Familien mit wenig Geld und wenig Chancen. Von diesen Enden der Gesellschaft und einer Konsequenz für das Zusammenleben aller soll in diesem Text erzählt werden.

Szene Eins.

Die Berliner Vorstadt in Potsdam. Was nach Problemkiez klingt, ist die neue Nobelmeile am Rand der Hauptstadt. Hier, am Ufer des Heiligen Sees, wohnen Prominente und Superreiche, und hier sollen ihre Kinder auch angemessen betreut werden. Deshalb haben Privatleute das ehemalige Standesamt der Stadt gepachtet. Sie haben 700.000 Euro investiert, damit aus dem Bau aus dem Jahr 1800 die Villa Ritz wird: eine Fünf-Sterne-Kita für bis zu 50 Kinder. 980 Euro soll die Betreuung pro Monat kosten. Allerdings ist das der Basissatz. Raymond Wagner, der Geschäftsführer der Villa Ritz, führte mich durch das Gebäude, als der Kindergarten noch eine Baustelle war. "Fast tausend Euro sind ja schon ziemlich viel", sagte ich. Man konkurriere eben um die Eltern, die sich auch eine Kinderfrau leisten könnten, antwortete er. Außerdem müsse man den Preis in Relation zum Angebot sehen. Eine Erzieherin müsse sich hier um nur sechs Kinder kümmern. In der normalen Welt sind es je nach Bundesland bis zu 20. Außerdem lernen die Kindern in der Villa Englisch, bekommen mittags ein dreigängiges Vollwertmenü und morgens und abends ein Büffet. Das alles koste Geld. Dann zeigte mir Wagner den Wellnessbereich der Kita. Noch war dort, wo ein großes Aquarium entstehen sollte, ein Loch in der Wand. Die Sauna war aber schon gut zu erkennen. Im Nebenraum sollten bald Masseure und Physiotherapeuten arbeiten. Auch deren Leistungen würden die Eltern dazubuchen können. Genau wie Yoga, Ballett oder Meditation. "Manche Dreijährige haben schon Rückenprobleme", erklärte mir Wagner und sagte dann: "Uns wird ja stets der Vorwurf gemacht, wir zögen hier eine Geldelite heran", sagte er. "Aber uns geht es um eine Bildungselite, eine geistige Elite." Ihm wäre es auch lieber, wenn alle Kinder optimal gefördert würden, sagte Wagner am Ende meines Besuches. Aber das sei nicht bezahlbar. Gerecht sei das natürlich nicht. "Aber wo gibt es eine gerechte Welt?"

Szene Zwei.

Ein Mehrfamilienhaus in Bochum-Wattenscheid. Janina liegt festgeschnallt in einem Kindersitz, der für die Rückbank eines Autos konstruiert wurde, und schreit. Sie mag keine Hackfleischsoße mit Paprika. Sie ist erst elf Monate alt. Eigentlich könnte sie also schon längst im Sitzen essen. Aber einen Kinderstuhl haben ihre Eltern nicht. Jessica und Rene Weber besitzen ein Sofa, einen Couchtisch, einen Fernseher und eine Schrankwand, die sie auf Kredit gekauft haben. Im Schlafzimmer steht ein Bettchen für Janina, auf dem Boden liegt die Matratze ihrer Eltern. Außerdem gibt es in der Wohnung eben noch den Autositz für Janina, der meist auf dem Sofa steht. Denn ein Auto haben die Webers nicht. Jessica raucht. Rene auch. Janina rollt eine leere Sprudelflasche über den Boden.

Jessica und Rene müssen dringend zum Amt. Sie brauchen Geld. Erst in ein paar Tagen wird ihr nächstes Hartz-Geld überwiesen. So lange können sie aber nicht warten. "Wir haben fast gar nichts mehr", sagt Jessica. "Nur noch sieben Euro. Dann ist es vorbei." Auf keinen Fall soll es wieder so weit kommen wie vor ein paar Wochen. Auch da war das Geld weit vor Ende des Monats verbraucht. Sie gingen nicht zum Amt, sondern blieben einfach in der Wohnung. Dann gingen die Windeln für Janina aus. "Bei jedem Klingeln dachte ich, das Jugendamt steht vor der Tür und nimmt mir das Kind weg", sagt Jessica. Es klingelt. "Wo ist meine kleine Janne?", ruft ein Mann. Er meint Janina, seine Enkelin. Helmut Weber ist Renes Vater. Er lebt, im selben Haus, im Erdgeschoss. Auch er hat heute einen Termin beim Amt. Bevor es losgeht, setzt er sich kurz zur Familie seines Sohnes auf das Sofa. Sie rauchen noch eine. Jessica, Rene, Janina und Helmut Weber – drei Generationen. Sie alle leben von Hartz IV. Die älteren Kinder der Familie gehen zur Förderschule der Stadt. In den vergangenen Jahren hat kaum ein Kind, das diese Schule verließ, einen Ausbildungsplatz bekommen. Deshalb hat der Rektor der Schule beschlossen, die Kinder im Unterricht auf ein Leben mit Hartz IV vorzubereiten.

Szene Drei.

Eine etwas düstere Schulaula in Wuppertal. Michelle, Ivan und Florian haben alles versucht, um aus diesem Tag etwas Besonderes zu machen. Michelle hält eine Rose in der Hand. Florian hat sich ein Hemd angezogen, und Ivan war extra beim Friseur. Sie sind drei von 97 Schülern, die heute diese Hauptschule verlassen. Vorne steht die Schulband auf der Bühne. Ein Mädchen singt: "And you finally see the truth. That a hero lies in you." Auch in Dir steckt ein Held. Der Schmachtklassiker von Mariah Carey. Gerne wären auch Michelle, Ivan und Florian nach diesem Tag die Helden eines Erwachsenenlebens geworden – bescheidene Helden. Sie wünschen sich eine Lehre, eigenes Geld, das Recht auf eigene Entscheidungen. Michelle wollte Floristin werden. Fast 40 Bewerbungen hat sie geschrieben. Es kam eine Absage. "Die anderen haben gar nicht geantwortet", sagt Michelle.

Nach der Band steht nun Rektor Volker Zimmermann am Mikro. Gestern sei er noch einmal durch alle Klassen gegangen, sagt er, hätte alle 97 Schüler nach ihrer Zukunft befragt. "Das, was ich gehört habe, war eine Katastrophe", sagt er. Kein einziger der Schüler hatte eine feste Zusage für eine Lehrstelle. Das war im Sommer 2009, mitten in der Wirtschaftskrise, die auf die Finanzkrise folgte. Ein schlechter Sommer, um ins Leben zu starten. Michelle, Ivan und Florian machten danach Praktika, die das Arbeitsamt bezahlte, Bildungsmaßnahmen, die auch das Arbeitsamt bezahlte, gingen auf Schulen, die der Staat bezahlte. All das war besser, als nichts zu tun. Aber all das war nicht das, was sie wollten. Michelle hörte nach und nach auf, sich zu bewerben. Als ich sie das letzte Mal traf, war sie zu Hause ausgezogen und wohnte mit ihrem Freund in der Küche seines Bruders. "Meine Träume haben sich nicht erfüllt", sagt Michelle. Im Juni 2009 hatte sie große Lust auf das Leben, das nun kommen sollte. Anfang 2011 war sie gerade 18 geworden und sehr müde. Nach diesem Gespräch meldete sich Michelle erst einmal nicht mehr. Sie war es leid, immer über Niederlagen reden zu müssen.

Szene Vier.

Die Rheingoldhalle in Mainz. Noch eine Abschlussfeier. Bernd kommt in Smoking und Fliege auf mich zu. Die Mädchen, die ihn umgeben, tragen die Kleider lang. Manche sogar so lang, dass sie beim Gehen den Rock heben müssen. Bernd hatte mir von den Vorbereitungen für das Abschlussfest erzählt. Er hatte gesagt, dass sie zu sechst extra eine Art Firma, eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, gegründet hätten. Monatelang hätten sie geplant, gerechnet und verhandelt. Mit der Rheingoldhalle, die größte Halle der Stadt, mit dem Hilton-Hotel, das das Menü liefern soll, und mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Dort haben die Studenten eine ganzseitige Anzeige geschaltet, um der Wirtschaftswelt mitzuteilen, dass sie nun ihren Abschluss in der Tasche haben. Ein Fest in dieser Liga ist teuer: Die Eintrittskarte kostet 109 Euro, obwohl die Sponsoren Zehntausende Euro zuschossen. So viel Geld, um zu feiern, dass man ein dreijähriges Studium beendet hat. Die zukünftige Wirtschaftselite liebt es überdimensional.

Bernd und die anderen haben an der European Business School in der Nähe von Wiesbaden studiert: eine private Wirtschaftshochschule, an der vor allem der Nachwuchs fürs Banking und die Unternehmensberatungen ausgebildet wird. 10.000 Euro hat Bernds Studium pro Jahr gekostet. Die Uni wirbt damit, dass die Absolventen im ersten Job im Schnitt ein Einstiegsgehalt von 50.752 Euro erzielen. Da sind die gut 100 Euro für die Abschlussfeier wohl eher Peanuts.

Gerade stehen zwei Studentenvertreter auf der Bühne. "Die European Business School bildet Leader aus – nicht Manager", sagen sie. Und: "Wir stehen jetzt erhobenen Hauptes da." Der Starredner des Abends ist Klaus Evard, der Gründer der Hochschule. Er lobt seine Studenten, sagt, sie seien von jeher dynamisch, braun gebrannt, flexibel und belastbar. "Dieses Land wartet auf Sie", sagt er. "Dieses Land braucht Sie." Applaus brandet auf. Und noch ist Evard nicht fertig. "Sie sind zu denen gehörig, die dieses Land in zehn oder zwanzig Jahren bestimmen und regieren", sagt er. "Was immer Sie tun, tun Sie es mit dem Herzen, dann werden Sie es gut tun. Und wenn Sie es gut tun, können Sie gar nicht verhindern, dass Sie Geld verdienen. Und wenn Sie viel Gutes tun, werden Sie viel Geld verdienen."

Zwischenakt.

Oben, unten, unten, oben – so könnte die Reise noch lange weitergehen. Ich war in Eliteinternaten, die mehrere Zehntausend Euro pro Jahr kosten, in denen Schüler lernen, dass ein Netzwerk der Etablierten wahrscheinlich mehr wert ist als gute Noten. In Internaten, in denen manch 17-Jähriger voller Inbrunst sagt, dass Kinder von Arbeitslosen wohl etwas dümmer seien als andere und deshalb nicht an dieser Schule wären. In Internaten, in denen ich mich fragte, ob man diesen Jugendlichen, die in ihrer abgeschotteten Welt groß werden, böse sein kann, wenn sie solchen Quatsch reden. Ich besuchte Bildungsmaßnahmen, in denen 17-Jährige, die einen echten Job wollten, an Werkbänken geparkt wurden. In denen ihnen die Aufgabe gestellt wurde, aus einer Spanplatte mit einer Raspel einen Holzfisch zu formen. Eine Aufgabe, die so sehr nach Beschäftigungstherapie aussah und so wenig nach sinnvoller Arbeit. Und ich war ratlos, ob man denen, die in dieser abgeschotteten Welt landen, böse sein kann, wenn sie am nächsten Tag schwänzen. Ich traf Menschen, die 600 Bewerbungen geschrieben und fast jeden Mut verloren hatten, und die sagten, dass sie niemand wolle, weil sie nicht bereit seien für weniger als sieben oder acht Euro in der Stunde zu arbeiten. Und Menschen, die Stunden mit mir sprachen und trotzdem nicht erklären konnten, warum ihre Arbeit so wertvoll ist, dass sie dafür mehr als eine Million Euro verdienten. An jedem dieser Orte ließ sich ein Gespür dafür bekommen, was mit sozialer Spaltung wohl gemeint sein mag.

An jedem dieser Orte ließ sich aber auch etwas anderes erahnen: Die Konsequenz, welche die wachsende Ungleichheit für die große Mehrheit der Bevölkerung hat, die allenfalls indirekt davon betroffen ist. Eine Gesellschaft, deren oberes Zehntel in einer abgeschotteten Parallelwelt lebt, und deren unteres Zehntel dauerhaft ausgeschlossen ist, droht zu zerfallen. Inzwischen belegen die sozialwissenschaftlichen Kenndaten, dass die Mittelschicht nicht – wie noch vor wenigen Jahren oft berichtet wurde – abstürzt. Dennoch haben gerade die, die nicht von Armut betroffen sind, Angst davor. Und diese Angst prägt ihr Verhalten.

Der britische Historiker Tony Judt schrieb über unsere Gegenwart: "Wir sind in ein Zeitalter der Unsicherheiten eingetreten – wirtschaftliche Unsicherheit, physische Unsicherheit, politische Unsicherheit. Unsicherheit erzeugt Angst – Angst vor Veränderung, Angst vor dem sozialen Abstieg, Angst vor Fremden und einer fremden Welt – zerfrisst das wechselseitige Vertrauen, auf dem die Bürgergesellschaft beruht."

Eine ungleiche Gesellschaft, schreibt der Soziologe Richard Sennett, sei eine, die mehr und mehr einem Muster verfällt, dass er Tribalismus tauft. "Wir rotten uns unter Gleichen zusammen. Und schaufeln tiefe Gräben, um uns vor denen, die anders sind, zu schützen." Den Mitgliedern dieser Gesellschaften, fasst er zusammen, fehlt es zunehmend an einem gemeinsamen Schicksal.

Nur mit groben Strichen können an dieser Stelle die Reaktionen der "gesellschaftlichen Mitte" auf die zunehmende Ungleichheit beschrieben werden: Statusangst bringt viele Eltern dazu, das eigene Kind von allen unerwünschten Einflüssen fern zu halten. Oft sind diese unerwünschten Einflüsse Kinder, die Kevin oder Ali heißen. Angst lässt viele stillhalten, wenn sie merken, wie jede Effizienzschraube gedreht wird, wenn der Druck auf Schüler, auf Studenten, auf Arbeitnehmer permanent erhöht wird. Die Furcht um eine sichere Zukunft bringt etliche dazu, sich auf das "Machbare" zurückzuziehen, zu Dauer-Pragmatikern zu werden.

Für mein jüngstes Buch zum Thema "Ideale" habe ich 40 Schüler gebeten, mir ihre Lebensträume zu schreiben. Ich bekam Post von Hauptschülern aus Hessen sowie Realschüler und Gymnasiasten aus Düsseldorf. Das Paket, das ich zurückbekam, war eine Sammlung Papier gewordener Verzagtheit. Die Schüler erträumten sich für ihr Leben Sicherheit und Ordnung. Ein Haus, eine Job, eine stabile Familie. Ein Junge schrieb: "Mein Leben sieht momentan ziemlich trübe aus. Morgens früh aufstehen, zur Schule gehen, Sport machen, schlafen gehen. Ich stelle mir mein Leben mit 30 so vor: morgens früh aufstehen, zur Arbeit gehen, Sport machen, Zeit mit meiner Frau und meinen Kinder verbringen, schlafen gehen." Dies ist die nüchterne Zusammenfassung eines Lebenstraums, den fast alle teilen. Ein Mädchen aus Düsseldorf hat schon ganz konkrete Pläne: "Ich stelle mir mein Leben einigermaßen erfolgreich vor", schreibt sie. "Darunter verstehe ich ein gutes Abi und einen guten Job mit Festanstellung. Zu meinen Träumen gehört auch der Mann fürs Leben, den ich spätestens im Studium kennenlernen will, um noch einige Entwicklungsschritte seiner Person mitzuerleben." Teenager, die von einem ruhigen Leben träumen.

Diese Reaktion auf eine Umwelt, die viele als unsicher erleben, mag überraschen. Verstörend aber ist das, was die Jugendlichen auf die Frage antworteten, was sie in Deutschland ändern wollen. Dort wird das konkret, was viele Jugendforscher als neue "Sehnsucht nach Ordnung" beschreiben. Die Schüler, die mir schrieben, verachteten alle, die sie im Verdacht hatten, diese Ordnung zu stören: Fremde, Hartz-IV-Empfänger, Verbrecher. Die wollten sie ausweisen, antreiben und einsperren. "Ausländer, die sich nicht benehmen, abschieben", schreibt einer. Ein anderer will, dass das "Strafgesetz für Mörder und Vergewaltiger verhärtet wird", und außerdem endlich "den Solidaritätszuschlag abschaffen". Ein Mädchen möchte "die Hartz-IV-Regeln ändern. Es wird heutzutage viel zu viel Geld für Leute rausgeschmissen, die es nur vertrinken und verrauchen." So geht es seitenlang weiter.

Der Ton der Schüler ist hart und erbarmungslos. Es scheint, als zögen sie schon jetzt um ihre erhofften Traumhäuser hohe Mauern, um ihre Kinder und ihre kleines Glück zu schützen. Eindeutiger hätten die Thesen Tony Judts und Richard Sennetts kaum belegt werden können. Es scheint, als seien die Jüngsten bereit, mit der Kluft in diesem Land leben zu wollen. Keine gute Aussicht.

Geb. 1979; Autorin von Fernsehdokumentationen für den WDR, Reportagen für "Die Zeit" und Sachbüchern wie "Gestatten: Elite" (2008), "Deutschland dritter Klasse" (2009) und "Ideale. Auf der Suche nach dem, was zählt" (2011).