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Wissen und Erkenntnis - Essay | Wissen | bpb.de

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Wissen und Erkenntnis - Essay

Markus Gabriel

/ 16 Minuten zu lesen

Die Erkenntnistheorie beschäftigt sich vor allem mit der Frage, was "Wissen" und "Erkenntnis" bedeuten. Dabei kann es nicht schon von vornherein als ausgemacht gelten, dass die beiden Ausdrücke jeweils nur eine einzige Bedeutung haben, auch nicht, dass sie je eine Menge von Bedeutungen haben, die untereinander einen systematischen Zusammenhang aufweisen. Es könnte ja sein, dass wir die Ausdrücke "Wissen" und "Erkenntnis" auf allerlei verschiedene Weisen verwenden, ohne dass diese Verwendungsweisen einen gemeinsamen Bedeutungskern haben.

Ich selbst vertrete einen erkenntnistheoretischen Pluralismus. Darunter verstehe ich die Behauptung, dass es verschiedene Formen des Wissens und Erkennens gibt. Diese Behauptung könnte man wiederum auf mindestens zwei verschiedene Arten interpretieren. Einerseits könnte man sagen, dass es etwa praktisches und theoretisches Wissen gibt: Praktisches Wissen wäre eine Form des Könnens, wenn man etwa weiß, wie man auf Rollschuhen einen steilen Abhang herunter rollen kann. Theoretisches Wissen hingegen bestünde darin zu wissen, dass der Abhang steil ist. Im Folgenden werde ich allerdings eine andere Form des erkenntnistheoretischen Pluralismus vertreten, namentlich die Behauptung, dass wir keineswegs immer denselben Begriff zum Ausdruck bringen, wenn wir behaupten, jemand wisse, dass dieses oder jenes der Fall ist. Ich behaupte also, dass es eine Pluralität theoretischer Wissensformen gibt.

Diese Behauptung scheint irgendwie vertraut zu sein, entspricht sie doch einem offensichtlichen Befund, nämlich dem, dass wir beispielsweise zwischen mathematischem, soziologischem und physikalischem Wissen unterscheiden und diesen Unterschied mit verschiedenen Wissenschaften verbinden. Verschiedene Wissenschaften sind demnach dadurch verschieden, dass sie verschiedene theoretische Wissensformen in Anspruch nehmen.

Darüber hinaus bin ich der Überzeugung, dass auch der Ausdruck "Erkenntnis" eine Pluralität anzeigt, dass es mithin verschiedene Formen der Erkenntnis gibt. Ich unterscheide folglich zwischen "Wissen" und "Erkenntnis" – ein Unterschied, der leider in der gegenwärtigen deutschsprachigen Erkenntnistheorie gern verwischt wird, da sich diese an der englischsprachigen Debatte orientiert, in der es kein exaktes sprachliches Pendant zum deutschen Ausdruck "Erkenntnis" gibt.

Obwohl ich einen erkenntnistheoretischen Pluralismus vertrete, meine ich, dass es einen schmalen Bedeutungskern von "Wissen" und "Erkenntnis" gibt, dass das Wissen darum, worin dieser Kern besteht, aber keineswegs hinreicht, um auf diese Weise bereits zu wissen, was "Wissen" bedeutet. Wer nicht wüsste, dass sich mathematisches von soziologischem Wissen unterscheidet und irgendeine Liste mit Unterschieden angeben könnte, wüsste meines Erachtens viel zu wenig über "Wissen", um behaupten zu dürfen, er kenne die Bedeutung dieses Ausdrucks. Der schmale Bedeutungskern von "Wissen" ist meines Erachtens "wahre berechtigte Überzeugung", was in der Erkenntnistheorie häufig als die "Standarddefinition" bezeichnet wird, die zum ersten Mal von Platon erwogen, aber auch wieder verworfen wurde. Da indessen kaum jemand die angebliche Standarddefinition als vollgültigen Wissensbegriff vorstellt, halte ich es für absurd, von einer "Standarddefinition" zu reden und bezeichne sie stattdessen als "Ausgangsdefinition".

Im Folgenden werde ich zunächst kurz die Ausgangsdefinition motivieren, das heißt Gründe vorstellen, die für die Elemente der Ausgangsdefinition von "Wissen" sprechen. Anschließend werde ich den Unterschied von "Wissen" und "Erkenntnis" erläutern. Unter "Erkenntnis" verstehe ich eine "wahre und damit wahrheitsfähige Bezugnahme", das heißt eine Bezugnahme auf irgendeinen Gegenstand, die unter gewissen Erfolgsbedingungen steht. Schließlich werde ich ausführen, dass wir erkenntnistheoretisches Wissen von anderen Wissensformen unterscheiden müssen, was bereits für den erkenntnistheoretischen Pluralismus spricht. In der gegenwärtigen Erkenntnistheorie wird besonders häufig übersehen, dass sie selbst Wissen beansprucht beziehungsweise etwas erkennt, dass diese Wissens- beziehungsweise Erkenntnisform sich aber von anderen Formen signifikant unterscheidet. Ich erläutere diesen Unterschied als einen Unterschied der Architektur, was bedeutet, dass die Elemente des schmalen Bedeutungskerns von "Wissen" und "Erkenntnis" in den verschiedenen Wissens- und Erkenntnisformen anders ausgestaltet sind.

Ausgangsdefinition von "Wissen" als schmaler Bedeutungskern

Unter einer "Definition" von "Wissen" versteht man meistens die Angabe von notwendigen und hinreichenden Bedingungen, denen ein Zustand genügen muss, um als Wissen gelten zu können. Der relevante Zustand, der überhaupt für Wissen infrage kommt, dürfte dabei derjenige einer Überzeugung sein. Wer etwas weiß, ist von der betreffenden Sache überzeugt, das heißt, er hält seine Meinung auch gegen Widerstände aufrecht. Damit haben wir die erste Bedingung entdeckt, die wir die "Überzeugungsbedingung" nennen können:

  1. Wer etwas weiß, ist davon überzeugt = S ist überzeugt, dass p.

Die Richtigkeit dieser Bedingung erkennt man daran, dass es merkwürdig wäre zu sagen, S weiß zwar, dass es regnet, davon überzeugt ist er allerdings nicht. Wissen geht mit Gewissheit einher, was lediglich bedeutet, dass man an dem, was man zu wissen meint, gegebenenfalls festhält. Man glaubt es nicht einfach so, wie wenn ich wahllos annehme, dass Angela Merkel gerade in Frankfurt ist, ohne irgendeinen Grund für diese Annahme zu haben. Ich ließe mich leicht vom Gegenteil überzeugen. Weiß ich hingegen, dass sie gerade in Frankfurt ist, weil ich eine Liveübertragung im Fernsehen sehe, werde ich nicht leicht von dieser Annahme abzubringen sein.

Die zweite Bedingung für Wissen ist die "Wahrheitsbedingung". Diese besagt, dass man nichts Falsches wissen kann, es sei denn, man weiß, dass es falsch ist. Die Wahrheitsbedingung kann man folgendermaßen formulieren:

  1. p ist wahr.

Wenn ich weiß, dass es gerade in London regnet, dann ist es wahr, dass es gerade in London regnet. Daraus, dass jemand wirklich etwas weiß (und dies nicht nur beansprucht), folgt, dass dasjenige, was sie oder er weiß, wahr ist.

Die dritte Wissensbedingung schließlich besteht darin, dass jemand, der etwas weiß, dieses Wissen gegen Einwände verteidigen kann. Wer etwas weiß, hat sich Gedanken gemacht und das Wissen in einen Kontext eingebettet. Was gewusst wird, ist irgendwie berechtigt, irgendein zur Wahrheitsfindung geeigneter Vorgang gehört zur Vorgeschichte des Wissens: Man hat nachgelesen, eine Liveübertragung im Fernsehen gesehen, ein Fach studiert oder durch hartes Nachdenken ein Logikrätsel erfolgreich gelöst. All diese verschiedenen Vorgänge versammelt man in der Erkenntnistheorie in dem ziemlich allgemeinen Begriff der Rechtfertigung oder Berechtigung. Man kann daher sagen, dass es eine "Rechtfertigungsbedingung" gibt:

  1. S’ Überzeugung, dass p, ist gerechtfertigt oder (in einem sehr allgemeinen Sinn) berechtigt.

Unter Erkenntnistheoretikern scheiden sich die Geister insbesondere an der Frage, was genau eigentlich eine "Rechtfertigung" beziehungsweise eine "Berechtigung" ausmacht. Ich selbst glaube, dass es darauf keine einheitliche Antwort gibt, da es verschiedene Wissensformen gibt, die jeweils unter verschiedenen Rechtfertigungsbedingungen stehen. Dazu mehr im letzten Abschnitt.

Man weiß also nur dann etwas, wenn man seine Überzeugung gegen irgendeine Menge ihrerseits berechtigter Einwände verteidigen beziehungsweise auf kritische Nachfrage hin mit Gründen ausstatten kann. Unsere Überzeugungen haben eine Netzwerkstruktur, sie bilden in einem relativ anspruchslosen Sinn ein System. Wenn ich etwa der Überzeugung bin, dass es gerade regnet, liegt dies daran, dass ich etwa aus dem Fenster geschaut habe, dass der Himmel bewölkt ist, dass es in dieser Jahreszeit an dem Ort, an dem ich mich gerade befinde, häufig regnet. Da man nichts wissen kann, wovon man nicht zumindest überzeugt ist, bildet unser Wissen ebenfalls eine Netzwerkstruktur. Wir wissen etwas immer nur in einem größeren Zusammenhang, weshalb wir auch nie nur etwas Einzelnes, sondern stets Zusammenhänge lernen, um einzelne Erkenntnisse zu größeren Wissenseinheiten auszubauen. Wenn man beispielsweise in der Schule etwas über das gegenwärtige China lernt, lernt man dies in einem Zusammenhang, der alle einzelnen Erkenntnisse, die wir über China haben, systematisch vernetzt.

Wissen besteht darin, Erkenntnisse in einen Zusammenhang bringen zu können. Wählen wir ein einfaches Beispiel: Ein Passant fragt uns, ob wir wissen, wann die nächste Regionalbahn von Bonn nach Köln fährt. Wenn wir dies wissen, wissen wir dies in einem Zusammenhang, etwa, weil wir mit einer bestimmten Regelmäßigkeit eine solche Regionalbahn genommen haben, weil wir wissen, wo man einen relevanten Fahrplan einsehen kann, dass überhaupt eine Regionalbahn von Bonn nach Köln fährt. Wir wissen normalerweise auch, wo der Bahnhof ist, und vieles mehr, etwa, welche Farbe eine Regionalbahn in dieser Gegend hat, welche Modelle sich in Gebrauch befinden (jedenfalls ungefähr) und so weiter.

Wenn wir etwas wissen, besteht sonach ein Zusammenhang zwischen einem Netzwerk von Überzeugungen und dem Umstand, dass wir aus diesem Netzwerk Hintergrundüberzeugungen anführen können, wenn unser Wissen infrage gestellt wird beziehungsweise gefragt ist. Dies drückt die Ausgangsdefinition von Wissen aus. Dabei darf man die Wahrheitsbedingung nicht unterschlagen. Denn man muss zwischen einem Wissensanspruch und tatsächlichem Wissen unterscheiden. Wer etwas zu wissen beansprucht, das aber falsch ist, weiß es nicht. Wissensansprüche können fehlgehen, Wissen selbst nicht. Deswegen sagt man auch: "Ich glaubte zu wissen, habe mich aber getäuscht", und hält nicht einfach an einem Wissensanspruch fest. Ein Wissensanspruch ist folglich fallibel (fehlbar), Wissen nicht. Wissen ist der Name für den Erfolgsfall, für einen erfolgreichen Wissensanspruch.

Fassen wir zusammen, dass die Ausgangsdefinition von "Wissen" lautet, dass S weiß, dass p, wenn die folgenden drei Bedingungen erfüllt sind:

  1. S ist überzeugt, dass p.

  2. p ist wahr.

  3. S’ Überzeugung, dass p, ist berechtigt.

In einem einflussreichen Artikel von 1963 hat der amerikanische Erkenntnistheoretiker Edmund L. Gettier gezeigt, dass die Ausgangsdefinition von Wissen nicht allgemeingültig sein kann. Wenn man sie in dieser abstrakten Formulierung akzeptiert, ergeben sich sogenannte Gettier-Fälle, wie man seitdem sagt. Hier ist ein einfacher Gettier-Fall. Nehmen wir an, S sei überzeugt, vergangenen Montag einen Salat zu Mittag gegessen zu haben. Seine Gründe für diese Überzeugung bestehen darin, dass er eine Rechnung über einen Salat in der Tasche hat, die das entsprechende Datum trägt. Außerdem meint er, sich daran zu erinnern, einen Salat gegessen zu haben. Vielleicht bestätigt ihm dies auch noch ein im Allgemeinen sehr zuverlässiger und aufrichtiger Freund, der ihn gesehen haben will. Seine Überzeugung ist also durchaus berechtigt. Nehmen wir nun weiter an, S habe wirklich vergangenen Montag einen Salat gegessen. Folglich sind alle drei Bedingungen der Ausgangsdefinition erfüllt.

Allerdings stimmt die Rechnung dennoch nicht. S hat vielmehr im besagten Restaurant am Dienstag einen Salat gegessen und der Kellner hat versehentlich eine Rechnung mit einem falschen Datum ausgestellt. Sein Freund hat ihn auch gar nicht am Montag gesehen, sondern sich in seiner Erinnerung gleichfalls im Datum geirrt. Außerdem kann sich S nicht wirklich daran erinnern, am Montag einen Salat gegessen zu haben, seine Erinnerungen sind alle Erinnerungen an den Salat vom Dienstag. Demnach sind zwar alle drei Bedingungen erfüllt, aber es besteht trotzdem kein geeigneter Zusammenhang zwischen der Liste der Gründe, die S’ Berechtigung ausmachen, und dem Umstand, dass er wirklich einen Salat am Montag gegessen hat. Die Tatsache p ist demnach bezogen auf S’ Überzeugungssystem nur zufällig wahr. Gleichwohl sind alle Bedingungen erfüllt. Folglich reicht die Ausgangsdefinition nicht hin, da sich leicht Gegenbeispiele finden lassen.

Nach nunmehr beinahe 50 Jahren ist es bislang niemandem gelungen, die Ausgangsdefinition allgemein anerkannt so zu konkretisieren, dass sich keine Gegenbeispiele mehr anführen lassen. Dafür mag es viele Gründe geben. Ich selbst halte dafür, dass der entscheidende Grund darin liegt, dass die Ausgangsdefinition zwar einen schmalen Bedeutungskern von "Wissen" korrekt wiedergibt, dass wirkliches Wissen aber zusätzliche Strukturen aufweist, die es jeweils gegen relevante Gettier-Fälle resistent machen. Diese These darf man nicht damit verwechseln, dass sich Wissensansprüche gegen Gettier-Fälle oder komplizierte Einwände immunisieren lassen. Aber wirkliches Wissen kann nicht durch Einwände erschüttert werden, weil es ansonsten kein Wissen, sondern nur ein Wissensanspruch wäre. Dies hilft zwar unter Umständen nicht viel weiter, da wir nicht ohne Weiteres zwischen Wissensansprüchen und wirklichem Wissen unterscheiden können. Denn dazu müssen wir wiederum jeweils einen Wissensanspruch erheben, der scheitern kann. Allerdings darf man daraus, dass wir irrtumsanfällig in der Frage sind, was wir wirklich wissen, allein noch nicht schließen, dass wir vielleicht gar nichts wissen. Wir wissen nur nicht auf einen Schlag, was wir alles wissen, weil niemand alle Wissensformen überblickt und beherrscht. Jedes Wissenssystem ist und bleibt endlich, ein unendliches Wissen, das alles Wissen überschaut und beurteilt, ist prinzipiell unmöglich.

Unterschied von Wissen und Erkenntnis

Die Erkenntnistheorie beschäftigt sich offensichtlich auch mit Erkenntnis. Dies wird in der gegenwärtigen Erkenntnistheorie ironischerweise meist verkannt, da viele Diskussionen sich an der englischsprachigen Erforschung des Wissensbegriffs orientieren, die von Gettiers Artikel ihren Ausgang genommen hat. In der deutschsprachigen Tradition, die prominent im Gefolge von Gottfried Wilhelm Leibniz beginnt und in Immanuel Kants kritischen Hauptwerken kulminiert, ist die Lage allerdings anders, da es dort zunächst um Erkenntnis geht, was in gewisser Weise ein grundlegenderer Begriff ist. Denn wenn man etwas erkennt, nimmt man es zur Kenntnis. Man kommt zu Überzeugungen über dasjenige, was man erkennt. Die Grundstruktur der Erkenntnis ist die einer wahren und damit offensichtlich wahrheitsfähigen Bezugnahme auf irgendeinen Gegenstand, was Kant kurzum als "Beziehung aufs Objekt" bezeichnet.

Die dahinter stehende Überlegung kann man sich leicht klarmachen. Um etwas über etwas zu wissen, muss man dieses etwas immerhin von anderem unterscheiden können. Man muss es kennen. Wenn man etwas kennt, schreibt man ihm Eigenschaften zu, da Eigenschaften dasjenige sind, was etwas von anderem unterscheidet. Der Vesuv ist zum Beispiel vom Ätna durch die Eigenschaft unterschieden, sich in Kampanien zu befinden und die Stadt Pompeji in Schutt und Asche gelegt zu haben. Der rote Ball auf meinem Schreibtisch unterscheidet sich von dem blauen Würfel daneben durch seine Farb- und geometrischen Eigenschaften. Wenn man einem Gegenstand nun eine Eigenschaft zuschreibt, fällt man ein Urteil über diesen Gegenstand, wie Kant sich ausdrückt. Ein Urteil ist ein wahrheitsfähiger Gedanke, etwa der Gedanke, dass da vorn ein roter Würfel liegt. Dieser Gedanke ist wahrheitsfähig, er kann wahr oder falsch sein. Wenn ich mir einfach nur denke: "Na und", ist dieser Gedanke nicht wahrheitsfähig, er nimmt auch auf keinen Gegenstand Bezug. "Na und" ist keine Erkenntnis im erkenntnistheoretischen Sinn.

Wenn man Erkenntnistheorie betreibt, beschäftigt man sich mit der Frage, wie wir überhaupt Überzeugungen über Gegenstände erlangen können, die wahr oder falsch sein können. Einzelne Erkenntnisse werden durch eine Einbettung in Zusammenhänge zu Wissen. Unser Wissen baut sich aus Erkenntnissen auf. Wir müssen erst einmal auf irgendwelche Gegenstände Bezug nehmen, die irgendwie von anderen Gegenständen unterschieden werden, bevor wir etwas über sie wissen können. Erkenntnis und Wissen gehören zusammen, da es ohne Erkenntnis kein Wissen geben kann, und da unser Wissen wiederum mitbestimmt, was wir erkennen. Die von uns Menschen thematisierten Zusammenhänge sind dabei ziemlich umfassend, wir projizieren diese sogar immer auf den Hintergrund eines allumfassenden Ganzen, das man in der Philosophie als "die Welt" bezeichnet.

Ich möchte nicht bestreiten, dass andere Lebewesen ebenfalls Erkenntnis und Wissen haben. Der Unterschied zwischen ihrem und unserem Wissen besteht allerdings darin, dass wir größere Zusammenhänge sehen und sogar einen allumfassenden Zusammenhang vermuten. Martin Heidegger bezeichnet uns Menschen deswegen als das "In-der-Welt-Sein", das heißt als Wesen, die ausdrücklich in einem allumfassenden Ganzen verortet sind. Soweit wir dies überhaupt wissen können, gelingt dies Delfinen oder Bienen nicht. Ihre Erkenntnisse und ihr Wissen sind beschränkter, was nicht bedeutet, dass sie nichts wissen oder erkennen. Vieles wissen und erkennen sie sehr viel besser als wir, was unter anderem an der verschiedenen Ausrüstung mit Sinnesorganen beziehungsweise an der verschiedenen Ausprägung gemeinsamer Sinnesorgane liegt. Die anderen, nicht-menschlichen Tiere erkennen und wissen auch einiges, da auch sie Erkenntnisse sammeln, in einen Zusammenhang rücken und durch Austausch ihre Überzeugungen korrigieren. Der erkenntnistheoretische Unterschied zwischen Menschen und anderen Tieren auf unserem Planeten mag allenfalls darin bestehen, dass wir auch noch erkennen wollen, was "Erkennen" ist, und zu wissen beanspruchen, was "Wissen" bedeutet. Soweit wir wissen, gilt dies für andere Lebewesen nicht.

Man könnte vielleicht noch den Unterschied zwischen Menschen und anderen Lebewesen erkenntnistheoretisch darüber definieren, dass Menschen Wissenschaft haben, dass sie ihre Erkenntnisse und ihr Wissen zu systematischen Wissensgebilden ausbauen und dabei wissen, dass sie Wissensgebilde errichten. Es ist vielleicht auch kein Zufall, dass es Wissenschaft erst seit den Zeiten gibt, seit denen die Menschen sich auf ein allumfassendes Ganzes gerichtet haben, und sei dies in der Form von Religion und Mythologie. Menschen machen sich ein Weltbild und integrieren die einzelnen Episoden ihres Lebens und Erkennens im Hinblick auf ein Weltbild, auf irgendeine bestimmte oder unbestimmte Form des Eindrucks, es gebe etwas, das alles umfasst. Ich selbst halte dies aus verschiedenen Gründen für eine Illusion, wobei anerkannt werden muss, dass die Illusion, es gebe genau ein einziges allumfassendes Ganzes, große zivilisatorische Fortschritte ermöglicht hat; heute allerdings hat sie uns in eine Sackgasse gebracht, da wir das große Ganze mit dem Universum der Physik zu identifizieren geneigt sind, das scheinbar alles andere als eine sinn- und zweckhafte Heimat für Menschen und andere Lebensformen ist. Doch diese Fragestellung führt bereits in die Metaphysik, die eng mit der Erkenntnistheorie verwandt ist. Denn die Metaphysik beschäftigt sich primär mit der Frage, was die Welt ist, das heißt, was dasjenige große, allumfassende Ganze zusammenhält, zu dem wir selbst gehören.

Erkenntnistheoretischer Pluralismus

Der erkenntnistheoretische Pluralismus ist die Behauptung, dass es keinen universalen Begriff des Wissens gibt, der in ein und derselben Bedeutung auf alle Fälle von Wissen zutrifft. Mit anderen Worten nimmt der erkenntnistheoretische Pluralismus an, dass "Wissen" mehrere Bedeutungen hat, dass sich der Ausdruck auf prinzipiell voneinander verschiedene Phänomene bezieht. Doch was wird damit genau ausgesagt?

Die These besteht nicht darin zu bestreiten, dass der Ausdruck "Wissen" überhaupt keine einheitliche Bedeutung hat und vollends äquivok (mehrdeutig) ist. Unter einem "äquivoken Ausdruck" versteht man in der Philosophie einen Ausdruck wie den der "Bank": Der Ausdruck bezieht sich sowohl auf eine Parkbank als auch auf ein Kreditinstitut. Die verschiedenen Wissensformen sind keine Äquivokationen. Wir sprechen zu Recht von mathematischem und physikalischem Wissen und unterscheiden dieses wiederum von soziologischem Wissen. Diesen Unterschied bilden wir unter anderem dadurch ab, dass wir verschiedene Wissenschaften akzeptieren und nicht nur eine einzige Disziplin, "die Wissenschaft", die dann in Unterdisziplinen, sagen wir Germanistik, Sprachwissenschaft und Chemie, eingeteilt wird. Der Unterschied zwischen den verschiedenen Wissenschaften besteht nicht nur darin, dass sie verschiedene Gegenstandsbereiche untersuchen: die Germanistik die deutsche Sprache, Literatur und Kultur, die Physik raumzeitliche Einzeldinge und die Gesetze ihrer Bewegungen. Die Wissenschaften unterscheiden sich vielmehr auch durch ihre Methoden. Der aus dem Altgriechischen stammende Ausdruck "Methode" bedeutet wörtlich das Mitgehen, das heißt eine für den Wissenserwerb geeignete Verlaufsform, die einem bestimmten Gegenstandsbereich angemessen ist. In diesem Sinne hat insbesondere Aristoteles den Methodenbegriff eingeführt und darauf hingewiesen, dass unsere Erkenntnis von Handlungen und damit unser Handlungswissen strukturell von mathematischem Wissen unterschieden ist. In der Mathematik sucht man nach notwendigen Zusammenhängen zwischen mathematischen Strukturen, während Handlungen gerade nur dadurch beobachtet werden können, dass wir unterstellen, dass sie auch anders hätten ausfallen können. Handlungen sind kontingent, das heißt möglich, aber nicht notwendig, mathematische Gegenstände hingegen durch Notwendigkeit gebunden.

Die verschiedenen Wissensformen haben jeweils eine andere Architektur. Damit meine ich das Folgende. Wenn S weiß, dass vor ihm ein roter Würfel liegt, weiß er dies durch Sinneswahrnehmung: Er richtet seine Augen auf den roten Würfel und erkennt, dass ein roter Würfel vor ihm liegt. Er kann rote Würfel von blauen Quadraten und vielen anderen Gegenständen unterscheiden. Wenn niemand jemals eine Sinneswahrnehmung gehabt hätte, wüsste niemand, dass es rote Würfel gibt. Denn bereits die Erkenntnis roter Würfel setzt voraus, dass wir die Sinneswahrnehmung als Informationsquelle in Anspruch nehmen. Die Erkenntnis roter Würfel und die Erkenntnis blauer Quadrate hängen dadurch zusammen, dass sie Sinneswahrnehmung zur Grundlage haben. Andere Wissensformen kommen ohne diese Grundlage aus. Zu wissen, dass man rote Würfel nur erkennen kann, wenn es überhaupt Sinneswahrnehmung gibt, setzt nicht voraus, dass man Sinneswahrnehmung hat. Das Wissen um die Architektur von Wissen, das wir nur durch Sinneswahrnehmung erwerben können, ist selbst kein durch Sinneswahrnehmung erworbenes Wissen. Folglich hat es eine andere Architektur als die Sinneswahrnehmung. Dies zeigt sich darin, dass wir es auf ganz andere Weise rechtfertigen, etwa mithilfe philosophischer Gedankenexperimente, wie demjenigen, in dem wir uns ausmalen, was wir wüssten, wenn niemand jemals eine Sinneswahrnehmung gehabt hätte und wir dennoch in gut strukturierten Begriffen denken könnten. Mathematisches Wissen wiederum ist auch nur unwesentlich an Sinneswahrnehmung gebunden, wobei es bis heute eine offene philosophische Frage ist, bis zu welchem Grad mathematisches Wissen eigentlich maximal abstrakt, also völlig von Sinneswahrnehmung abtrennbar ist.

Eine Handlung wiederum ist keineswegs notwendig durch Sinneswahrnehmung erkennbar. Die Handlung, sich dagegen entschieden zu haben, Brötchen zu kaufen, ist höchstens in dem Sinn sinnlich wahrnehmbar, dass mir jemand seinen Entschluss mitteilen kann. Die Handlung, eine Firma zu gründen, wird zwar in Dokumenten festgehalten, doch ist die Handlung in unsinnliche Zusammenhänge eingebunden, da man Institutionen wie etwa eine Firma nicht wirklich wahrnehmen kann. Sie sind vielmehr Funktionen so wie eine Firma, die ja nicht mit ihrem sinnlich wahrnehmbaren Firmensitz identisch ist.

Die verschiedenen Wissensformen sind zwar immer Formen, in denen wahre berechtigte Überzeugungen bestehen, doch konkretisiert sich dieser schmale Bedeutungskern auf jeweils hochgradig verschiedene Weise in den einzelnen Wissensformen. Damit erhebt die Erkenntnistheorie selbst einen Wissensanspruch, den Anspruch zu wissen, dass es verschiedene Wissensformen gibt, die zwar mit einem schmalen Bedeutungskern von "Wissen" untereinander in Verbindung stehen, deren Eigenschaft, jeweils eine Wissensform zu sein, aber nicht darin aufgeht, mit diesem sehr allgemeinen Wissensbegriff in Verbindung gebracht werden zu können.

Dennoch weiß die Erkenntnistheorie damit etwas, und dieses Wissen kann auch auf vielfältige Weise kritisch eingesetzt werden. Es kommt etwa seit Menschengedenken immer wieder zu Konflikten zwischen verschiedenen Wissensformen. In unserer Zeit etwa ist der Konflikt zwischen den Naturwissenschaften und anderen Wissensformen besonders ausgeprägt. In einem solchen Konflikt behauptet eine bestimmte Wissensform das Paradigma für Wissen zu sein. Wir wissen durch die Erkenntnistheorie aber, dass es keine konkrete Wissensform geben kann, die das Paradigma für alles Wissen ist. Folglich kann man solche Hegemonieansprüche seitens der Naturwissenschaften erkenntnistheoretisch kritisieren und auf ihre falschen Annahmen hinweisen. Die Erkenntnistheorie ist in diesem Sinne eine Wissenschaft unter vielen anderen Wissenschaften, mit der besonderen Funktion allerdings, jeden absoluten, alles umfassenden Wissensanspruch kritisieren zu können, da man in der Erkenntnistheorie weiß, dass es kein allumfassendes und inhaltlich konkretes Wissen geben kann.

Aus all dem folgt nun jedoch nicht, dass alle Wissensansprüche legitim sind. Es gibt auch Wissensansprüche, die so gründlich verfehlt sind, dass sie überhaupt keiner Wissensform angehören, wofür es wiederum verschiedene Gründe gibt. Welche Wissensformen es wirklich gibt und wie man zwischen legitimen und illusorischen Wissensformen unterscheidet, steht auf einem anderen Blatt und erforderte einen weiteren Artikel. Entscheidend ist, dass wir wissen, dass es verschiedene Wissensformen gibt. Wissen ist also aus erkenntnistheoretischer Sicht eine Vielheit von Wissensformen, die nicht nur durch eine sprachliche Verwirrung, eine Äquivokation, zusammengehalten werden, sondern die einen gemeinsamen, wenngleich minimalen Kern teilen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. dazu Markus Gabriel, Die Erkenntnis der Welt. Eine Einführung in die Erkenntnistheorie, Freiburg u.a. 20132, S. 25.

  2. Vgl. ebd., S. 45ff.

  3. Vgl. Edmund L. Gettier, Is Justified True Belief Knowledge?, in: Analysis, 23 (1963), S. 121ff.; ders., Ist gerechtfertigte, wahre Meinung Wissen?, in: Peter Bieri (Hrsg.), Analytische Philosophie der Erkenntnis, Frankfurt/M. 1987, S. 91ff.

  4. Vgl. dazu ausführlich Markus Gabriel, An den Grenzen der Erkenntnistheorie. Die notwendige Endlichkeit des objektiven Wissens als Lektion des Skeptizismus, Freiburg u.a. 2008; ders. (Anm. 1), S. 370ff.; ders., Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013 (i.E.).

  5. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Jens Timmermann, Hamburg 1998, S. 345 (B 300).

  6. Vgl. dazu M. Gabriel (Anm. 1 und Anm. 4, 2013).

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Dr. phil., geb. 1980; Professor für Erkenntnistheorie, Philosophie der Neuzeit und Gegenwart an der Universität Bonn; stellvertretender Direktor am Käte Hamburger Kolleg "Recht als Kultur"; zurzeit Visiting Professor an der Universität in Berkeley/USA; Institut für Philosophie, Universität Bonn, Lennéstraße 39, 53113 Bonn. E-Mail Link: gabrielm@uni-bonn.de