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Aktuelle Herausforderungen für das Staatskirchenrecht

Stefan Mückl

/ 13 Minuten zu lesen

In historischer Perspektive ist das Verhältnis zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt, zwischen Staat und Kirche, eine Abfolge von enger Bindung und strikter Trennung, von gedeihlichem Miteinander und erbittertem Gegeneinander, von Respektierung des jeweils anderen Bereichs und spiegelbildlich von Übergriffen in denselben. In einem verschlungenen historischen Prozess hat die deutsche Rechtsordnung einen befriedenden Weg gefunden, der bei einer prinzipiellen Trennung beider Größen eine Vielzahl von Mechanismen der Zusammenarbeit vorsieht. Wie jedes Recht, sieht sich auch das Staatskirchenrecht Anfragen nach der fortbestehenden Sachgerechtigkeit – mehr noch: der Legitimation – der einmal gefundenen Lösungen ausgesetzt.

Das Staatskirchenrecht ist ein historisch gewachsenes Recht. Seine Rechtsquellen wie viele seiner Rechtsinstitute stammen aus zurückliegenden Epochen. Das Gros des grundgesetzlichen Staatskirchenrechts hat nahezu das erste Jahrhundert seiner normativen Geltung erreicht. Artikel 140 des Grundgesetzes (GG) erklärt die für das Verhältnis zwischen Staat und Kirche relevanten Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung (WRV) vom 11. August 1919 zum Bestandteil des GG und damit für weitergeltendes Recht. Zu dieser ungewöhnlichen Technik, auf einen im Übrigen nicht mehr geltenden Verfassungstext zu verweisen, griff der Parlamentarische Rat 1949, als sich abzeichnete, dass ein Kompromiss über diese seinerzeit weltanschaulich heftig umstrittene Thematik kaum erreichbar gewesen wäre. Hinzuzufügen ist, dass bereits die Weimarer Bestimmungen ihrerseits als politischer Kompromiss zwischen vergleichbaren politischen Konfliktlinien zustande kamen.

Nur unwesentlich jünger sind die für weite Teile des Bundesgebiets maßgebenden konkordanten Rechtsnormen. Auch hier stammen die meisten der geltenden Verträge noch aus der Weimarer Zeit. Dies betrifft die Konkordate des Heiligen Stuhls (denen aus Paritätsgründen kurze Zeit später Verträge mit den jeweiligen evangelischen Landeskirchen folgten) mit Bayern im Jahr 1924, mit Preußen 1929/1931 und mit Baden 1932. Der Sache nach gehört in diese Periode auch das 1933 abgeschlossene Reichskonkordat, das auf Vorarbeiten in den 1920er Jahren aufbauen konnte. Noch ergrauter sind manche staatskirchenrechtlichen Institute: Der Grundsatz der Parität zwischen den Kirchen und Religionsgemeinschaften basiert letztlich auf dem Reichsrecht aus der Zeit der Glaubensspaltung, normiert in den großen Friedensschlüssen des Augsburger Religionsfriedens 1555 sowie des Westfälischen Friedens 1648. Die in Art. 138 Abs. 2 WRV angesprochenen "Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften" stellen die staatlichen Kompensationen für die ab 1802 erfolgten Säkularisationen in den deutschen Einzelstaaten dar.

Systematisch gesehen beruht das deutsche Staatskirchenrecht also auf einer doppelten Grundlage. Charakteristisch ist seine Zweispurigkeit von dem einseitig vom Staat gesetzten Recht (Verfassung, Gesetz) auf der einen und dem zwischen Staat und Kirche einvernehmlich gesetzten Recht (Staatskirchenvertrag, Konkordat) auf der anderen Seite. Bei beiden Strängen ist zusätzlich die föderative Ordnung Deutschlands in Rechnung zu stellen; sowohl das staatliche Recht wie das Konkordatsrecht ist teils Bundes- und teils Landesrecht.

Staatskirchenrechtliches System des Grundgesetzes.

Das deutsche Staatskirchenrecht ruht gewissermaßen auf zwei Säulen: die grundrechtliche Verbürgung der Religionsfreiheit (Art. 4 GG) und die Garantie institutioneller Rechtspositionen (Art. 140 GG). Zur Architektur des grundgesetzlichen Staatskirchenrechts gehören auch die Garantie des Religionsunterrichts (Art. 7 Abs. 2 und 3 GG) sowie das Verbot der Bevorzugung sowie Benachteiligung aus religiösen und weltanschaulichen Gründen (Art. 3 Abs. 3 GG). An der Spitze der durch Art. 140 GG inkorporierten Normen der WRV steht das Verbot der Staatskirche (Art. 137 Abs. 1). Damit wird der Staat als ausschließlich säkular verstanden, woran auch der Gottesbezug, die nominatio Dei, in der grundgesetzlichen Präambel nichts ändert. Entsprach diese Bestimmung noch lang gehegter liberaler Erwartung, ist die Kirche nicht konsequent in den privaten Raum verwiesen: Der Rechtsstatus der Kirche als Körperschaft des Öffentlichen Rechts bleibt nicht nur aufrechterhalten (Art. 137 Abs. 5 WRV), vielmehr können auch andere Religionsgemeinschaften diesen Status erlangen (Art. 137 Abs. 5 WRV). Mit dem Körperschaftsstatus sind weitere Rechtspositionen verbunden, von denen die bedeutendste der Kirchensteuereinzug unter Benutzung der bürgerlichen Steuerlisten ist (Art. 137 Abs. 6 WRV).

Trotz allem zählt die Kirche nicht zum Staat: Jede Religionsgemeinschaft – nicht nur diejenige mit öffentlich-rechtlichem Status – genießt das Selbstbestimmungsrecht hinsichtlich ihrer eigenen Angelegenheiten (Art. 137 Abs. 3 WRV). Bemerkenswert ist, dass der Staat der Kirche – wie jeder Religionsgemeinschaft – in Gestalt der Anstaltsseelsorge Zugang zu seinen Einrichtungen gewährleistet, neben dem Institut des Religionsunterrichts (Art. 7 Abs. 3 GG) betrifft dies die Streitkräfte sowie Krankenhäuser und Strafanstalten (Art. 141 WRV).

Konkordatsrechtliche Regelungen.

Für das deutsche Staatskirchenrecht ist ferner ein dichtes, mittlerweile nahezu flächendeckendes Geflecht von Staatskirchenverträgen typisch. Unter diesen Oberbegriff werden die mit der Katholischen Kirche abgeschlossenen Konkordate und Verträge ebenso gefasst wie die Evangelischen Kirchenverträge sowie die mit kleineren Religionsgemeinschaften abgeschlossenen Verträge. Eine prägende Vorreiterrolle haben dabei die erwähnten Staatskirchenverträge aus der Weimarer Zeit gespielt, welche dann in zwei nachfolgenden Entwicklungsperioden (1950er und 1960er Jahre sowie nach 1990 im Zuge der Wiedervereinigung) weiterentwickelt wurden. In jüngerer Vergangenheit wurden noch ein (evangelischer) Staatskirchenvertrag für das Land Baden-Württemberg sowie ein Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land Schleswig-Holstein abgeschlossen.

Bildet man aus den bestehenden Staatskirchenverträgen die Summe, lassen sich insgesamt sechs typische Vertragsinhalte unterscheiden. Erstens werden die vom Staat in seiner Verfassung bereits einseitig verankerten Gewährleistungen wiederholt und verstärkt (Religionsfreiheit, kirchliches Selbstbestimmungsrecht, Garantie des kirchlichen Eigentums, Sonn- und Feiertagsschutz). Ein zweites Bündel gestaltet den Status kirchlicher Institutionen als Körperschaft des Öffentlichen Rechts und die aus ihm im Einzelnen fließenden rechtlichen Positionen näher aus (Kirchensteuer, Gebührenbefreiungen, Rechts-, Amts- und Vollstreckungshilfe). Einen dritten Bereich bilden die Bestimmungen zur Ermöglichung kirchlichen Wirkens in der Öffentlichkeit wie etwa in allgemeinen kirchlichen Bildungseinrichtungen, im Rundfunkwesen sowie durch Sammlungen. Von eminenter praktischer Bedeutung ist viertens der Komplex der sogenannten res mixtae, also jener Angelegenheiten, die sowohl staatliche wie kirchliche Belange berühren. "Klassische" Materien sind hier die theologischen Fakultäten an den staatlichen Universitäten, der weite Bereich der schulischen Erziehung (vor allem der Religionsunterricht) und die Anstaltsseelsorge sowie das Melde-, Denkmalschutz- und Friedhofsrecht. Weiter zählen fünftens Regelungen zur kirchlichen Organisation und zum kirchlichen Personal (kirchliche Territorialstruktur, Mechanismen ihrer Bestellung, Sicherstellung der Kirchlichkeit des Lehr- und Dienstpersonals) sowie schließlich sechstens solche zur finanziellen Ausstattung der Kirchen (Staatsleistungen, Baulasten) zum festen Repertoire von Staatskirchenverträgen.

Das deutsche Staatskirchenrecht vermeidet Extrempositionen. Zwar verbietet es die Staatskirche, räumt aber der Kirche einen öffentlich-rechtlichen Rechtsstatus ein. Der Kirche wird einerseits das Recht der Selbstbestimmung zugestanden, andererseits wird sie finanziell alimentiert. Das deutsche Verfassungsrecht verwirklicht damit das insbesondere vom politischen Liberalismus verfochtene Trennungsmodell nur in abgeschwächter Form.

Herausforderungen

Säkularisierung.

Die deutsche Gesellschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts ist nicht mehr homogen, sie ist vermehrt säkularisiert und religiös indifferent. Allein die religionssoziologischen Rahmendaten sprechen eine klare Sprache: Gehörten 1961 noch weit über 90 Prozent der Deutschen entweder einer der "Großkirchen" an, ist dieser Anteil – befördert durch den zusätzlichen Säkularisierungsschub durch die Wiedervereinigung – auf unter 65 Prozent gesunken. Das wiedervereinigte Deutschland ist entgegen einer Prognose Anfang der 1990er Jahre mitnichten "nördlicher, östlicher und protestantischer", sondern vielmehr säkularisierter geworden.

Vor diesem Hintergrund ist vielfach der tiefere Sinn der verschiedenen staatskirchenrechtlichen Institute insgesamt nicht mehr von vornherein eingängig. Diese bedürfen – wie jede rechtliche Regelung – der fortdauernden inhaltlichen Legitimation. Diese lässt sich im religiös-weltanschaulich neutralen Staat nicht (mehr) mit historisch-traditionalen, sondern nur noch mit funktionalen Erwägungen erbringen. Dabei vermag der bloße Verweis auf die positiv-rechtliche Normierung immer weniger zu überzeugen. Die gebotene inhaltliche Legitimation stellt freilich auch – vielleicht sogar vorrangig – die Kirche selbst vor die beständige Aufgabe der Selbstvergewisserung, was denn der eigentliche Grund der ihr durch Verfassung, Gesetz und Konkordat zugebilligten Rechtspositionen ist. Sollte sich erweisen, dass es sich bei ihnen lediglich um historisch gewachsene und erklärbare "Privilegien" handelt, so wären sie in einem säkularen und freiheitlichen Gemeinwesen ein Anachronismus, ohne Gestaltungsmacht in der Gegenwart und ohne Leuchtkraft in die Zukunft.

Pluralisierung.

Allerdings ist die religionssoziologische wie die rechtliche Entwicklung nicht eindimensional in Richtung auf die Säkularisierung fixiert. Ebenso lassen sich gegenläufige Tendenzen der Pluralisierung ausmachen. Sie offenbaren sich am deutlichsten in der zunehmend sichtbaren Präsenz des Islams, aber auch anderer Erscheinungsformen von Religiosität (fernöstlicher, synkretistischer, esoterischer und sektenhaft-chiliastischer Provenienz). So zeigt sich ein facettenreiches Bild: Zahlreiche Glaubensrichtungen konkurrieren auf dem Markt der Möglichkeiten – und nicht wenige von ihnen erstreben ihrerseits einen Zugang zu den Institutionen des deutschen Staatskirchenrechts. Freilich: Die vielfältigen privatreligiösen Phänomene beschränken sich in aller Regel individualistisch oder quietistisch auf den engeren Bereich persönlicher Lebensführung. Demgegenüber treten nicht wenige "Sekten" dezidiert offensiv und missionarisch auf, teilweise mit deutlicher Stoßrichtung auf innerweltliche Zielsetzungen hin.

Diese teilweise gegenläufigen Tendenzen stellen auch das (Staatskirchen-)Recht vor neue Herausforderungen. Dass das Staatskirchenrecht generell genuin historisch-kulturelle Prägungen aufweist, liegt offen zutage. In Deutschland sind diese seit der Zeit der Glaubensspaltung im 16. Jahrhundert durch Mechanismen der paritätischen Kooperation – erst zwischen den "Religionsparteien", sodann zwischen ihnen und dem Staat – besonders gekennzeichnet. Für Deutschland wie für andere europäische Staaten lautet eine der maßgeblichen Fragen des 21. Jahrhunderts, ob und inwieweit die historisch gewachsenen staatskirchenrechtlichen Systeme auf die Veränderungen ihrer außerrechtlichen Voraussetzungen bereits reagiert haben oder zu reagieren in der Lage sind.

Europäisierung.

Anfragen an das System des deutschen Staatskirchenrechts kommen auch von Seiten des europäischen Rechts. Jenseits mancher spektakulärer, letztlich indes im Symbolhaften verbleibender Debatten (so etwa die Frage nach dem Für und Wider eines Gottesbezugs in zentralen europäischen Rechtstexten) bestehen wie in anderen Rechtsmaterien auch Einflüsse des europäischen auf das deutsche Recht. Das normative Vehikel hierfür bildet das europäische Sekundärrecht, namentlich die EU-Richtlinien.

Zweifelsohne hat die EU keine Kompetenz für das Staatskirchenrecht. Nicht ausgeschlossen ist aber ihr Tätigwerden im Bereich solcher Sachmaterien, welche ihr ausdrücklich zugewiesen sind und sich (auch) auf das mitgliedstaatliche Staatskirchenrecht im Allgemeinen wie auf Religion und Kirche im Besonderen auswirken. Derartige indirekte Einwirkungen resultieren aus einer Systemlogik, welche das Unionsrecht im Wesentlichen funktional konzipiert hat. Dieses stellt, anders als tendenziell das mitgliedstaatliche Recht, nicht auf die betroffenen Subjekte ab, sondern auf die von ihnen ausgeübten Tätigkeiten: Dieser Mechanismus führt nicht selten dazu – im Regelfall weder beabsichtigt noch reflektiert –, dass die Phänomene "Kirche" und "Religion" primär in den Kategorien des Wirtschaftslebens wahrgenommen werden. In Kategorien und Gebieten also, in denen sich (unbeschadet bereits erzielter und weiter beabsichtigter Integrationsbemühungen) weiterhin die der EU zugewiesenen Zuständigkeiten schwerpunktmäßig bewegen.

Rechtliche Folgerungen

Veränderungen des staatskirchenrechtlichen Systems.

Nicht selten wird aus den genannten Phänomenen die Schlussfolgerung gezogen, dass es nunmehr zu einer "wirklichen" Trennung von Staat und Kirche kommen müsse: Weder den un- noch den andersgläubigen Teilen der Bevölkerung, die in manchen Gebieten bereits die Mehrheit bilden, seien die quasi-christliche Fundierung des Staates oder die finanzielle Alimentation "schwindender Volkskirchen" zuzumuten oder auch nur zu vermitteln.

Die Rechtspraxis hat indes gegenüber diesem rechtspolitischen Postulat tendenziell den entgegengesetzten Weg eingeschlagen: Die Zeugen Jehovas sind mit ihrem Begehren, den Rechtsstatus der Körperschaft des Öffentlichen Rechts zu erlangen, dem Grunde nach ebenso durchgedrungen wie islamische Dachverbände mit der Zielsetzung der Einrichtung eines islamischen Religionsunterrichts. Eine weiterhin offene, da unverändert nicht stimmig und konsequent geklärte Frage bleibt die Zulässigkeit religiöser Symbole in staatlichen Einrichtungen, zumal in Schulen.

Wollte man Säkularisierung und Pluralisierung zum Anlass einer verstärkten Trennung von Staat und Kirche nehmen, bedürfte es erst genauerer Klärung, was "Trennung" in der Sache bedeuten soll: Im Begriff schwingen vielfach längst überholte Grundannahmen der staatstheoretischen Perspektiven des 19. Jahrhunderts mit – wie etwa die Absage an ein "Bündnis von Thron und Altar" sowie die Abgrenzung vermuteter kirchlicher Einflussnahmen auf die staatliche Willensbildung. Umgekehrt können die genannten Phänomene auch rechtliche Folgen nach sich ziehen. Das wiederum hängt davon ab, ob die Grundaxiome der bisherigen Zuordnung von Staat und Kirche beziehungsweise Religion auch unter veränderten tatsächlichen Verhältnissen weiter akzeptiert oder infrage gestellt werden. Das Grundaxiom sieht ein partnerschaftliches Zusammenwirken in Materien mit beiderseitigen Anknüpfungspunkten vor, legitimiert und erleichtert durch gemeinsame historisch-kulturelle Wurzeln. Eine einfache, allgemeingültige Bewertung erscheint hier (noch) nicht möglich, zu uneinheitlich und heterogen verlaufen hier die Frontlinien.

Ausgewählte Beispiele von Modifikationen.

Besteht ganz überwiegend, weder in Rechtsetzung noch in Rechtsprechung und in weiten Teilen der rechtswissenschaftlichen Lehre, keine Neigung zu systemrelevanten Änderungen, heißt dies umgekehrt nicht, dass Neuakzentuierungen oder Modifikationen einzelner Bereiche des Staatskirchenrechts ausgeschlossen wären. Einen interessanten Anwendungsfall bildet etwa das Vertragsrecht: Über lange Jahrzehnte eine fast ausschließliche Domäne der "Großkirchen", besteht seit den 1990er Jahren ein gleichermaßen dichtes Vertragsnetz mit den Vertretungen der jüdischen Gemeinden. Mittlerweile hat Hamburg auch einen Vertrag mit einem der drei muslimischen Dachverbände und einen weiteren mit der Alevitischen Gemeinde ausgehandelt und im November 2012 unterzeichnet. Die mit einer derartigen Pioniertat verbundenen rechtlichen wie tatsächlichen Schwierigkeiten harren indes noch ihrer Bewältigung, sodass die noch ausstehende parlamentarische Zustimmung nicht verwundert. Die grundlegenden offenen Fragen betreffen zum einen die Repräsentativität der handelnden muslimischen Vertretungen für die Angehörigen des Islams und zum anderen die einfache Übertragbarkeit der typischen Vertragsinhalte der Staatskirchenverträge auf Verträge mit islamischen Gemeinschaften.

Eine ähnliche Tendenz, staatskirchenrechtliche Institute auf bisherige "Außenseiter" zu erstrecken (was Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV vorsieht), offenbart sich beim Rechtsstatus der Körperschaft des Öffentlichen Rechts. Die cause célèbre des Verfahrens der Zeugen Jehovas wurde bereits erwähnt, die rechtspolitische Forderung nach der Streichung des Rechtsstatus ist nahezu ungehört verhallt. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht verbürgt "jede(r) Religionsgesellschaft", "ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes" zu ordnen und zu verwalten. Diese Rechtsposition mit anderen Belangen zum Ausgleich zu bringen, ist eine geradezu klassische Herausforderung für die staatskirchenrechtliche Praxis. Ein prominenter, jüngst vermehrt in den Blick der Aufmerksamkeit geratener Anwendungsfall ist das "kirchliche Arbeitsrecht": Der kirchliche Arbeitgeber kann, mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts, durch eigene Normativakte das allgemeine Arbeitsrecht weitgehend überlagern, im Individualarbeitsrecht von Mechanismen der Personalauswahl über die Festlegung von Loyalitätsverpflichtungen kirchlicher Bediensteter bis hin zu deren – notfalls sanktionsbewehrter – Durchsetzung. Im kollektiven Arbeitsrecht erfolgt die Regelung der Arbeitsverhältnisse überwiegend nicht auf dem Weg des Tarifvertrags, sondern durch Beschlüsse von paritätisch besetzten Kommissionen von (nicht weisungsgebundenen) Vertretern von Dienstgeber und Mitarbeitern ("Dritter Weg"). Die jüngere Rechtsprechung hat diese Grundlagen zwar nicht angetastet, aber doch spürbare Neuakzentuierungen vorgenommen, die sowohl das individuelle wie das kollektive Arbeitsrecht betreffen. Der gemeinsame Nenner dieser Entscheidungen besteht darin, dem kirchlichen Träger eine nachvollziehbare Konsistenz seiner eigenen Grundsätze abzuverlangen.

Im weiten Bereich der schulischen und universitären Bildung zeigen sich unverkennbar Tendenzen einer Reduzierung und Modifizierung, welche indes weniger aus grundsätzlichen denn vielmehr aus praktischen Erwägungen motiviert sind: So führt eine religiös zunehmend heterogene Schülerschaft mit den einhergehenden organisatorischen – freilich lösbaren – Schwierigkeiten bisweilen (zumeist auf der lokalen Ebene) zu Infragestellungen des verfassungsmäßigen Regelfalls des konfessionellen Religionsunterrichts zugunsten überkonfessioneller oder gar interreligiöser Modelle. Die Tendenz der Ausweitung staatskirchenrechtlicher Institute zeigt sich freilich auch hier: Seit Jahren rechnet das Postulat nach einem islamischen Religionsunterricht zum festen Repertoire integrationsmotivierter Rechtspolitik. Dessen Realisierung gestaltete sich hingegen schwierig(er), weniger aus prinzipiellen Gründen denn aus der Notwendigkeit der dauerhaften Sicherstellung der rechtlichen Voraussetzungen (wie die Ausbildung geeigneter Religionslehrer an bekenntnisgebundenen universitären Einrichtungen). Ähnliches lässt sich für die theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten festhalten: Als solche sind sie gegenwärtig wenig angefochten, Re-Dimensionierungen erfolgen aufgrund finanzieller Erwägungen der Länderhaushalte. So sind in den vergangenen Jahren zwei der bis dahin sechs katholisch-theologischen Fakultäten in Bayern für einen Zeitraum von 15 Jahren für "ruhend" erklärt worden. Weiter haben die bayerischen Bischöfe unlängst ihre Bereitschaft bekundet, auf ihre vertraglichen Rechte bezüglich der "Konkordatslehrstühle" (Lehrstühle für Philosophie, Geschichts- und Erziehungswissenschaften außerhalb der theologischen Fakultäten, bei denen gewisse Mitwirkungsrechte des jeweiligen Bischofs bestehen) zu verzichten.

Ausblick

Gemeinhin wird die in Deutschland realisierte Konzeption des Staatskirchenrechts als eine der Kooperation beschrieben. Diese weist nicht allein gewachsene historisch-kulturelle Voraussetzungen auf, sondern wirkt auch zugunsten des freiheitlichen Verfassungsstaates: Unverändert erbringt das kirchliche Wirken als "überschießende Effekte" Leistungen für den Staat – solche, die er selbst aus verfassungsrechtlichen Gründen der Säkularität und Neutralität nicht selbst wahrnehmen kann, sowie solche, mit deren ausschließlicher Wahrnehmung er sich übernehmen müsste. Derartige "überschießende Effekte" betreffen etwa die Wertevermittlung im Bildungs- und Erziehungssektor oder den Einsatz für Schwache, Leidende und Sterbende im Fürsorge- und Sozialbereich. Kurzum: Nutznießer des Staatskirchenrechts ist neben der Kirche auch der Staat. Er ist es, der seine eigenen Wurzeln nur pflegen, aber nicht selbst schaffen kann.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Axel Frhr. von Campenhausen/Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht, München 20064.

  2. Vgl. für alle der im Folgenden genannten Verträge: Joseph Listl (Hrsg.), Die Konkordate und Kirchenverträge in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, Berlin 1987.

  3. Vgl. Thomas Brechenmacher (Hrsg.), Das Reichskonkordat 1933, Paderborn u.a. 2007.

  4. Vgl. Stefan Mückl (Hrsg.), Das Recht der Staatskirchenverträge, Berlin 2007.

  5. Vgl. Vertrag vom 17.10.2007, GBl BW 2008, S. 1ff.

  6. Vgl. Vertrag vom 12.1.2009, GVBl SH 2009, S. 264ff.

  7. Im Ruf angestrebter Glaubensausbreitung steht verbreiteter Wahrnehmung zufolge auch "der" Islam ("Islamisierung"). Doch gerade hier bedarf es sorgsamerer Analysen, will man zu einer zutreffenden Situationsbeschreibung und sachgerechten Lösungsansätzen gelangen. Dass es derartige Bestrebungen gibt, ist unbestreitbar. Hinzuweisen ist aber auch auf Erkenntnisse der empirischen Sozialwissenschaften, denen zufolge "das Gros der Muslime seinen Glauben ähnlich lax (praktiziert) wie Christen und Juden"; näher dazu: Claus Leggewie, Auf dem Weg zum Euro-Islam?, Bad Homburg v.d. Höhe 2002, S. 14; Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Türken in Deutschland, St. Augustin 2001, S. 13, online: Externer Link: http://www.kas.de/db_files/dokumente/arbeitspapiere/7_dokument_dok_pdf_12_1.pdf (17.4.2013).

  8. Vgl. Arnd Uhle, Staat – Kirche – Kultur, Berlin 2004.

  9. Vgl. Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, Baden-Baden 2005.

  10. Vgl. Christian Hillgruber, Über den Sinn eines Gottesbezuges in einer künftigen europäischen Verfassung, in: Kirche und Recht, (2007), S. 1ff.

  11. Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Amtliche Sammlung (BVerfGE), Bd. 102, S. 370ff.

  12. Vgl. Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts. Amtliche Sammlung (BVerwGE), Bd. 123, S. 49ff.; Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, Berlin 2008.

  13. Vgl. Externer Link: http://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/3551764/2012-08-14-sk-vertrag.html (15.7.2013).

  14. Vgl. BVerfGE (Anm. 11).

  15. Vgl. Ute Sacksofsky, Religiöse Freiheit als Gefahr?, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, (2009) 68, S. 7ff. (28).

  16. Vgl. Konrad Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, Berlin 19942, S. 521ff.

  17. Vgl. die ständige Rechtsprechung seit BVerfGE, Bd. 70, S. 138ff.

  18. Vgl. Gregor Thüsing, Kirchliches Arbeitsrecht, Tübingen 2006, S. 114ff.

  19. Vgl. Bundesarbeitsgericht (BAG), Urteil vom 8.9.2011, 2 AZR 543/10; zuvor bereits: EGMR, in: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, 28 (2011) 5, S. 279ff.

  20. Das BAG hat in zwei Urteilen vom 20.11.2012 (1 AZR 179/11 und 1 AZR 611/11) die bisherige Konzeption im Grundsatz gebilligt, im Detail aber eine organisatorische Einbeziehung der Gewerkschaften gefordert.

  21. Vgl. Stefan Mückl, Konfessionalität des Religionsunterrichts im Wandel?, in: Gerrit Manssen et al. (Hrsg.), Nach geltendem Verfassungsrecht, Stuttgart 2009, S. 542ff.

  22. Vgl. Wolfgang Bock, Islamischer Religionsunterricht?, Tübingen 20072.

  23. Vgl. Externer Link: http://www.erzbistum-muenchen.de/page007538.aspx?newsid=24772 (17.4.2013).

  24. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Sergius Buve (Hrsg.), Säkularisation und Utopie, Stuttgart u.a. 1967, S. 75.

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Dr. iur., geb. 1970; apl. Professor am Institut für Öffentliches Recht IV, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br., Postfach, 79085 Freiburg i.Br. E-Mail Link: stefan.mueckl@jura.uni-freiburg.de