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Universelle Strafjustiz? - Essay | Wiedergutmachung und Gerechtigkeit | bpb.de

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Universelle Strafjustiz? - Essay

Wolfgang Kaleck

/ 14 Minuten zu lesen

Sieht doch vielversprechend aus, wie sich das Völkerstrafrecht in den vergangenen 20 Jahren entwickelt hat: Internationale Tribunale beschäftigen sich seit 1993 beziehungsweise 1994 mit den Völkermorden in Jugoslawien und Ruanda, gemischt national-internationale Tribunale urteilen über Verbrechen in Kambodscha, Osttimor, Sierra Leone und im Libanon; seit 2002 arbeitet der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag; zudem findet in vielen Ländern wie beispielsweise Argentinien, Chile oder Guatemala eine gerichtliche Aufarbeitung der Verbrechen der Vergangenheit auf nationalstaatlicher Ebene statt.

Aber, so wendet die Kritik ein, der IStGH hat in den elf Jahren seiner Existenz gerade mal einen Angeklagten verurteilt, den Kongolesen Thomas Lubanga im Frühjahr 2012, beschäftigt sich ausschließlich mit auf dem afrikanischen Kontinent begangenen Straftaten, wo das Morden zudem weiter geht, und das Gericht kommt an mächtige Menschenrechtsverletzer nicht heran, weil viele wichtige Staaten das Statut des Gerichtshofs nicht unterzeichnet haben; die Tribunale beschäftigen sich nur mit solchen Sachverhalten, die denen politisch genehm sind, die sie einrichten und finanzieren, und in den meisten Nationalstaaten herrscht bis heute auch bei schwersten Menschenrechtsverletzungen Straflosigkeit. Damit sind zwei der wichtigsten Problemkomplexe angesprochen, mit denen das Völkerstrafrecht seit seinen Anfängen zu kämpfen hat, seine Wirksamkeit und seine begrenzte Reichweite, vorwurfsvoll gewendet: seine Selektivität.

Um die aktuellen Probleme besser einschätzen zu können, wird ein Blick auf die Geschichte des Völkerstrafrechts geworfen, beginnend mit den Nürnberger und Tokioter Kriegsverbrecherprozessen über die antikolonialen Befreiungskriege bis zu den ersten beiden UN-Tribunalen, bevor die gegenwärtige Diskussion um den Internationalen Strafgerichtshof und die Strafverfolgung in den Nationalstaaten rekapituliert wird. Anschließend wird aufgezeigt, dass sich die internationale Strafjustiz an einem Scheidepunkt befindet und welche Perspektiven derzeit bestehen.

Von Nürnberg bis Den Haag

Das gängige Narrativ der Geschichte des Völkerstrafrechts ist schnell erzählt: Am Anfang steht die Erfolgsgeschichte der Alliierten Militärtribunale von Nürnberg und Tokio. Der Weiterentwicklung der in Nürnberg entwickelten Prinzipien stand der Kalte Krieg entgegen. Doch nach dessen Ende und mit zunehmender Bedeutung des Menschenrechtsdiskurses wurde mit den UN-Tribunalen zu Jugoslawien und Ruanda die Grundlage für den Internationalen Strafgerichtshof geschaffen. Heute besteht sowohl auf internationaler Ebene als auch parallel dazu in den meisten Nationalstaaten der gesetzliche Rahmen zur Verfolgung von Völkerstraftaten.

Daran, dass die Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse sowie die Nachfolgeverfahren eine Zeitenwende darstellen, werden heute selten seriöse Zweifel geäußert. Erstmals in der Rechtsgeschichte wurden die ehemaligen Machthaber, Staatsmänner, Militärbefehlshaber und Wirtschaftsführer für ihr verbrecherisches Handeln vor Gericht zur Verantwortung gezogen – obwohl sie für sich in Anspruch nahmen, zum Wohle und innerhalb der Legalität des Staats gehandelt zu haben.

Doch schon die Nürnberger und Tokioter Kriegsverbrecherprozesse sahen sich dem Vorwurf der Selektivität und der Siegerjustiz ausgesetzt; zuvorderst wurde dieser von den Angeklagten und ihrer Verteidigung formuliert. Doch auch Rechtswissenschaftler aus den USA und anderen Staaten kritisierten, dass die angewandten Strafnormen vor den Prozessen nur zum Teil geschriebenes Recht waren, dass die Ankläger und Richter ausschließlich aus dem Kreise der Siegermächte kamen, und von den Initiatoren der Verfahren nicht vorgesehen wurde, die von ihrer Seite begangenen Kriegsverbrechen zum Gegenstand von Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen zu machen. Auf all diese Einwände ist vernünftig geantwortet worden: Die Verfahren waren gemessen an den damaligen Standards fair, die teilweisen Verstöße gegen das Rückwirkungsverbot zu rechtfertigen und die Beschränkung des Verfahrensstoffs auf die Verbrechen der Achsenmächte politisch – auch in der Rückschau – legitimiert.

Was allerdings in der Nachbetrachtung oft zu kurz kommt, ist die Art und Weise, wie die alliierten Siegermächte sowohl durch eigenes Handeln als auch durch Duldung deutscher und japanischer Obstruktion hinnahmen, wie das in Nürnberg formulierte und bis heute als beispielhaft anzusehende Strafverfolgungsprogramm desavouiert wurde. In Tokio fehlte mit dem Kaiser der Kopf des japanischen Unrechtssystems auf der Anklagebank. In Deutschland wurde das Programm der Alliierten Nachfolgeverfahren beschränkt, viele Angeklagte wurden vorzeitig aus der Haft entlassen, von der bundesdeutschen Strafjustiz blieben die Eliten der verbrecherischen NS-Gesellschaft weitgehend unbehelligt. Dies lag vor allem darin begründet, dass beide Länder zu wichtigen Bastionen gegen die Sowjetunion, dem großen Opponenten im Kalten Krieg, ausgebaut wurden.

Es kann daher nicht wirklich verwundern, dass weder die Sowjetunion noch die sich als demokratische Rechtsstaaten verstehenden westlichen Mächte in den kommenden vier Dekaden an Nürnberg anknüpften, obwohl alle verbal darin übereinstimmten, dass die Nürnberger Prinzipien fortan Geltung für die internationale Gemeinschaft beanspruchen konnten.

Allerdings überrascht, wie wenig bis heute über die von Frankreich, Großbritannien, aber auch den Niederlanden und Belgien begangenen Kriegsverbrechen in den noch vor Kriegsende beginnenden antikolonialen Befreiungskämpfen geredet wird und dass sie kaum in den Kontext der heutigen Diskussion um das Völkerstrafrecht gesetzt werden. Wohl selten klafften Anspruch im Zeitalter der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 und Wirklichkeit mehr auseinander als bei den Massenmorden der Briten in Kenia während des sogenannten Mau Mau-Aufstandes und den systematischen und massiven Folterungen der Franzosen in Algerien – um nur zwei der ungeheuerlichsten Verbrechenskomplexe zu benennen.

Auch die Vereinigten Staaten von Amerika begingen nach dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche Kriegsverbrechen oder unterstützten deren Begehung durch ihre Verbündeten. Die vorherrschende Ideologie war der Antikommunismus, der sowohl in Vietnam, Kambodscha und Laos als auch in Südamerika, vor allem Argentinien und Chile, und später in Zentralamerika – Guatemala und El Salvador – zur Begründung massiver und brutaler Repression von Aufstandsbewegungen herangezogen wurde. Seit den späten 1960er Jahren allerdings sahen sich die USA massiver Kritik und Widerstand gegenüber. Die Verbrechen wurden nicht nur in der kritischen Öffentlichkeit thematisiert, sondern auch Meinungstribunale, wie das historische Russell-Tribunal zum Vietnamkrieg, versuchten an die Nürnberger Prozesse anzuknüpfen. Später begannen vor allem in den USA Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen mit der juristischen Vertretung von Opfern und dem Einklagen ihrer Rechte vor US-Gerichten.

Abgesehen von diesen nationalen Verfahren, zu denen auch wichtige Prozesse Ende der 1970er und Anfang der 1980er in Griechenland, Portugal und Argentinien zu zählen sind, fand auf internationaler Ebene keine juristische Auseinandersetzung mit den in fast allen Weltregionen zu verzeichnenden Verbrechen statt. Es ist bemerkenswert, dass auch viele der inzwischen unabhängig gewordenen betroffenen Staaten eine solche Aufarbeitung nicht suchten, wohl weil dort die Notwendigkeiten zunächst des Befreiungskampfes und dann des Aufbaus neuer Gesellschaften als Prioritäten angesehen wurden.

Die Gründung der UN-Tribunale zu Jugoslawien (1993) und Ruanda (1994) war konsistent mit der politischen Agenda der Vetomächte des UN-Sicherheitsrats, auch weil die politischen Entscheidungsträger nicht damit rechneten, dass sich diese trotz begrenzter Ressourcen und zunächst geringem politischen Rückhalt zu funktionierenden internationalen Strafgerichten entwickeln würden können. Vergleichbare Verbrechen in anderen Regionen wurden hingegen nicht Gegenstand derartiger Tribunale, auch weil entsprechende Ermittlungen die politischen Interessen wichtiger Staaten gestört hätten. Bei beiden UN-Tribunalen richtete sich die Hauptkritik gegen die Auswahl der Verfahren, vor allem dagegen, dass wesentliche Verbrechenskomplexe wie Kriegsverbrechen der Tutsi-Rebellen in Ruanda und der kosovarischen Befreiungsbewegung UCK sowie der NATO nicht ermittelt wurden. Dennoch haben beide Gerichte wichtige Grundlagenentscheidungen zu den juristischen Voraussetzungen von Völkermord, dem humanitären Völkerrecht, aber auch der Strafbarkeit sexualisierter Gewalt in bewaffneten Konflikten gefällt.

Auf der Basis dieser Erfahrungen konnte auf der internationalen Konferenz in Rom im Juni/Juli 1998 das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs verabschiedet werden, der wegen der überraschend schnellen Unterzeichnung vieler Vertragsstaaten – mittlerweile sind es 121 – seit 2002 in Den Haag tätig ist.

Internationaler Strafgerichtshof in Den Haag

Im Mittelpunkt der Römischen Konferenz wie der aktuellen Debatte über den IStGH steht die Frage, wer darüber entscheidet, in welchen Situationen Ermittlungsverfahren der Anklagebehörde eröffnet werden und gegen wen sich diese richten. Im Interesse einer unabhängigen Justiz wurde gegen die alleinige Entscheidungsmacht eines politischen Organs, des UN-Sicherheitsrats, entschieden und stattdessen eine Anklagebehörde mit einem Chefankläger mit großen Ermessensbefugnissen eingesetzt. Der erste Ankläger, der Argentinier Luis Moreno Ocampo, sah sich am Ende seiner neunjährigen Amtszeit im Sommer 2012 vielfältiger und harter Kritik ausgesetzt. Vor allem wurde ihm vorgehalten, ausschließlich Verbrechen auf dem afrikanischen Kontinent zu ermitteln und auch innerhalb der Verbrechenskomplexe, in denen seine Behörde aktiv ist, falsche Prioritäten gesetzt und wesentliche Gruppen von Akteuren sowie Verbrechenstypen von Strafverfolgung ausgenommen zu haben. So beschränken sich die Verfahren zu Uganda auf die dortigen Rebellen, während Verbrechensvorwürfen gegen die Regierung nicht nachgegangen wird; im Kongo-Komplex wird nicht gegen die maßgeblich involvierten Regierungen des Kongo, von Ruanda und Uganda vorgegangen, und auch die aktuelle Regierung der Elfenbeinküste muss sich noch nicht in Den Haag verantworten. Der erste Verurteilte in Den Haag, Thomas Lubanga, wurde nur wegen der Anwerbung von Kindersoldaten, nicht wegen sexueller Gewalt verurteilt. Auch an der Nichteröffnung formeller Verfahren in außerafrikanischen Fällen entzündet sich harte Kritik: So wird das Ausbleiben formeller Untersuchungen im Falle des Gazakriegs 2009 kritisiert, trotz massiver Verbrechen wird die Situation in Kolumbien seit Jahren von Den Haag nur beobachtet, statt formell ermittelt, und auch den Vorwürfen der systematischen Misshandlung von Gefangenen durch britische Militärs im Irak wird nicht nachgegangen.

Strafverfolgung in den Nationalstaaten

Schon bei den Beratungen auf der Römischen Konferenz zum Internationalen Strafgerichtshof 1998 spielten Nichtregierungsorganisationen eine große Rolle. Noch größer ist ihre Bedeutung bei der Initiierung und Führung zahlreicher Strafverfahren auf nationaler Ebene. Insbesondere in den Fällen der Militärdiktaturen von Chile (1973–1989) und Argentinien (1976–1983) nutzten Juristen- und Menschenrechtsorganisationen in Kooperation mit Opfern und Familienangehörigen die Gerichte verschiedener europäischer Staaten, um die in ihren eigenen Ländern herrschende Straflosigkeit zu überwinden. Vor allem in Spanien, aber auch in Frankreich, Italien und Deutschland wurde seit Mitte der 1990er Jahre mit dem Prinzip der Universellen Jurisdiktion argumentiert, um diese Drittstaaten zur extraterritorialen Strafverfolgung zu bewegen. Mit der Verhaftung des chilenischen Ex-Diktators Augusto Pinochet gelang der Menschenrechtsbewegung im November 1998 ein durchschlagender Erfolg.

Überall kamen ähnliche Bestrebungen in Gange. Es wurden Strafanzeigen und Klagen gegen Tatverdächtige aus aller Welt erstattet, unter ihnen hohe Politiker und Militärs aus mächtigen Staaten wie den USA, China, Russland und anderen. Doch die Bilanz über den Verlauf der vornehmlich von Nichtregierungsorganisationen initiierten Verfahren fällt auf den ersten Blick ernüchternd aus: Die meisten Verfahren wurden ohne wesentliche Ermittlungen eingestellt, lediglich in wenigen Fällen kam es überhaupt zu Gerichtsverhandlungen; die Angeklagten kommen alle aus afrikanischen oder besiegten und/oder schwachen Staaten wie Jugoslawien. Aus diesem Missverhältnis wird häufig geschlossen, dass die mit dem Anspruch von Universalität agierende transnationale Justiz lediglich in solchen Fällen aktiv wird, in denen die Strafverfolgung keine hohen politischen oder ökonomischen Folgekosten verursacht.

Krise des Völkerstrafrechts

In der Debatte um die internationale Strafjustiz werden diese hier nur angedeuteten Probleme meistens ausgespart, vor allem wird das Verhältnis von Recht und Politik selten erörtert. In dem Bemühen, ihre Entscheidungen als rein juristische erscheinen zu lassen, verstecken sich sowohl internationale als auch nationale Strafverfolger oft hinter vagen rechtlichen Kriterien wie der Schwere des Verbrechens oder Ermessenserwägungen – obwohl in allen hier angesprochenen historischen und in vielen aktuellen Situationen zu Recht der Vorwurf der politischen Selektivität erhoben wird. Allenthalben nehmen die Zweifel zu, ob sich rechtliche Erwägungen gegen politische Interessen durchsetzen lassen und ob die internationale Strafjustiz jemals Menschenrechtsverletzer aus mächtigen Staaten zur Verantwortung ziehen wird. Nicht zuletzt deswegen steckt das Völkerstrafrecht derzeit in einer kleinen Krise.

Sowohl die kritische Öffentlichkeit in den westlichen Ländern als auch Regierungen und nichtstaatliche Akteure aus dem globalen Süden nehmen Anstoß an der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Der Anspruch des Völkerstrafrechts lautet, universell und ohne Ansehen der Person und Funktion die höchsten Verantwortlichen für die schwersten Verbrechen strafrechtlich zu verfolgen und gleiches Recht gegenüber allen anzuwenden. Eine von Diskriminierung geprägte Normanwendung hat mit Gerechtigkeit wenig zu tun, und das Strafrecht lebt von der Erwartung, dass verletzte Normen durch Verfahren wieder stabilisiert werden, Unrecht als solches gekennzeichnet wird und auf einen Gesetzesverstoß Sanktionen erfolgen. Mit diesem Versprechen auf Universalität hat man viele afrikanische und südamerikanische Staaten dazu gebracht, den IStGH zu unterstützen und dessen Statut zu unterzeichnen. Sollten in der Praxis des Völkerstrafrechts allerdings dauerhaft nur die Besiegten und Schwachen unter Anklage gestellt werden, geht nicht nur der Anspruch auf Universalität verloren, sondern die reale politische Grundlage des Projektes gerät in Gefahr.

Derzeit sind es vor allem Nichtregierungsorganisationen, die von einflussreichen Menschenrechtsverletzern begangene Völkerstraftaten skandalisieren und vor Gericht bringen. Sie greifen Sachverhalte auf, die von staatlichen Behörden vernachlässigt wurden, etwa die massiven sexuellen Gewaltstraftaten, die in fast allen Konflikten begangen werden, die Beteiligung wirtschaftlicher Akteure, insbesondere transnationaler Unternehmen, an Straftaten und solche Völkerstraftaten, die von Bürgern mächtiger Staaten verübt wurden.

Als Beispiel dafür sind etwa unter anderem die Bemühungen zu nennen, US-Militärs, Geheimdienstler und Politiker für Menschenrechtsverletzungen im "Kampf gegen den Terror" verantwortlich zu machen. Auf den ersten Blick verliefen viele dieser Versuche insofern erfolglos, als dass keiner der hochrangigen Tatverdächtigen vor Gericht erscheinen musste oder gar verurteilt wurde. Allerdings haben beispielsweise Behörden und Gerichte in Polen und Litauen Strafverfahren eingeleitet, nachdem bekannt wurde, dass die USA dort Geheimgefängnisse betrieben. Wegen der CIA-Entführungsflüge müssen sich CIA-Agenten in Italien und Deutschland strafrechtlich verantworten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte Mazedonien wegen deren Beteiligung an der Entführung und Misshandlung des deutschen Staatsbürgers Khaled al-Masri und Großbritannien wegen Gefangenenmisshandlungen im Irak. Eine Reihe hochrangiger Geheimdienstler, Militärs und Politiker, unter ihnen niemand geringerer als der ehemalige Präsident George W. Bush, verzichten auf Reisen nach Europa beziehungsweise sagen einzelne Reisen ab – aus Sorge vor drohender Strafverfolgung. An diese vor Jahren noch nicht vorstellbare positive, wenn auch nicht hinreichende Entwicklung ließe sich anknüpfen. Es könnte damit begonnen werden, den Strafverfolgungsanspruch im Fall von Völkerstraftaten auch dann durchzusetzen, wenn es politisch oder ökonomisch teurer wird als bei der Verhaftung ruandischer Asylsuchender. Allerdings müsste dafür auch in den jeweils betroffenen Gesellschaften der Boden bereitet und das Anliegen universeller Gerechtigkeit in geeigneter Weise kommuniziert werden.

Am besten kann dies gelingen, wenn die angesichts der aufgezeigten historischen Entwicklung erreichten Fortschritte hinlänglich gewürdigt und der Erfolg und Nichterfolg von Völkerstrafverfahren nicht nur an oberflächlichen äußerlichen Parametern wie der gelungenen oder ausgebliebenen Inhaftierung eines maßgeblichen politischen oder militärischen Führers oder der Verurteilung festgemacht wird.

Gerechtigkeit und Wiedergutmachung?

Die Wirksamkeit des Strafrechts als Reaktion auf staatlich organisiertes oder verstärktes Unrecht wird zwar grundsätzlich in Frage gestellt. Angesichts der dramatischen und langwierigen persönlichen und gesellschaftlichen Folgen von Völkerrechtsverbrechen und der oft mit ihnen verbundenen Zivilisationsbrüche sind Schweigen, Sprachlosigkeit und prinzipielle Zweifel an den Möglichkeiten einer strafrechtlichen Aufarbeitung des Geschehens verständlich. Vor zu hoch gesteckten Erwartungen an Gerechtigkeit und Wiedergutmachung durch Strafverfahren ist sicherlich zu warnen. Geht man jedoch mit einer gewissen Demut angesichts unvorstellbarer und im ersten Moment schwer erklärbarer Ereignisse sowie einem gewissen Pragmatismus an die Sache heran, lässt sich eine Reihe von Erfolgen und positiven Wirkungen konstatieren. Dies gilt umso mehr, wenn man die Länder betrachtet, in denen keinerlei strafjustizielle Aufarbeitung stattfand und sich Gewalt immer wieder reproduziert wie in Tschetschenien und Sri Lanka. Aber auch in Ländern wie Spanien, in denen Jahrzehnte nach einem auf den ersten Blick erfolgreichen Schlussstrich ohne Prozesse Brüche und innergesellschaftliche Spannungen offenbar werden, erweist sich Nichtstun mithin als keine sinnvolle Alternative.

Sorgfältig geführte strafrechtliche Ermittlungen können Tatsachenberichte produzieren, die sowohl für die gesellschaftliche als auch die historische Debatte wichtiges Ausgangsmaterial darstellen. Anders als Berichte von Intellektuellen, von Nichtregierungsorganisationen oder Wahrheitskommissionen stellen Strafverfahren keine subjektive, mehr oder weniger qualitätsvolle Zusammenstellung und Bewertung von Meinungen und Tatsachen dar, die beliebig zu übernehmen oder bestreiten wäre. Vielmehr kommen in einem (optimalerweise) fairen Verfahren möglichst alle am Geschehen Beteiligten zu Wort, bevor das Gericht als von der Gesellschaft dafür vorgesehene Instanz die streitigen Tatsachen rational bewertet und zu autoritativen Feststellungen kommt. So nimmt jede Nachkriegsdiskussion und jeder Historikerdisput in Deutschland Bezug auf die Nürnberger Urteile und Prozessakten, auch wenn dort nur bestimmte Fragen in der Anklageschrift und der Hauptverhandlung gestellt und im Urteil beantwortet werden. Die Wertigkeit des auf diese Weise gewonnenen Materials ist nicht notwendigerweise von der Verurteilung des oder der Angeklagten abhängig.

Bestimmte Tatsachenfeststellungen können selbst Geschichtsrevisionisten nicht ignorieren, wie beispielsweise in den argentinischen Diktaturverfahren der vergangenen Jahre zu besichtigen war. Die detaillierte öffentliche Beschreibung des Systems des Verschwindenlassens, der tausendfachen Inhaftierung von Regimegegnern in geheimen Lagern und der Folter auch an Frauen und Kindern entzieht der Rechtfertigung der argentinischen Militärs, zum Wohle und Schutze des christlichen Vaterlandes vor der kommunistischen Verschwörung gehandelt zu haben, jede Rechtfertigung.

Ebenfalls unabhängig von den Ergebnissen der Strafverfahren ist die heilsame Wirkung mündlicher und öffentlicher Strafprozesse. Den Geschädigten staatlicher Gewalt und deren Familienangehörigen wird in einem staatlichen Forum – oft erstmals – die Möglichkeit gegeben, das Erfahrene zu schildern und das Gericht, die Angeklagten und die Öffentlichkeit zum Zuhören zu zwingen. Die Überwindung des mitunter sehr langen Schweigens, die Teilnahme an den Prozessen als mit eigenen Rechten ausgestattete Subjekte kann bei der Überwindung individueller und gesellschaftlicher Traumata wichtige Impulse liefern.

Dazu kommt, dass Opfer, Familienangehörige und ihre Organisationen oft entscheidende Rollen bei der Einleitung von Strafverfahren spielten. Diese aktive Partizipation, oft bereits im frühen Stadium von Prozessen und ebenfalls unabhängig vom Ausgang derselben, hilft ihnen dabei, die Opferrolle zu überwinden.

Eine wichtige Wirkung von transnationalen Strafverfahren lässt sich insbesondere für die von Opfern der argentinischen und chilenischen Militärdiktatur in Europa angestrengten Prozesse konstatieren, der sogenannte Videla-Pinochet-Effekt. Die Skeptiker schrieben zwar in ihren Nachrufen beim Tod des chilenischen Diktators Pinochet, dass der Gerechtigkeit nicht genüge getan wurde, weil er bis zum Lebensende unbestraft blieb. Abgesehen davon, dass sich Pinochet in seinen letzten Lebensjahren mit ärztlichen Attesten als verhandlungsunfähig selbst aus dem Verkehr zog und immer wieder neuen Verfahren ausgesetzt war, verkannten die Skeptiker insbesondere die Rückwirkung der europäischen Verfahren auf Chile und noch deutlicher auf Argentinien. Die Situation der mehr oder weniger vollständigen Straflosigkeit konnte durch die Aktivitäten europäischer Strafverfolger aufgebrochen werden. Sowohl in Chile als auch in Argentinien verstärkten Menschenrechtsorganisationen und Juristen ihre Bemühungen und erreichten, dass in beiden Ländern immense Ermittlungen aufgenommen und eine beträchtliche Zahl von höchsten politischen und militärischen Verantwortlichen verurteilt wurde, insbesondere in Argentinien.

Die Zwischenbilanz der völkerstrafrechtlichen Praxis muss demnach gemischt ausfallen: Trotz durchaus klarer Rechtslage und eines jedenfalls abstrakt gegebenen Konsenses auf internationaler Ebene wird keineswegs auf jede Völkerstraftat strafrechtlich reagiert. Die Auswahl der Angeklagten ist zudem von politischer Selektivität geprägt. Dennoch ist anzuerkennen, dass sich in den vergangenen 20 Jahren eine beachtliche Praxis sowohl auf internationaler als auch nationaler Ebene herausgebildet hat. Der nächste Schritt muss die diskriminierungsfreie Anwendung des Völkerstrafrechts sein, ansonsten steht die Legitimation des gesamten Projektes in Frage.

Geb. 1960; Rechtsanwalt und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights e.V. (ECCHR), Zossener Straße 55–58, 10961 Berlin. E-Mail Link: kaleck@ecchr.eu