Deutschlands Grenzen: Tauziehen um das Recht auf Bewegungsfreiheit
Illegalisierte Freiheit
Dies veranschaulicht auch die Geschichte von Ferhad (Name geändert). Er ist Vater mit Leib und Seele. Wenn er seinen zwei Jahre alten Sohn auf die Rutsche setzt, ziert ein breites Lächeln sein Gesicht. Das mit der großen Nase, dem dunklen Teint und den schwarzen Haaren. Er ist einer der Menschen, die mit ihrer Anwesenheit dafür sorgen, dass Politiker davon sprechen, Deutschland sei ein weltoffenes Land. Ist es auch. Selbst wenn Ferhad ein Teil dieser Welt ist, der gar nicht in Deutschland sein dürfte. Aber auf dem Spielplatz wie an vielen Orten unseres Alltags trifft sich die ganze Welt. Im Sandkasten tummeln sich die Kinder der deutsch-deutschen Eltern – vom Arbeiter bis zum Akademiker –, aber auch afro-deutsche Kids, indische, marokkanische, griechische und eben Ferhads Sohn.Der Kurde ist illegal nach Deutschland gekommen. Mit dem LKW aus Griechenland. Zu sechst versteckten sie sich auf der Ladefläche, 3.000 Euro habe er für den Transport bezahlt. In München ließen ihn die Schlepper raus. Er rief seinen Cousin in Hannover an, der in abholte. Ferhad stellte einen Asylantrag, lebte im Asylheim, fasste aber schnell Fuß. House keeping habe er gemacht, in einem Hotel die Zimmerböden gesaugt. Und vor allem in Restaurants in der Küche gearbeitet.
Ferhads Asylantrag wird nicht anerkannt – das wusste er schon vorher –, er bleibt mit einer Duldung im Land. Die deutschen Behörden schieben ihn nicht ab. Er zeigt auf seine Fingerkuppen, "isch habe nix gegeben", er konnte es in Griechenland immer vermeiden, seine Fingerabdrücke registrieren zu lassen. Wäre er dort registriert, hätte man ihn bei einem Asylantrag in Deutschland auf Grundlage europäischer Regelungen zurück nach Griechenland geschickt. Vor drei Jahren folgte seine Frau aus dem Irak. Mittlerweile hat sie das zweite Kind geboren. Zu viert leben sie auf 45 Quadratmetern in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Seit drei Jahren. Ständig meldet er sich auf Wohnungsanzeigen, neulich besichtigte er eine 80-Quadratmeter-Wohnung. "Ich zahle sogar mehr Provision", habe er der Maklerin gesagt. Aber gegen ein junges Paar mit Job hatte er keine Chance. Im Moment hat Ferhad keine Arbeit. Sein Ziel lautet jetzt "B1". Er besucht einen Deutschkurs und will die Voraussetzungen dafür schaffen, dass er eine richtige Aufenthaltserlaubnis ergattern kann.
2002 war der Kurde zum ersten Mal aus dem Irak geflohen. Über die Türkei und das Grenzgebiet am Evros-Fluss rüber nach Griechenland. "Wir sind viel zu Fuß gelaufen", verzieht er das Gesicht, "das war schwierig." In Saloniki wurde er als Illegaler festgenommen. Vier Mal sei er in die Türkei zurückgeschoben worden. Einmal habe ihn die Türkei in den Irak abgeschoben. Er gab zunächst auf und wartete. 2004 versuchte er es dann noch einmal. "Ich habe viel Geld verloren", resümiert er, aber aus seiner Sicht hat es sich gelohnt.
In Griechenland findet er Arbeit bei einem Dachdecker. Er schleppt Ziegel. Für 40 Euro am Tag. "Ich habe schneller geschleppt als andere und auch bei anderen Arbeiten geholfen", grinst der kräftige Mann. Sein Meister sollte sehen, dass er gut arbeitet. Dann hat sein Chef den anderen Helfer entlassen und ihn behalten. Er bekam fortan 70 Euro. Gutes Geld für ihn. Aber dort hatte er trotzdem keine Perspektive auf eine reguläre Aufenthaltserlaubnis, winkt er ab. Sein "Ausweis", erklärt Ferhad, war "schwarz". Ein gefälschter Aufenthaltstitel, der von einem Iraker an den anderen weitergereicht wird. Die Gültigkeit musste er immer wieder erneuern. Dass das Papier gefälscht wurde, fiel nicht auf. Bevor er Griechenland verließ, habe er es für 300 Euro verkauft. Als die Wirtschaftskrise in Griechenland ausbrach, wurde es immer schlechter mit den Jobs, erzählt der Kurde, dazu die Konkurrenz zu den "neuen Leuten", die ins Land kamen. Er wollte weg und ging nach Deutschland, weil hier zwei seiner Cousins und drei seiner Schwestern leben.
Zurückzukehren in den Irak kommt für ihn nicht infrage. Den Leuten im kurdischen Norden des Iraks gehe es zwar relativ gut, aber das gelte hauptsächlich für Muslime. Christen und Yeziden würden diskriminiert. Die Polizei drangsaliere sie, helfe ihnen bei Übergriffen nicht. Auch bei der Arbeitssuche würden sie benachteiligt. "Deswegen gehen viele Christen und Yeziden nach Europa", erklärt Ferhad. Er ist Yezide. "Du glaubst an die Sonne?", frage ich ihn. "Ja", antwortet er.
Ferhad und Arrash wissen – so wie viele Menschen, die auf ähnlichen Wegen in die EU gelangen –, dass es möglich ist, die EU-Grenzen zu überwinden. Dabei sind das mörderische Grenzen. Etwa 1.500 Menschen sind im Jahr 2011 laut Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) beim Versuch, europäisches Festland zu erreichen, im Mittelmeer ertrunken. Ins Boot steigen nur jene Flüchtlinge, die keine andere Möglichkeit sehen. Aber auch über diesen Weg haben es im selben Jahr 58.000 Menschen geschafft. Das ist das Entscheidende. Die Migranten wissen, dass sie ihr Leben riskieren, aber auch, dass sie es schaffen können.

Die Migranten rebellierten, nachdem ihnen die griechischen Polizisten, welche die Unterkünfte bewachen, mitgeteilt hatten, dass ihre Haftzeit von 12 auf 18 Monate verlängert wird. Sie weigerten sich, in die Container zurückzukehren, wurden geschlagen, begannen mit Steinen zu werfen und wurden von der Polizei dann unter dem Einsatz von Tränengas und Schlagstöcken niedergerungen, so berichten Zeugen. Die inhaftierten Migranten beklagen immer wieder Gewalt und Beleidigungen seitens der Polizei. Die Öffentlichkeit sowohl in Griechenland als auch im Rest Europas schaut größtenteils weg.
"Die Verlagerung der Grenzkontrollen an die Ränder der Europäischen Union geht einher mit der Ausbreitung von Migrationsgefängnissen", und das Frappierende dabei ist: Nach dem Fall der Berliner Mauer, "nach dem Siegeszug der ‚Freiheit‘ also, hat sich ein System der Abschiebegefängnisse etabliert, in die Menschen nur deshalb eingesperrt werden, weil sie das Versprechen der Freiheit ernst nehmen".[4] Das Grenzregime stellt jedoch ein Paradoxon dar: Es soll die Bewegung von Menschen verhindern, in einer Welt, die mehr denn je durch Mobilität gekennzeichnet ist. Die Kontrollen stellen eine künstliche Verknappung des Gutes Bewegungsfreiheit dar, das heute einfacher denn je hergestellt werden kann. Die andere Seite der Medaille ist daher, dass Migranten trotz der beschriebenen Politik durchbrechen.