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Monströsität, "das große Modell aller kleinen Abweichungen" | Monster | bpb.de

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Monströsität, "das große Modell aller kleinen Abweichungen"

Rolf Parr

/ 8 Minuten zu lesen

In nahezu allen seinen Arbeiten hat sich der französische Diskurstheoretiker Michel Foucault (1926–1984) für Machteffekte interessiert, die aus den Regelungen dessen resultieren, was gesagt werden darf, was nicht gesagt werden kann und was gesagt werden muss, kurz: für diejenigen Ordnungen von Diskursen, die bis in den Körper der einzelnen Subjekte hinein wirksam sind und soziale Gegenstände wie den "psychisch Kranken" zuallererst mit hervorbringen. Solche Machteffekte sieht Foucault für sehr viel effektiver an als explizit ausgesprochene und aufgeschriebene Ordnungen – etwa in Form von Gesetzen oder religiösen Normen –, denn sie führten zu einer Selbstüberwachung der Subjekte, müssten also nicht mehr ständig neu von außen durchgesetzt werden, da sie in den Subjekten selbst wirksam sind.

Diese subtile "Mikrophysik der Macht" hat Foucault insbesondere für solche Institutionen und Disziplinen wie die Psychiatrie, das Gefängnis und das Krankenhaus untersucht. Vor diesem Hintergrund ist auch seine Beschäftigung mit denjenigen Abweichungen von der Normalität zu sehen, die im Mittelpunkt seiner vom 8. Januar bis 15. März 1975 am Collège de France gehaltenen und erst nach seinem Tod veröffentlichten Vorlesung "Die Anormalen" (Les Anormaux) stehen: das Monster, der Aufsässige und der Onanist. Auch diese drei Figuren der Abweichung von der Normalität sind insofern soziale Gegenstände, als sie durch Diskursivierungen zuallererst mit hervorgebracht und "sichtbar" gemacht werden.

Diesen Prozess untersucht Foucault in seiner Vorlesung, indem er der "diskursive(n) Entwicklung des Monsters zur Anomalie" nachgeht, dem Schritt vom "Körpermonster" zum "Sittenmonster" als zwei verschiedenen Formen von Monströsität: Die eine ist die äußerliche, auf den ersten Blick sichtbare körperliche Abweichung, die das "Menschenmonster" als Zwitterwesen, als paradoxe Schwellenfigur ausweist, etwa als Mischwesen zwischen den Geschlechtern ("Hermaphroditen") oder den Gattungen ("Tiermenschen"). Zum anderen beobachtet und analysiert Foucault im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert aber auch solche Diskurse, die "Monströsität" als innere Abweichung konzipieren. Erst damit wird dem "Körper-" oder "Menschenmonster" das verbrecherische "Sittenmonster" an die Seite gestellt, und zwar als für die Gesellschaft sehr viel bedrohlicherer Fall, da man ihm – etwa in den Konkretionen des menschenfressenden oder inzestuösen Monsters – seine innere Monströsität von außen nicht ansieht.

Gerichtspsychiatrie

An diesem Punkt kommt die sich über das 19. Jahrhundert hinweg allmählich etablierende Psychiatrie, speziell die Gerichtspsychiatrie, ins Spiel, indem sie die drei von Foucault unterschiedenen Typen des Anormalen einer neuen Form des Wissens und einem neuen Typus von Macht unterwirft: Statt mit der juristischen Unterscheidung zwischen "schuldig" und "nicht schuldig" oder der medizinischen zwischen "krank" und "gesund" arbeiten die gerichtsmedizinisch-psychologischen Gutachten, die Foucault untersucht hat, mit der Differenz von "normal" versus "nicht normal" und – im Falle der Nicht-Normalität – mit eben dem Befund der "inneren Monströsität". Denn zur jeweiligen Tat, derer ein "Sittenmonster" beschuldigt wird, kommt durch die Gerichtspsychiatrie noch der Befund einer – wie auch immer gearteten – Anormalität hinzu, sei es als nicht-normaler "Trieb" oder als anormaler "Charakter". Beides aber heißt nichts anderes, als eine generell anormale Disposition des Beschuldigten anzunehmen, die immer wieder ähnlich deviantes Verhalten hervorbringt. Auf diese Weise wird der Kriminalität zugleich eine generell monströse Natur zugesprochen: "Das unsichtbare Monster, das Monster an sich wäre also", so der Literatur- und Kulturwissenschaftler Michael Niehaus, "der Trieb selbst".

Letztlich geht es also darum, nachzuweisen, "wie ähnlich das Individuum seinem Verbrechen bereits vor dessen Ausführung gewesen ist. Es werden Mängel im moralischen Sinne gesucht, die noch keine Krankheiten im pathologischen und noch keine Vergehen im gesetzlichen Sinne sind." Auf diese Weise konstituierte die Gerichtspsychiatrie "Menschentypen, die unabhängig von ihren Handlungen mit Verdacht umstellt werden", und von denen man annimmt, dass in ihnen "Taten vorhanden sind, die niemand sieht".

"Damit", so Magdalena Beljan, Mitherausgeberin der Zeitschrift "Body politics" am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, besitze das gerichtsmedizinisch-psychologische Gutachten "eine gleich mehrfache Funktion", denn es schließe "vom Delikt auf die Seinsweise" des anormalen Täters, Angeklagten, Beschuldigten, konstruiere ihn in seiner Spezifik "aus der Tat heraus" und empfehle schließlich "eine Bestrafung, die auf die Transformation des Individuums zielt". Auf diese Weise "wird innerhalb des Prozesses die Figur des Richters, der über die Tat zu richten hat, durch die des begutachtenden Arztes verdoppelt", womit die Gerichtspsychiatrie ein neues Wissen mit neuen Machteffekten produziere, das "weder eindeutig dem Gericht noch der Psychiatrie zuzuordnen" sei.

Doppelter Rechtsbruch

Dieser diskursiven Konstitution des Menschen- und auch des Sittenmonsters in der gerichtsmedizinisch-psychiatrischen Gutachtenpraxis liegt nach Foucault eine doppelte rechtliche Kategorisierung zugrunde, denn beide Typen des Monsters, das Körper- ebenso wie das Sittenmonster, werden als Abweichung sowohl vom "Gesetz der Natur" als auch vom "Gesetz der Gesellschaft" betrachtet. Das "Erscheinungsfeld des Monsters" sei damit "ein rechtlich-biologischer Bereich", innerhalb dessen es einen "doppelten Rechtsbruch" konstituiert. Es sei nämlich "nicht nur dadurch ein Monster, dass es eine Ausnahme im Verhältnis zur Form der Gattung darstellt, sondern auch aufgrund der Störung, die es unter den staatlich-rechtlichen Regularien anrichtet". Foucault weiter: "Man kann sagen, daß die Kraft und die beunruhigende Fähigkeit des Monsters darin gründet, daß es das Gesetz, obwohl es dieses verletzt, verstummen lässt", denn "Monströsität entsteht", wenn eine "Überschreitung des Naturgesetzes (…) sich auf ein gewisses Verbot des bürgerlichen, religiösen oder göttlichen Rechts bezieht oder es in Frage stellt oder sogar zu der Unmöglichkeit führt", es "in Anwendung zu bringen". Aus diesem doppelten Rechtsbruch wiederum resultiert bei Foucault ein paradoxer, durch eine Reihe von Widersprüchen charakterisierter Status des Menschen-, aber auch des Sittenmonsters: Es verbinde "das Unmögliche mit dem Untersagten" zu einem "niemals voll und ganz kontrollierte(n) Spiel zwischen der Ausnahme von der Natur und dem Bruch des Rechts", denn die "‚natürliche‘ Abweichung von der ‚Natur‘ verändert" zugleich immer auch "die rechtlichen Effekte der Überschreitung" und zwar ohne sie ganz auszulöschen.

Es sind solche Paradoxien und Zweideutigkeiten, durch die das Monster für Foucault charakterisiert ist. Zugespitzt lässt sich sagen, dass es in seiner Kombination zweier eigentlich nicht zugleich vorkommender, negativ gewerteter Abweichungen das genau spiegelbildliche Gegenteil der von Claude Lévi-Strauss in seinen Analysen indianischer Mythen herausgearbeiteten Tricksterfigur ist, die im Alltag eigentlich nicht gleichzeitig vorkommende positive Merkmale in sich vereint. Gerade der sexuelle Abweichler und in ganz besonderer Weise das "Inzestmonster" illustriert – wie wahrscheinlich kaum ein anderer Typus – bis heute den von Foucault so stark betonten doppelten negativen Verstoß gegen Natur und Recht, vereint es doch "das monströse Individuum" mit dem "sexuellen Abweichler".

Aktualisierungen?

Als Beispiel dafür aus jüngerer Zeit kann der in den Medien immer wieder als ein solches "Inzestmonster" bezeichnete Josef Fritzl dienen, der seine eigene Tochter jahrelang gefangen hielt, missbrauchte und mehrere Kinder mit ihr zeugte, zugleich nach außen hin aber ein "normales" Leben führte, sodass seine "innere", in einem extra angelegten Keller ausgelebte Monströsität von außen nicht erkennbar war. In dem Moment aber, in dem seine Tat 2008 in der Öffentlichkeit "sichtbar" wurde, glaubten Journalisten wie Zeitungsleser und Fernsehzuschauer in den ihnen dargebotenen Bildern von Fritzl eine auf seine "innere Monströsität" hindeutende Physiognomie des gefährlichen Anormalen zu erkennen. Die Abbildungen von Fritzls Gesicht wurden damit zu einer Textur, in der eigentlich schon alles zu finden gewesen wäre. Damit wurde das von Foucault für das 19. Jahrhundert beschriebene Denkmodell der Gerichtspsychiatrie – medial vermittelt – noch einmal massenhaft nachvollzogen.

Mit Blick auf Foucault ist allerdings zu fragen, ob ein solch aktuelles Beispiel wirklich noch mit seiner Konzeption des Monströsen zu verbinden ist. Denn folgt man dem Diskursanalytiker Foucault, dann müsste man die von ihm stets so stark betonte "historische Bedingtheit diskursiver Formationen" (ihr "historisches apriori") auch für seine Überlegungen zum Monster ernst nehmen und sagen, dass er eine diskursive Gemengelage analysiert hat, die für den "Moment" des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhunderts gültig ist, aber eben auch nur für diesen.

Von der Analyse des Monströsen zur Regierungskunst

Dem ließe sich entgegenhalten, dass Entwicklungen über die historischen Schnitte hinweg auch schon bei Foucault vorhanden sind. So erscheint das Monströse bereits in "Die Anormalen" als Effekt einer spezifischen Form von "Regierung", wobei es zwar noch vorwiegend um präskriptiv-juridische Normen geht, der Schritt von der Analyse der Anormalen zur Gouvernementalität auf diese Weise jedoch in den Vorlesungen von 1974/1975 schon angelegt ist. Denn das Sittenmonster (ebenso wie der Aufsässige und der Onanist) musste unweigerlich zum Gegenstand einer staatlichen "Sorge" um die Gesamtbevölkerung werden; mit Foucault gesprochen: zum Gegenstand der Regierungskunst im Sinne von "Gouvernementalität", und zwar mit dem Ziel, seine "innere Monströsität" nachzuweisen und gleichsam nach "außen" zu holen.

Von daher mussten die Analysen zu den "Anormalen" in die beiden Vorlesungen zur "Gouvernementalität" von 1977/1978 und 1978/1979 einmünden. Das dort entwickelte Konzept einer neuen Form des Regierens führte auch zu einem neuen Verständnis von Normalität und Anormalität. Ging es zuvor um die normative Ausgrenzung des individuell Anderen, so jetzt um statistische Abweichungen bezogen auf die Gesamtbevölkerung. Das ist der Punkt, der Foucaults Arbeiten zur Regierung beziehungsweise Gouvernementalität und die Vorlesung zu den Anormalen miteinander verbindet, beide aber auch unterscheidet: Ihnen liegen verschiedene Konzeptionen von Normalität zugrunde, nämlich zum einen eine tendenziell juridisch-präskriptive, die Normen im Vorhinein der konkreten Fälle aufstellt, zum anderen eine tendenziell flexibel-normalistische, die immer nur im Nachhinein der Fälle und Ereignisse feststellen kann, was als normal und was als anormal gelten kann.

Ihren übergeordneten Zusammenhang finden die drei von Foucault untersuchten Gruppen von Devianzen – das Menschenmonster, das korrektionsbedürftige (aber nicht korrektionsfähige) Individuum und der Onanist – schließlich in jenen "Theorie(n) der 'Degeneration'", wie sie allen statistikbasierten Krisenszenarien von Bevölkerungsentwicklungen zugrunde liegen. Dann wäre Foucaults Diktum womöglich umzukehren und das Monströse als "das kleine Modell aller großen Abweichungen" anzusehen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Michel Foucault, Die Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976.

  2. Einen Überblick bietet: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider (Hrsg.), Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart–Weimar 2008.

  3. Michel Foucault, Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974–1975), Frankfurt/M. 2007, S. 78 (Originalausgabe: Michel Foucault, Les Anormaux: Cours au Collège de France, 1974–1975, Paris 1999).

  4. Beate Ochsner, DeMONSTRAtion. Zur Repräsentation des Monsters und des Monströsen in Literatur, Fotografie und Film, Heidelberg 2009, S. 93.

  5. M. Foucault (Anm. 3), S. 78f.

  6. Vgl. Rolf Parr, Monströse Körper und Schwellenfiguren als Faszinations- und Narrationstypen ästhetischen Differenzgewinns, in: Achim Geisenhanslüke/Georg Mein (Hrsg.), Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen, Bielefeld 2009, S. 19–42.

  7. Michael Niehaus, Das verantwortliche Monster, in: A. Geisenhanslüke/G. Mein (Anm. 6), S. 81–101, hier: S. 92 (Herv. i. O.).

  8. Foucault über die Anormalen und die Psychiatrie, in: Information Philosophie, o.D., www.information-philosophie.de/?a=1&t=2904&n=2&y=1&c=38 (5.11.2013).

  9. Sebastian Susteck, Von Menschen-Monstern. Michel Foucaults Vorlesungen aus dem Jahr 1974–75 erzählen von Urbildern der Abirrung und der Geburt der Psychiatrie, in: Telepolis, 27.12.2003, Externer Link: http://www.heise.de/tp/artikel/16/16345/1.html (5.11.2013).

  10. Magdalena Beljan, Vorlesungen zu Psychiatrie/Disziplinierung, in: C. Kammler/R. Parr/U.J. Schneider (Anm. 2), S. 138–149, hier: S. 145. Vgl. auch Andrew N. Sharpe, Foucault’s Monsters and the Challenge of Law, Abingdon 2010.

  11. M. Foucault (Anm. 3), S. 421f.

  12. Ebd., S. 77.

  13. Ebd., S. 87.

  14. Ebd., S. 422.

  15. Ebd., S. 423.

  16. Vgl. Claude Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, Frankfurt/M. 1967. Insofern ließe sich sagen, dass die Tricksterfigur für Übererfüllung, das Monster für Untererfüllung des "Normalen" steht.

  17. M. Foucault (Anm. 3), S. 76.

  18. Vgl. Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt/M. 2004; ders., Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt/M. 2004.

  19. Ders. (Anm. 3), S. 428.

  20. Vgl. Thomas Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2007.

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Dr. phil., geb. 1956; Professor für Literatur- und Medienwissenschaft; Mitherausgeber des "Foucault-Handbuchs"; Universität Duisburg-Essen, Universitätsstraße 12, 45141 Essen. E-Mail Link: rolf.parr@uni-due.de