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Widerstand und Selbstbehauptung von Juden im Nationalsozialismus | Widerstand | bpb.de

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Widerstand und Selbstbehauptung von Juden im Nationalsozialismus

Andrea Löw

/ 16 Minuten zu lesen

Die Hauptsache, daß mein Traum verwirklicht ist. Ich habe es erlebt, eine Widerstandsaktion im Warschauer Getto. In ihrer ganzen Pracht und Größe." Dies schrieb Mordechai Anielewicz, Kommandeur der Jüdischen Kampforganisation, während des Aufstands im Warschauer Getto kurz vor seinem Tod an einen Freund.

Dieser Aufstand ist der bekannteste Akt jüdischen Widerstands in Europa. Daneben verblassten andere Formen der Auflehnung und Selbstbehauptung von Jüdinnen und Juden in der Zeit des Nationalsozialismus. Ihm gleichsam entgegengestellt wurde lange das Narrativ der jüdischen Massen, die passiv geblieben und "wie die Schafe zur Schlachtbank" gegangen seien.

Abgesehen davon, dass diese Wertung immer nur im Hinblick auf die jüdischen Verfolgten des NS-Regimes gemacht wurde: Die Frage, warum sich nicht mehr Juden zur Wehr gesetzt hätten, ignoriert die spezifischen Bedingungen, unter denen die ausgegrenzten, isolierten und geschwächten Juden handelten. Ihr liegt außerdem ein sehr enger Widerstandsbegriff zugrunde, der all diejenigen diskreditiert, die nicht mit Waffen gekämpft haben.

In den vergangenen Jahren hat sich die Wahrnehmung jüdischer Reaktionen auf Verfolgung und Vernichtung deutlich ausdifferenziert. Die Vielfalt von Handlungsweisen, die Forscherinnen und Forscher inzwischen auf Seiten der verfolgten Juden beschreiben, zeigt, dass von allgemeiner Passivität keine Rede sein kann.

Die Formen, die widerständiges Verhalten annehmen konnte, hatte viel mit den Bedingungen im jeweiligen Land zu tun. Jüdische Traditionen oder der Grad der Assimilation spielten hier eine Rolle, vor allem aber die Einstellungen der lokalen Bevölkerung und die Art und Geschwindigkeit, in der die Nationalsozialisten die antijüdische beziehungsweise die Vernichtungspolitik umsetzten. Ein zentraler Faktor ist außerdem der Zeitpunkt, der bestimmte, gegen was Juden sich auflehnten: Ausgrenzung, Verfolgung oder Massenmord.

Juden schlossen sich in Ländern, in denen sie in hohem Maße in die Mehrheitsgesellschaft integriert waren, eher den jeweiligen nationalen, meist kommunistischen oder sozialdemokratischen Gruppen an, denen sie auch schon in der Vorkriegszeit politisch nahestanden. Dem gegenüber existierten in Ostmittel- und Osteuropa eigene jüdische Parteien und Organisationen aller politischen Richtungen, aus denen sich dann der Widerstand formierte, die aber auch Selbsthilfe und verschiedene Arten geistiger Behauptung organisierten.

Europaweit gab es verschiedenste widerständige Handlungen von Juden. Zu nennen ist hier neben bewaffneten Aktionen in Gettos und sogar in Vernichtungslagern das Wirken von Partisanen in verschiedenen Ländern, Fluchten in die Wälder und das Untertauchen auf der "arischen" Seite. Untergrundorganisationen verteilten Flugblätter und Zeitschriften, manch einer versuchte, die Arbeit in den Fabriken und Werkstätten in den Gettos zu sabotieren.

In Westeuropa inklusive Deutschland lag der Fokus auf der Rettung von Menschenleben, vor allem durch organisierte Hilfe bei der Flucht in sichere Staaten oder das Untertauchen im eigenen Land. Ungefähr 1700 Juden überlebten etwa in Berlin im Versteck oder unter Annahme einer falschen Identität. Speziell die Rettung von Kindern stand im Mittelpunkt vieler Bemühungen. So war eine der Aufgaben des Jüdischen Verteidigungskomitees in Belgien die organisierte Rettung von Kindern vor der Deportation. Im Laufe der Zeit häuften sich Fluchten aus den Deportationszügen Richtung Auschwitz. In Frankreich waren Juden darüber hinaus am bewaffneten Widerstand beteiligt, auch in einer eigenen bewaffneten Einheit, der 1943 aus verschiedenen Gruppierungen gegründeten Armée Juive. Auch kämpften zuvor emigrierte oder geflohene Juden in den alliierten Armeen gegen Nazi-Deutschland.

Doch nicht nur nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs widersetzten sich Juden. Unter anderen Vorzeichen – das Regime verfolgte zwar die jüdische Minderheit, war aber noch nicht zum Massenmord übergegangen – protestierten Juden im Deutschen Reich, weigerten sich, Anordnungen zu befolgen oder waren besonders in linken Widerstandsorganisationen aktiv. Die wohl bekannteste und größte jüdische Widerstandsgruppe im Deutschen Reich war die Berliner Gruppe um Herbert Baum, die schon früher aktiv war, besonders aber seit Ende 1941 in größerem Umfang durch Kampfschriften und Aufrufe in Erscheinung trat und im Mai 1942 einen Brandanschlag auf die Berliner Ausstellung "Das Sowjetparadies" verübte. Die zionistische Chaluz-Bewegung bereitete Jugendliche auf ihre Emigration nach Palästina vor und verhalf vielen zur Flucht.

Konrad Kwiet und Helmut Eschwege, die bereits früh die verschiedenen Arten "nonkonformen Verhaltens" der Juden im nationalsozialistischen Deutschland untersucht haben, unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen Verweigerung (Flucht, Untergrund, Fluchthilfe und Selbstmorde) und Abwehr (offener Protest, illegale Schriften, Attentate, Sabotage, später das Handeln einzelner Deportierter im Getto, in den Lagern und bei den Partisanen).

Die Situation der jüdischen Aktivisten war komplizierter als die der nichtjüdischen nationalen Gruppen, und zumindest in Osteuropa organisierten die über viele Gettos verstreut und damit voneinander isoliert lebenden Juden ihr Handeln im Angesicht einer umfassenden gegen sie gerichteten Vernichtungspolitik. Sie waren auf Hilfe von außen angewiesen, doch standen ihnen erhebliche Teile der jeweiligen lokalen Bevölkerung gleichgültig oder gar feindselig gegenüber. Und für viele, die sich tatsächlich für den bewaffneten Widerstand entschieden, war damit ein dramatisches moralisches Dilemma verbunden, wie in der Folge am Beispiel der Gettos in den vormals polnischen Gebieten aufgezeigt werden soll.

Ein erheblicher Teil der von den Nationalsozialisten verfolgten und in den meisten Fällen ermordeten Juden machte die Erfahrung, in einem Getto leben zu müssen. Zur Waffe griffen nur die wenigsten von ihnen. Aber diese Menschen reagierten auf vielfältige Art und Weise auf Verfolgung und Erniedrigung. Sie organisierten ihr Leben neu, viele von ihnen kämpften ohne Waffen ebenfalls einen heroischen Kampf – sie kämpften gegen Hunger und Krankheiten, für die Bildung ihrer Kinder, für ihr kulturelles Leben und um ihre körperliche und geistige Selbstbehauptung. In einem noch direkteren Sinne widersetzten sie sich unbewaffnet den Nationalsozialisten. Ungeheuer erfolgreich kämpften sie gegen deren Ziel, nicht nur die Menschen, sondern auch die Erinnerung an sie und die an ihnen begangenen Verbrechen auszulöschen: Sie schrieben Tagebücher und Chroniken, sammelten Dokumente und schmuggelten diese gar aus den besetzten Gebieten heraus, manche fotografierten oder malten Bilder.

Probleme des Widerstands: Das besetzte Polen

In mindestens 50 Gettos im besetzten Polen entstanden bewaffnete Widerstandsgruppen. Es ist – wie auch im Falle der anderen europäischen Länder – kaum möglich, hier verlässliche Zahlen zu nennen. Zeitgenössische Quellen gibt es nur wenige, da Untergrundaktivitäten gerade nicht dokumentiert wurden, um sie geheim zu halten. Die meisten Informationen haben wir aus den Erinnerungen überlebender Kämpferinnen und Kämpfer. Doch lässt sich mit dieser Überlieferung kaum etwas über die vielen kleinen Gettos sagen, in denen möglicherweise auch Versuche unternommen wurden, sich bewaffnet den Besatzern entgegenzustellen oder Fluchten in die umliegenden Wälder zu organisieren.

Die Initiative zur Gegenwehr ergriffen zumeist jüngere Männer und Frauen, die bereits in politischen Organisationen beziehungsweise Jugendbewegungen zusammengeschlossen und in den Gettos weiterhin aktiv waren und sich regelmäßig trafen, um über die gegenwärtige Situation und angemessene Reaktionen zu diskutieren. Es waren oftmals diese politisch organisierten Gettobewohner, die sich in der Selbsthilfe durch Unterstützung der Ärmsten, aber auch für Bildung und Kultur engagierten. In vielen Gettos schmuggelten die unterversorgten Menschen Lebensmittel und Medikamente und widersetzten sich so der psychischen und physischen Vernichtung.

Als sie allmählich von den Massenmorden in den Vernichtungslagern oder durch Erschießungen erfuhren, erschien vielen von ihnen eine Revolte immer zwingender. Manche der dann entstehenden Bewegungen waren über die Gettogrenzen hinaus vernetzt. So gab es gute Kontakte zwischen der Jüdischen Kampforganisation ŻOB (Żydowska Organizacja Bojowa) in Warschau, Krakau und Tschenstochau. Andere Gruppierungen, gerade diejenigen in kleineren Gettos, mussten vollständig unabhängig voneinander agieren.

Lange stritten die Mitglieder der Untergrundbewegungen über den Sinn eines bewaffneten Aufstandes, der doch wahrscheinlich relativ geringe Wirkung haben, aber mit Sicherheit den Tod unzähliger unbewaffneter Frauen, Kinder und Männer nach sich ziehen würde. Konnte eine Handvoll Aktivisten sich dafür entscheiden zu kämpfen, wenn sie damit riskierte, das gesamte Getto einer brutalen Kollektivstrafe auszusetzen? Auch viele der sogenannten Judenräte, die jüdisches Leben unter deutscher Besatzung organisieren mussten, standen deshalb einem Aufstand eher skeptisch bis ablehnend gegenüber. Ihre Vorsitzenden, die in zahlreichen Gettos den Arbeitseinsatz der jüdischen Bevölkerung organisierten, gingen davon aus, dass die Besatzer ihre Arbeiter nicht ermorden würden. Diese Annahme hielten viele Menschen in den Gettos für plausibel, und die ersten Deportationen schienen sie in vielen Fällen zu bestätigen: Alte und Kranke wurden deportiert, Arbeiter bekamen die rettenden Ausweise, die ihnen bescheinigten, kriegswichtige Arbeit zu verrichten. Manch einem erschien es daher eine sinnvolle Strategie, auf Zeit zu spielen und darauf zu hoffen, dass sie dank ihrer Arbeit überleben würden, bis das Deutsche Reich den Krieg verlor.

Daher sollten Aufstände erst beginnen, wenn die Gettos aufgelöst wurden. Im Zuge der Getto-Liquidierungen in den Jahren 1942 und 1943 versuchten Juden in mehreren Gettos sich aufzulehnen, so in Tschenstochau und Białystok – und eben in Warschau.

Warschauer Getto: Selbstbehauptung und Aufstand

Im Warschauer Getto, dem größten im besetzten Polen, waren die Lebensbedingungen derart katastrophal, dass knapp 100.000 Menschen – fast ein Viertel der Bevölkerung – noch vor dem 22. Juli 1942, dem Beginn der Deportationen in das Vernichtungslager Treblinka, starben. Sie verhungerten und erlagen Krankheiten wie dem Fleckfieber oder der Tuberkulose. In einzelnen Monaten starben 5.000 Menschen.

Trotz oder gerade wegen dieser Bedingungen waren zahlreiche Menschen im Getto in Kultur und Bildung tätig, auch ein lebendiges religiöses Leben wurde aufrechterhalten. Geleitet von dem Bestreben, sich eine Gegenwelt zu der zerstörerischen Welt des Gettos zu schaffen, boten jüdische Künstler und Intellektuelle Konzerte und Theateraufführungen, veranstalteten Lesungen und organisierten Unterricht für die Kinder und Jugendlichen. Die Bedeutung dieser Aktivitäten kann, dies legen zahlreiche Selbstzeugnisse eindrucksvoll nahe, kaum überschätzt werden. Die im Getto Eingeschlossenen, von den deutschen Besatzern erniedrigt, setzten diesen Erfahrungen etwas entgegen, das mit ihrer früheren Welt, mit Humanität und Kultur in Verbindung stand.

Auch der spätere Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki war im Warschauer Getto eingesperrt. Er ging in seinen Erinnerungen der Frage nach, warum die Konzerte dort immer gut besucht waren, und benennt einen zentralen Punkt, wenn es um Musik und auch allgemeiner um Kultur in den Gettos geht: "Die unentwegt um ihr Leben Bangenden, die auf Abruf Vegetierenden waren auf der Suche nach Schutz und Zuflucht für eine Stunde oder zwei, auf der Suche nach dem, was man Geborgenheit nennt, vielleicht sogar nach Glück. Sicher ist: Sie waren auf eine Gegenwelt angewiesen." Diese Gegenwelt suchten sie in der Musik, in den Theatern, in Lese- und Diskussionskreisen.

In engem Zusammenhang mit diesen kulturellen Aktivitäten stehen die Versuche der Menschen, Leben und Sterben zu dokumentieren, die Erinnerung an sie und ihre Leiden mitzubestimmen. Diese Motivation war der Hintergrund zahlreicher in dieser Zeit entstandener Tagebücher und Berichte – und der Auslöser für die Gründung eines Untergrundarchivs bereits im November 1940. Die Gruppe um den Historiker Emanuel Ringelblum entfaltete eine eindrucksvolle Aktivität, der wir die wichtigsten Quellen zur Erforschung des Warschauer Gettos, aber auch des Schicksals der Juden in Polen unter deutscher Besatzung insgesamt verdanken.

Auch in anderen Gettos gab es groß angelegte Dokumentationsprojekte, wie das im Getto Litzmannstadt/Łódź innerhalb der jüdischen Verwaltung ins Leben gerufene Archiv, dessen Mitarbeiter unter anderem eine umfangreiche Tageschronik und eine Enzyklopädie verfassten, um das Gettoleben ausdrücklich für spätere Generationen zu dokumentieren und zu erklären. So ist es den Nationalsozialisten nicht gelungen, mit den Menschen auch die Erinnerung an sie auszulöschen und zugleich die Spuren ihrer eigenen Verbrechen zu verwischen.

Allen Versuchen, Leben zu organisieren und zu retten, setzten die Deutschen ein jähes Ende: Am 22. Juli 1942 begann die Deportation der Warschauer Juden. Bis zum 21. September verschleppten die Besatzer zwischen 260.000 und 300.000 Männer, Frauen und Kinder in das Vernichtungslager Treblinka und ermordeten sie dort – über 10.000 erschossen sie noch in Warschau, mehr als 11.000 Menschen deportierten sie in andere Lager. Danach lebten im verkleinerten "Restgetto" noch etwa 60.000 Juden, offiziell gemeldet waren lediglich 35.000. Diese hatten Arbeitsausweise, die sie noch eine Zeit lang berechtigten, zu leben, um zu arbeiten. Zahlreiche Gettobewohner flohen nun auf die "arische" Seite Warschaus und tauchten bei polnischen Bekannten unter. Während des Zweiten Weltkriegs lebten etwa 28.000 Juden in Warschau zeitweise im Versteck.

Ende 1942 gelang es, die bis dahin zumeist einzeln agierenden verschiedenen Untergrundgruppierungen in der Jüdischen Kampforganisation zu vereinen. Die Aktivisten verhandelten mit dem polnischen Widerstand, um Waffen zu bekommen, sie verfassten Aufrufe und Berichte über das ihnen inzwischen längst bekannte Schicksal der Deportierten. Viele im Getto zogen, auch wenn sie sich nicht dem aktiven Widerstand anschlossen, ihre Konsequenzen aus dem Sommer 1942 und bereiteten Bunker vor. Als am 18. Januar 1943 wieder eine "Umsiedlungsaktion" begann, stießen die deutschen Einheiten auf Widerstand: Die Menschen im Getto versteckten sich, und die Aktivisten der Jüdischen Kampforganisation leisteten bewaffnete Gegenwehr. Schätzungsweise 5.000 Menschen wurden dennoch deportiert, 1.170 Menschen im Getto erschossen. Vom Widerstand überrascht, brachen die Deutschen die "Aktion" nach wenigen Tagen jedoch ab.

In der Nacht vom 18. auf den 19. April 1943 begannen Gendarmen, das Getto zu umstellen, woraufhin die Kämpfer, die sie bereits erwarteten, das Feuer eröffneten. Ihre Entschlossenheit und auch der Überraschungseffekt konnten das erhebliche Ungleichgewicht der Kräfte anfangs ausgleichen, und die Deutschen zogen sich zunächst zurück. In den nächsten Tagen kam es immer wieder zu vereinzelten Kämpfen, doch setzte sich nun die deutliche Übermacht der schwer bewaffneten SS durch. Überdies befahl der zuständige SS-Befehlshaber Jürgen Stroop seinen Einheiten, systematisch die Häuser niederzubrennen, um die Menschen aus ihren Verstecken zu zwingen. Am 8. Mai entdeckten sie den Bunker der Kommandantur der Jüdischen Kampforganisation mit Mordechai Anielewicz an der Spitze. Sie umstellten ihn, blockierten die Ausgänge und leiteten Gas hinein, um die Kämpfer zur Aufgabe zu zwingen. Anielewicz und seine Kameraden nahmen sich vermutlich das Leben.

Weitere Beispiele: Białystok und Krakau

In Białystok war es erst einen Monat vor der Auflösung des Gettos gelungen, aus zwei politisch miteinander konkurrierenden Organisationen eine gemeinsame Untergrundbewegung zu bilden. An ihrer Spitze standen der Zionist Mordechai Tenenbaum und der Kommunist Daniel Moszkowicz. Lange Zeit hatten politische Differenzen eine Zusammenarbeit verhindert, sie war daneben vor allem an der Frage gescheitert, ob es sinnvoller sei, einen Aufstand im Getto zu wagen, oder ob man besser auf den Partisanenkampf in den Wäldern setzen sollte. Doch konnte man Familien und Freunde, Alte und Kinder allein im Getto zurücklassen? Oder sollte nicht besser das ganze Getto gemeinsam kämpfen und so eine Massenflucht ermöglichen? Einige Einheiten gingen schließlich mit Waffen in die Wälder, doch die meisten Frauen und Männer, die dem Untergrund angehörten, bereiteten sich auf einen Aufstand im Getto vor.

Hitzige Diskussionen darüber, wann ein Aufstand begonnen werden solle, endeten mit dem Ergebnis, dass dies nicht der Fall sein solle, solange es noch Hoffnung gab, das Leben zumindest von Teilen der Bevölkerung zu retten. Zur bewaffneten Gegenwehr sollte es erst kommen, wenn die endgültige Auflösung des Gettos begann. Als aber Soldaten, Polizisten und SS am Morgen des 16. August 1943 das Getto umstellten und mit dessen Liquidierung begannen, steckten die Aktivisten noch mitten in den Planungen. Viele der etwa 500 Kämpfer mussten sich mit selbstgebauten Waffen begnügen, andere griffen zu Messern, Äxten oder Eisenstangen. Die Aktivisten gaben nicht auf. Sie verteilten Aufrufe an die Gettobewohner, sich nicht zu melden, in denen es hieß: "Jeder von uns ist zum Tode verurteilt. (…) Außer unserer Ehre haben wir nichts mehr zu verlieren!"

Die erschöpften Menschen kamen jedoch zum Sammelplatz, sie waren vorher nicht auf einen bewaffneten Widerstand vorbereitet worden, die meisten der etwa 30.000 Juden im Getto wussten überhaupt nichts von der Existenz einer Untergrundbewegung. Deren Kurierin Chaika Grossman beschreibt in ihren Erinnerungen, wie sich die Menschen zur Deportation meldeten, wie sie an den Mitgliedern der Untergrundbewegung vorbeigingen, die ihnen zuriefen, sie sollten sich nicht stellen, sie würden in den Gaskammern sterben. Sie schreibt: "Als einer von vielen zu sterben, war einfacher, als allein zu kämpfen und zu leiden. Offensichtlich war ein schneller Tod erträglicher als eine Fortsetzung der Quälerei. Offenbar hatten wir nicht genügend verstanden, welche Pein es Eltern bereitet, ihr Kind verhungern zu sehen. Welchen Sinn hatte es, ein solches Leben zu leben? Vielleicht war das der Grund, warum die Massen an diesem Morgen ihrem Tod entgegenströmten."

Als etwa 20.000 Juden am Sammelplatz waren, begannen die Gettokämpfer zu schießen, um so zumindest einen Ausbruch möglichst vieler Juden zu ermöglichen. Doch das Getto war engmaschig umstellt. Der Durchbruch, der die Flucht in die Wälder hätte ermöglichen sollen, misslang. Die Übermacht war zu groß. Die Aufständischen konnten den schwer bewaffneten Deutschen nur wenige Stunden etwas entgegenhalten. Bis zum Ende der Deportation kam es immer wieder zu Schusswechseln, der große Aufstand nach dem Vorbild der Warschauer Ereignisse gelang aber nicht. Mordechai Tenenbaum und Daniel Moszkowicz nahmen sich wahrscheinlich am Ende der "Aktion" das Leben. Einige wenige Überlebende entkamen in die Wälder und schlossen sich dem Partisanenkampf an. Chaika Grossman wirkte weiter als Untergrundkurierin.

Die jüdische Untergrundbewegung in Krakau, die sich nach den ersten Deportationen von dort in das Vernichtungslager Belzec im Sommer 1942 aus zwei bis dahin unabhängig voneinander agierenden Gruppen formiert hatte, verfolgte eine andere Strategie: Sie wollte mitten im Zentrum der Hauptstadt des Generalgouvernements, die eigentlich schon lange "judenfrei" sein sollte, direkt und sichtbar gegen Deutsche vorgehen. Nachdem Ende Oktober 1942 abermals Tausende Juden aus Krakau deportiert worden waren, hatten viele Widerstandskämpfer, die ihre Familien verloren hatten und immer klarer das endgültige Ziel der Nazis verstanden, nur noch den Wunsch nach Rache. Rücksicht auf ihre Familien war vielfach nicht mehr notwendig, und auch Furcht vor Repressionen konnte sie kaum mehr zurückhalten. Zunächst jedoch mussten sie in den Besitz von Waffen gelangen.

Hierbei spielten Frauen eine zentrale Rolle, so wie allgemein zahlreiche Frauen zu den Führungsmitgliedern des jüdischen Untergrunds im besetzten Polen gehörten, und sie wirkten als Kurierinnen zwischen den einzelnen Orten. Es war ungeheuer gefährlich, sich als Jüdin außerhalb des Gettos zu bewegen, drohten doch jederzeit Denunziation und Entdeckung. Waffenbesitz war nicht minder gefährlich, denn darauf stand die Todesstrafe. Diese Frauen, die die Gettos verließen, ermöglichten mit ihren logistischen Vorarbeiten den bewaffneten Widerstand überhaupt erst. Sie übermittelten Informationen und gefälschte Papiere, schmuggelten Waffen und waren Kontaktstellen zwischen Aktivisten in verschiedenen Gettos. Einige dieser Kämpferinnen überlebten den Holocaust und schrieben ihre Erinnerungen nieder, sodass wir über ihr Handeln, die Kontakte zwischen den Widerstandsgruppen und auch ihre Probleme relativ gut informiert sind.

Die spektakulärsten Aktionen gelang den Krakauer Untergrundkämpfern am 22. Dezember 1942: In mehreren Cafés, die von deutschen Soldaten und Beamten besucht wurden, explodierten Handgranaten. Im Cafe Cyganeria kamen dabei sieben Deutsche um und über 20 wurden verwundet. Die Tat erregte bei den deutschen Besatzern großes Aufsehen. Heinz Doering, ein Funktionär in der Regierung des Generalgouvernements, berichtete nach dem Anschlag nach Hause: "Im übrigen ist es hier in der letzten Zeit lebhaft u. lustig zugegangen: Bomben flogen in das Theatercafe u. in das Ringkasino. Ein Hauptmann u. ein Droschkengaul waren die Opfer. (…) Dass auch viele Juden bei den Banden sind, ist natürlich selbstverständlich. Es gibt unter den Juden auch eine ganze Menge schneidiger Hunde! Gerade von ihnen hört man tolle Geschichten von äusserster Verwegenheit." Der Anschlag war Stadtgespräch in Krakau und aus Sicht des Untergrunds schon damit ein spektakulärer Erfolg: Juden waren als Kämpfer aufgetreten, hatten sich, für alle deutlich sichtbar, aufgelehnt.

Wichtige Persönlichkeiten im jüdischen Untergrund in Krakau waren Shimon Dränger und seine Frau Gusta (Justyna). Die Eheleute hatten einander versichert, dass sie sich im Falle der Gefangennahme des Partners freiwillig stellen würden. Im Januar 1943 wurde Shimon verhaftet. Gusta stellte sich daraufhin. Als die beiden Ende April 1943 ins Lager Płaszów gebracht werden sollten, gelang ihnen die Flucht. In den folgenden Monaten lebten sie in der Nähe Krakaus, widmeten sich der Reorganisation des Widerstands und gaben eine wöchentlich erscheinende Untergrundzeitschrift heraus. Am 8. November 1943 wurde Shimon Dränger erneut verhaftet. Seine Frau Gusta stellte sich wiederum freiwillig. Beide wurden vermutlich im selben Monat ermordet.

Gusta Dränger verdanken wir eine der wichtigsten zeitgenössischen Quellen zum jüdischen Widerstand im besetzten Polen. Von Februar bis März 1943 hat sie im Gefängnis auf Toilettenpapier ihre Erinnerungen niedergeschrieben, in denen sie die Entwicklung und die zentralen Persönlichkeiten des jüdischen Untergrunds in Krakau beschreibt. Die Aufzeichnungen sollten Zeugnis ablegen vom Widerstand der Juden in Krakau: "Aus dieser Gefängniszelle, die wir nie mehr lebend verlassen werden, grüßen wir jungen todgeweihten Kämpfer Euch. Wir opfern unser Leben bereitwillig für unsere heilige Sache und bitten lediglich, daß unsere Taten in das Buch ewiger Erinnerung einfließen. Mögen die Erinnerungen auf diesen zerstreuten Papierfetzen zusammengetragen werden und ein Bild unserer standhaften Entschlossenheit im Angesicht des Todes ergeben."

Fazit

Wie meine Ausführungen zeigen, war widerständiges Verhalten von Juden längst nicht nur der bewaffnete Kampf, sondern auch Selbstbehauptung unter schwierigsten Bedingungen. Die Rahmenbedingungen waren jeweils verschieden und hatten Einfluss auf die Formen, die widerständiges Verhalten einnehmen konnte; so gab es in Westeuropa andere Reaktionen als im Osten, wo zahlreiche Juden in Gettos eingesperrt waren. Ebenso war der Zeitpunkt entscheidend – war es doch ein großer Unterschied, ob Juden sich "bloß" gegen Ausgrenzung wehrten oder ob ihre Aktivitäten im Angesicht eines gegen sie gerichteten Massenmordes standen. Insgesamt lässt sich jedoch feststellen, dass Juden weit entfernt davon waren, passive Opfer zu sein; europaweit reagierten sie auf vielfältige Weise auf die Verfolgung, und viele von ihnen kämpften gegen Erniedrigung, Vernichtung und das Vergessen – auch ohne Waffen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zit. nach: Jüdisches Historisches Institut Warschau (Hrsg.), Faschismus – Getto – Massenmord. Dokumentation über Ausrottung und Widerstand der Juden in Polen während des Zweiten Weltkriegs, Berlin 1960, S. 519.

  2. Vgl. Arno Lustiger, Zum Kampf auf Leben und Tod! Vom Widerstand der Juden 1933–1945, Köln 1994; Hans Erler/Arnold Paucker/Ernst Ludwig Ehrlich (Hrsg.), "Gegen alle Vergeblichkeit". Jüdischer Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Frankfurt/M.–New York 2003; Georg Heuberger (Hrsg.), Im Kampf gegen Besatzung und "Endlösung". Widerstand der Juden in Europa 1939–1945, Frankfurt/M. 1995; Yehuda Bauer, Jüdische Reaktionen auf den Holocaust, Berlin 2012.

  3. Vgl. Konrad Kwiet/Helmut Eschwege, Selbstbehauptung und Widerstand. Deutsche Juden im Kampf um Existenz und Menschenwürde 1933–1945, Hamburg 1984; Arnold Paucker, Deutsche Juden im Kampf um Recht und Freiheit. Studien zu Abwehr, Selbstbehauptung und Widerstand seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, Berlin 2003.

  4. Die Haltungen vieler Judenräte zum Widerstand sind dargestellt in: Isaiah Trunk, Judenrat. The Jewish Councils in Eastern Europe under Nazi Occupation, New York–London 1972, S. 451–474.

  5. Vgl. Reuben Ainsztein, Jüdischer Widerstand im deutschbesetzten Osteuropa während des Zweiten Weltkrieges, Oldenburg 1993; Schmuel Krakowski, Der Kampf der Juden in Polen 1942–1944, in: G. Heuberger (Anm. 2), S. 148–172, S. 253–260. Zu Partisanen vgl. Nechama Tec, Bewaffneter Widerstand. Jüdische Partisanen im Zweiten Weltkrieg, Gerlingen 1996.

  6. Für die folgenden Informationen zu Warschau und weiterführende Literatur vgl. Markus Roth/Andrea Löw, Das Warschauer Getto. Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung, München 2013.

  7. Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben, Stuttgart 1999, S. 225–230, Zitat: S. 228.

  8. Vgl. Samuel D. Kassow, Ringelblums Vermächtnis. Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos, Reinbek 2010; Sascha Feuchert/Erwin Leibfried/Jörg Riecke (Hrsg.), Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt, 5 Bde., Göttingen 2007.

  9. Zit. nach: R. Ainsztein (Anm. 5), S. 270.

  10. Chaika Grossman, Die Untergrundarmee. Der jüdische Widerstand in Białystok. Ein autobiographischer Bericht, Frankfurt/M. 1993, S. 394.

  11. Vgl. Ingrid Strobl, Die Angst kam erst danach. Jüdische Frauen im Widerstand in Europa 1939–1945, Frankfurt/M. 1998, S. 231–300.

  12. Brief von Heinz Doering vom 10.1.1943 an seine Frau und seine Mutter, zit. nach: Andrea Löw/Markus Roth, Juden in Krakau unter deutscher Besatzung 1939–1945, Göttingen 2011, S. 183. Zum Widerstand in Krakau vgl. ebd., S. 182–195.

  13. Zit. nach: Jochen Kast/Bernd Siegler/Peter Zinke (Hrsg.), Das Tagebuch der Partisanin Justyna. Jüdischer Widerstand in Krakau, Berlin 1999, S. 14.

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Dr. phil., geb. 1973; stellvertretende Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte München, Leonrodstraße 46 b, 80636 München. E-Mail Link: loew@ifz-muenchen.de