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Politik-Logiken im Ukraine-Konflikt

Volker von Prittwitz

/ 16 Minuten zu lesen

Im Ukraine-Konflikt denken und handeln die Beteiligten aneinander vorbei, weil sie in unterschiedlichen Politik-Logiken aufeinander reagieren. Potenziale fairer Integration bleiben bislang weitgehend ungenutzt.

Im Ukraine-Konflikt denken und handeln die Beteiligten aneinander vorbei: Aus westlicher Sicht verletzen die russische Krim-Annexion und die militärische Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine das Völkerrecht; nun müsse Druck auf Russland ausgeübt werden, um es an weiteren Übergriffen gegen die Ukraine oder andere Nachbarstaaten zu hindern. Aus russischer Sicht resultiert der Konflikt dagegen aus der Expansion der NATO und der illegitimen Absetzung des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch; Russland schütze lediglich russische Bürger auf der Krim und im Donbass.

Beide Denkweisen erscheinen als in sich schlüssig; sie beziehen sich aber nicht klar aufeinander, sondern diskreditieren einander unterschwellig – eine Konstellation, die Freund-Feind-Muster und Gewalt fördert. Dahinter stehen unterschiedliche Politik-Logiken. Im Folgenden stelle ich grundlegende Logiken dieser Art dar und untersuche dann, welche Rolle sie im Ukraine-Konflikt spielen. Hieraus ergeben sich Schlussfolgerungen zur Bewältigung des Konflikts.

Logik des Krieges

Die Logik des Krieges ist die von Freund und Feind. Demnach kämpfen wir (Freund) gegen den uns existenziell bedrohenden Feind. Diesen mit jedem Mittel auszuschalten, ist nicht nur legitim, sondern geboten. So wird zum allgemeinen Gebot, was ansonsten verboten ist: Menschen zu töten. Dabei wird nicht nur ein wirklicher Angriff des Feindes als bedrohlich registriert; vielmehr erscheint jedes Handeln des anderen als potenzielles Mittel der Kriegführung, als mögliches Täuschungsmanöver oder verdeckter Angriff. Damit treten Bedrohungsszenarien, Déjà-vus früherer geschichtlicher Ereignisse und mit ihnen verbundene Ängste in den Mittelpunkt des Erlebens.

Nach der Logik des Krieges, nach der jede Aktion des Feindes feindlich beantwortet werden muss, entwickelt sich eine Eigendynamik von Vernichtung und Selbstvernichtung. Dabei verlieren selbst zivile Orientierungsmuster wie die Suche nach Wahrheit und Verständigung ihren Wert, ja können, interpretiert nach Freund-Feind-Kriterien, sogar gefährlich werden. Angesichts dessen erweist sich Carl von Clausewitz’ Satz "Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" als Verharmlosung. Nutzt Politik den Krieg, wird sie vielmehr selbst durch die Logik des Krieges bestimmt, verliert ihre besondere Identität und ihre besonderen Wirkungspotenziale. Damit sind allgemeines Leiden und Sterben programmiert; und auch der allgemeine Wohlstand sinkt – im Gegensatz zu einer immer wieder kolportierten Auffassung – mit der herrschenden Logik von Vernichtung und Selbstvernichtung.

Logik der Macht

Macht gilt als Fähigkeit zu handeln. Dabei bildet sie eine besondere Beziehungsform: die Durchsetzungsfähigkeit des eigenen Willens auch gegen Widerstreben. Wird Politik in diesem Sinne gedacht, ergibt sich die Logik der Macht: Politisches Handeln setzt Macht voraus. In der Politik dreht sich daher alles darum, Macht zu erlangen, zu halten und auszubauen. Wer keine Macht besitzt, muss sich demgegenüber unterordnen, anpassen oder fliehen.

Diese Logik scheint universell und alles durchdringend zu gelten. Sie realisiert sich in vielfältigen Medien: körperlicher und militärischer Gewalt, persönlichem Charisma mit Potenzialen wie schauspielerischen oder rednerischen Fähigkeiten, Wirtschaftsmacht, Informations- und Organisationsmacht, Netzwerkmacht, religiöser Glaubensmacht, ideologischer Macht und politisch-staatlicher Normsetzungsmacht. Religion ist demnach nur als herrschende oder unterdrückte Religion möglich, Kultur als Kultur herrschender Werte und Lebensstile, und das herrschende Recht als das Recht der Herrschenden.

Auf Grenzen stößt Macht allerdings durch Interesselosigkeit, vor allem aber durch Gegenmacht. Demzufolge versuchen machtbewusste Akteure, sich eine möglichst breite und emphatische Unterstützung zu sichern, vor allem aber konkurrierende Machthaber auszuschalten und schon die Entstehung von Gegenmacht zu verhindern. Da hierbei der Einsatz von Gewalt ein reguläres Mittel darstellt, führt die Logik der Macht zur Logik des Krieges.

Logik der Interessen

Akteure können sich auch differenzierter als nach Freund-Feind-Mustern oder Machtaspekten auf andere Akteure beziehen. So sind abgestufte Beziehungen bis hin zu Bindungslosigkeit möglich; vor allem aber kann in unterschiedlichen Dimensionen, so der Beziehungs- und der Sachdimension, kommuniziert werden.

Verfolgen Akteure ihre Ziele in all diesen Kontexten vergleichsweise nüchtern und flexibel, so sprechen wir von Interessenpolitik. Dabei werden Interessen in jeweils spezifischen Handlungssituationen verfolgt und haben insofern situativen Charakter. Allerdings lassen sich charakteristische Interessentypen feststellen, so – meist offen umkämpfte – Sachinteressen und – oft verdeckt verfolgte – Positionsinteressen (daran, an dem jeweiligen Prozess beteiligt zu sein). Die Logik von Interessenpolitik kann als illoyal und opportunistisch oder als vergleichsweise unabhängig und differenziert interpretiert werden.

Für die Interessenwahrnehmung ist das Verhandeln von besonderer Bedeutung. Dabei versuchen die Beteiligten größtmögliche Vorteile für sich durch Angebote und Drohungen gegenüber dem Verhandlungspartner durchzusetzen. Da sie hierbei aber auf die Zustimmung respektive ein optimales Tauschangebot des Gegenübers angewiesen sind, ergibt sich ein widersprüchlicher Angebots- und Prüfprozess. Dabei suchen die Beteiligten gleichzeitig nach einem gemeinsam akzeptablen Abschluss und ihrem individuell größtmöglichen Vorteil. Dieses Verhandeln kann bei ungleicher Verhandlungsmacht allerdings auch in die Logik der Machtpolitik übergehen, bei der sich schlicht der Stärkere durchsetzt.

Logik des Rechts

Mit der Institution verbindlichen Rechts ergibt sich die Logik gebundener Koordination (bound governance). Diese lässt sich am besten anhand regelgebundener Sportspiele wie Fußball oder Tennis verdeutlichen. Hierbei sind alle Spieler an von ihnen akzeptierte Regeln gebunden, die ihnen prinzipielle Chancengleichheit und Handlungsfreiheit eröffnen. Dies sichert einen prinzipiell friedlichen Ablauf und reduziert Komplexität, soweit es die Regeln betrifft; andererseits eröffnet es die Möglichkeit, prinzipiell frei und gleichgestellt zu agieren – eine Konstellation, die die Beteiligten in besonders hohem Maße zu operativer Leistung motiviert, was sich wiederum in steigender Wohlfahrt aller Beteiligter niederschlägt.

Abbildung 1: Gemeinsam anerkanntes Recht (bound governance) (© bpb)

Diese Logik der Rechtsbindung operiert, anders als die Logik der Macht, in zwei prinzipiell unabhängigen Dimensionen, der Regeldimension und der operativen Dimension: Auf der Regelebene werden gemeinschaftlich die geltenden Regeln festgelegt und verbindlich umgesetzt. Auf der operativen Ebene verfolgen die einzelnen Spieler dagegen ihre individuellen beziehungsweise Gruppenziele (Abbildung 1). Hierbei müssen Regeln und Spielcharakter zwar aufeinander abgestimmt sein; einzelne Spieler dürfen aber die Regeln und ihre Interpretation – vor allem während eines Spiels – nicht beeinflussen. Umgekehrt dürfen auch Regelakteure, beispielsweise Schiedsrichter, keine Eigeninteressen im Spiel verfolgen. Insofern besteht ein striktes Trenngebot zwischen Regelebene und operativer Ebene. Ansonsten, so im Fall von Korruption, würde wieder die Logik der Macht gelten, und die Logik geltenden Rechts wäre auf den Kopf gestellt.

Systeme gebundener Koordination treten in mehr oder weniger ausdifferenzierten Formen auf: Während in undifferenzierten Systemen Funktionen der Regelebene von operativen Akteuren (Spielern) gleichzeitig ausgeübt werden – etwa ein Spiel im kleinen Kreis –, fungieren in ausdifferenzierten Bound-governance-Systemen spezielle Regelakteure wie Schiedsrichter, Richter, Verwaltung oder Polizei. Diese legen das jeweils geltende Recht autoritativ aus und haben es bestmöglich zu schützen.

Nach der Logik gebundener Koordination versuchen die operativen Akteure, bestmöglichen Erfolg im Rahmen der gegebenen Regeln zu erreichen. Sie haben aber auch ein vitales Interesse daran, die geltenden Regeln gegen Betrug und offene Angriffe zu schützen. Sie denken also mehrdimensional, eine zivilisatorische Errungenschaft freiheitlicher Integration.

Logik der Integration

Über die Logik anerkannten Rechts hinaus, geht es in der Logik der Integration darum, einen Gesamtzusammenhang zu sichern und auszubauen. Dabei wird zwar keine uniforme und geschlossene Gemeinschaft angenommen; aber alle Beteiligten gelten als Teilnehmer eines gesellschaftlichen Zusammenhangs, zum Beispiel als Wirtschaftssubjekte oder als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Nach dieser Logik werden alle als eigenständige Akteure in einem Ganzen respektiert und geschätzt. Dies schließt den Respekt von Minderheiten ein, eine Voraussetzung innovationsförderlicher Pluralität.

Nach der Logik der Integration geht es um bestmögliche Lösungen für das Ganze, wobei auch das Wohl der einzelnen Einheiten als Kriterium berücksichtigt wird. Dementsprechend tritt in der Politik die sogenannte Policy-Dimension öffentlichen Handelns in den Vordergrund. In diesem Sinne erhalten Bound-governance-Formen gebundener Koordination und andere integrationsförderliche Governance-Formen besonderes Gewicht, so arbeitsteilig-funktionale Strukturen und die Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme wie Recht, Wirtschaft, Politik und Staat. Hieraus ergeben sich spezielle Handlungsanforderungen. So soll jegliches Freund-Feind-Denken überwunden und um bestmögliche sachliche Lösungen gerungen werden.

Diese Handlungslogik kann über einzelne Länder hinaus wirken. So zeichnen sich mit wachsender Globalisierung zunehmend globale Integrationsanforderungen ab, so die Anforderungen globaler Sicherheit, globaler Verfahrensgestaltung für Ökonomie, Technologie, Entwicklung und umweltbewusste Nachhaltigkeit.

Abbildung 2: Handlungslogiken im Überblick (© bpb)

Überblick

Die dargestellten Handlungslogiken lassen sich als mehr oder weniger integrativ einordnen (Abbildung 2). Dabei korrespondieren die Logiken der Macht und des Krieges einerseits und die Logiken des Rechts und der Integration andererseits miteinander. Interessengeleitete Politik ist demgegenüber flexibel und kann sowohl den Logiken von Recht und Integration als den Logiken von Macht und Krieg nahe sein.

Die unterschiedlichen Handlungslogiken beeinflussen sich üblicherweise wechselseitig. Zwar liegt die friedens- und wohlfahrtsförderliche Wirkung von bound governance und Integration auf der Hand. Nicht ausreichend etablierte integrale Handlungslogiken werden aber durch Macht- und Kriegslogik bedroht. Selbst einmal entwickelte Integration hat keine Bestandsgarantie, denn Integration muss ständig reproduziert werden und kann sowohl durch innere Korruption als auch durch feindliche Akteure angegriffen werden.

In welchen Konstellationen und mit welchen Wirkungen haben die skizzierten Handlungslogiken den Ukraine-Konflikt nun beeinflusst?

Macht- und Kriegspolitik beider Seiten?

Folgen wir der sogenannten realistischen Politiksicht, so ist anzunehmen, dass auch im Ukraine-Konflikt beide Seiten Machtpolitik betreiben. Überprüfen wir dies, so ergibt sich zunächst allerdings nur für Russland eine Bestätigung: In zunächst verdeckter, dann offener Weise annektierte Russland die Krim und unterstützt seitdem massiv den militärisch operierenden Separatismus in der Ostukraine. Demgegenüber nahm die – militärisch relativ schwache – Ukraine nach kleinen Scharmützeln die russische Annexion der Krim ohne anhaltenden militärischen Widerstand hin. Auch die Inbesitznahme verschiedener Städte der Ostukraine durch russland-freundliche und russische Separatisten versuchte sie monatelang friedlich zu revidieren.

Erst ab August 2014 wurden Truppen in die betroffenen Regionen entsandt, um die Souveränität wieder herzustellen. Insofern entsteht der Eindruck asymmetrischer Verantwortung für den offenen Krieg in der Ukraine zwischen von Russland unterstützten Milizen und russischen Truppen einerseits und ukrainischen Truppen wie Freiwilligenmilizen andererseits, in dessen Verlauf es zu immensen Grausamkeiten und einer Propagandaschlacht voller Verdrehungen und Lügen auf beiden Seiten kam.

Das aggressive prorussische und russische Vorgehen dürfte durch die innenpolitische Entwicklung Russlands zu einer zunehmend autoritären Republik und durch das Erstarken nationalistischer Kräfte gefördert worden sein. Es kam aber auch als Reaktion auf machtpolitisches Vorgehen westlicher Länder zustande. So entwickelte sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts kein kooperatives Sicherheitssystem mit voller Integration Russlands. Vielmehr blieb die durch den Kalten Krieg legitimierte NATO als militärische Organisation unter Ausschluss Russlands bestehen, und schon nach wenigen Jahren begannen die USA wieder eine konsequente Politik der Eindämmung Russlands zu betreiben.

2007 gab das Pentagon US-amerikanische Pläne zur Stationierung eines Raketenabwehrsystems in Mittelosteuropa, angeblich zum Schutz vor Angriffen feindlicher Kräfte aus dem Nahen und Mittleren Osten, namentlich Iran, bekannt. Hinzu kommen anhaltende Handelsbeschränkungen und die Aufrechterhaltung der westlichen Visapflicht für russische Bürger. Als eine noch größere Bedrohung fasste und fasst Russland die seit den 1990er Jahren schrittweise vorangeschrittene NATO-Osterweiterung auf (März 1999: Polen, Tschechien und Ungarn, März 2004: Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien, April 2009: Albanien und Kroatien) – eine Entwicklung, die von Russland als Vertragsbruch des Westens wahrgenommen wird. Die Entrüstung über diese Vorgänge spiegelt sich in Wladimir Putins Rede zur Inkraftsetzung der Krim-Annexion im Kreml am 18. März 2014 wider:

"Wir wurden Mal ums Mal betrogen, es wurden Entscheidungen hinter unserem Rücken getroffen, man stellte uns vor vollendete Tatsachen. So war es mit der NATO-Osterweiterung, mit der Installation von militärischer Infrastruktur an unseren Grenzen. Uns wurde immer ein und dasselbe erzählt: ‚Na, das geht euch nichts an.‘ Es ist leicht gesagt, es gehe uns nichts an (…) So war es auch mit der Entfaltung der Systeme der Raketenabwehr. Ungeachtet all unserer Befürchtungen bewegt sich die Maschinerie vorwärts. So war es auch mit dem endlosen In-die-Länge-Ziehen der Verhandlungen zu Fragen der Visafreiheit, mit den Versprechen eines ehrlichen Wettbewerbs und freiem Zugang zu den globalen Märkten (…) Kurz, wir haben allen Grund zu der Annahme, dass die sprichwörtliche Eindämmungspolitik gegen Russland, die sowohl im 18., im 19. und im 20. Jahrhundert aktuell war, auch heute noch fortgeführt wird. (…) Im Falle der Ukraine haben unsere westlichen Partner eine Grenze überschritten, handelten grob, verantwortungslos und unprofessionell."

Die vom russischen Präsidenten ausgedrückte Empörung ist in vielerlei Hinsicht als Ausweis westlicher Machtpolitik nachvollziehbar. Dies gilt allerdings nicht für einen grundlegenden Punkt, den Vorwurf der NATO-Osterweiterung. Denn das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist inzwischen zumindest im europäischen Raum praktisch geltend geworden. Demnach kann sich jeder Staat frei entscheiden, ob und welchen Bündnissen er sich anschließen will. Mit seiner vorwurfsvollen Haltung gegenüber der Ausweitung der EU und der NATO wird daher deutlich, dass Russland nach wie vor der Vorstellung legitimer Großmachtsphären nachhängt.

Sanktionen

Auf die Krim-Annexion und Russlands Unterstützung der prorussischen Separatisten antworteten die USA, Kanada und die Europäische Union, unterstützt von speziellen Sanktionen der Schweiz, Norwegens und Japans, mit einem zunächst gegen Einzelpersonen gerichteten Sanktionenkatalog sowie im August 2014 auch mit Finanz- und Wirtschaftssanktionen. Mit diesen wollten und wollen die westlichen Länder darauf hinwirken, dass Russland seine Völkerrechtsverstöße zurücknimmt und die prorussischen Separatisten nicht länger militärisch unterstützt. Die Sanktionen sind also kein kriegerischer Akt; mit ihnen soll vielmehr gerade kriegerisches Verhalten als völkerrechtlich und politisch inakzeptabel zurückgewiesen und zurückgedrängt werden. Vor allem die europäischen Länder, voran Deutschland, haben dabei wiederholt hervorgehoben, dass mit den Sanktionen der Gesprächsfaden zu Russland nicht abreißen soll.

Die Legitimität dieser Sanktionspolitik nach völkerrechtlichen Kriterien wird zwar verschiedentlich mit der Behauptung früherer Völkerrechtsbrüche von NATO-Ländern, so vor allem der Bombardierung Serbiens im Jahr 1999, in Zweifel gezogen. Inzwischen ist allerdings die Verantwortung der Völkergemeinschaft, Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestmöglich zu verhindern, Teil des herrschenden Völkerrechtsverständnisses – und die Bombardierung Serbiens 1999 (das die Albaner im Kosovo menschenrechtswidrig verfolgte) diente genau diesem Ziel.

Eine Schwäche der aktuellen Sanktionen gegen Russland besteht allerdings in ihrer vergleichsweise geringen Länderbasis: Zwar nahm die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 16. März 2014 mit 100 von 169 Stimmen bei 58 Enthaltungen eine Resolution an, in der die Einheit der Ukraine bekräftigt wurde; UN-Resolutionen aber besitzen bisher keine bindende Rechtskraft. Die Russland praktisch sanktionierenden Staaten sind demgegenüber fast ausschließlich Staaten, die Russland nach der EU- und NATO-Osterweiterung gemeinsam als illegitim einflussreichen Konterpart in Mittelosteuropa wahrnimmt. Zudem leidet die Legitimation der sanktionierenden Länder, insbesondere der USA, noch durch ihre eigene Machtpolitik nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion: Wer zwei Jahrzehnte lang Chancen einer fairen Zusammenarbeit mit Russland nicht ausreichend genutzt, teilweise boykottiert hat, muss sich nicht wundern, wenn er nicht ohne Weiteres als unabhängige Instanz auf der Regelebene internationaler Politik akzeptiert wird.

In dieser Situation beantwortete Russland die westlichen Sanktionen mit Gegensanktionen gegen einzelne Länder. Politisches Handeln in der Logik des Rechts wird damit in der Logik der Macht mit Gegenmacht beantwortet. Damit aber wird die Intention der westlichen Länder als solche nicht respektiert, wodurch integrative Potenziale gemeinsam anerkannten Völkerrechts ungenutzt bleiben und geschwächt werden. Da dies wiederum zentralen Politikintentionen gerade der EU widerspricht, ist nicht zu erwarten, dass die Sanktionen des Westens abgebaut werden, solange es bei derartiger Interaktion in Form ungleicher Politik-Logiken bleibt.

Falls sich Russland mit seinem explizit machtpolitischen Politikansatz durchsetzen sollte, droht eine weitere Abwärtsdynamik von Integration im Verhältnis zwischen den westlichen Ländern und Russland bis hin zur völligen Desintegration in eine nichtrussische und eine russische Machtsphäre nach dem Muster des Kalten Krieges. Diese Aufteilung allerdings wäre voraussichtlich weit asymmetrischer als zu Zeiten des Kalten Krieges, da dabei annähernd ganz Europa der nichtrussischen Sphäre angehören würde und auch die Weltmarktintegration Chinas und anderer Staaten heute viel stärker ist.

In dieser Konkurrenz von Macht- und Rechtslogik stehen kurzfristige ökonomische Interessen üblicherweise der Machtlogik näher, denn effektives Recht mit "Produkten" wie dauerhaft gesichertem Frieden und integrierter Wohlfahrt macht sich erst auf mittlere oder längere Sicht bezahlt. Zunächst hingegen entstehen ökonomische Nachteile für Sanktionsopfer aller Seiten – Nachteile, die kurzfristig ausgerichtete Interessenlogik schlicht zu vermeiden sucht.

Selbstbestimmungsrecht der Völker und Demokratie

Zwischen Russland und der Ukraine bestehen besonders enge historische Beziehungen – von der Kiewer Rus als früherem russischem Kerngebiet ("Klein-Russland") über eine wechselhafte Geschichte des Kampfes um Zugehörigkeiten zwischen russischem und ukrainischem Nationalismus bis zu der stalinschen Abtretung von russischen Gebieten an die Ukraine. Vor diesem historischen Hintergrund, aber auch angesichts mangelhafter Integration russischer Bevölkerungsteile in der aktuellen Ukraine sieht sich die russische Regierung in der Pflicht zu besonderer Fürsorge für die in der Ukraine lebenden Russen.

Prorussische Separatisten und starke Strömungen in Russland folgern in dieser ethnischen Interpretation ein Selbstbestimmungsrecht der russischen Bevölkerungsteile in der Ukraine, wobei sie zumindest unterschwellig an das in der Charta der Vereinten Nationen verankerte Selbstbestimmungsrecht der Völker anschließen. Der Begriff "Volk" ist allerdings weder in UN-Pakten noch an anderer Stelle völkerrechtlich verbindlich und befriedigend definiert. Auch inwieweit ein Sezessionsrecht Teil des Selbstbestimmungsrechts der Völker ist, ist umstritten. Konfliktträchtig wird der Anspruch auf Selbstbestimmung besonders dann, wenn die natürlichen Ressourcen eines Landes in einem Gebiet besonders konzentriert sind und die in diesem Gebiet dominierende Bevölkerungsgruppe sich staatlich unabhängig organisieren will.

Genau eine solche prekäre Situation besteht in der Ostukraine: Es handelt sich um Gebiete mit besonderer Wirtschaftskraft und um eine aggressiv-ethnische Interpretation des Selbstbestimmungsrechts. Dem steht zum einen entgegen, dass die "russische" Bevölkerung – mit Ausnahme der Krim – in keiner ukrainischen Region die Bevölkerungsmehrheit bildet. Vor allem aber hat die ukrainische Regierung nie einer separaten Volksabstimmung in einzelnen dieser Gebiete zugestimmt. Ohne eine solche Zustimmung aber hat die Sezessionsbewegung keine völkerrechtliche beziehungsweise demokratische Legitimation, denn Demokratie besteht nicht in einseitig angesetzten und umgesetzten Abstimmungen; vielmehr setzt sie voraus, dass zivile und politische Rechte der Allgemeinheit sowie die staatliche Vertretung der Gesamtheit respektiert werden.

Sollte – etwa zwischen dem ukrainischen und dem russischen Präsidenten – ein Einvernehmen darüber erzielt werden, gesamtstaatlich legitimierte und kontrollierte Abstimmungen in einzelnen ostukrainischen Gebieten abzuhalten, würde dies die Situation allerdings ändern. Sollte die (pro-)russische Seite dagegen weiter das Selbstbestimmungsrecht der Völker ethnisch-aggressiv interpretieren, so wird dies aller Voraussicht nach zu einer weiteren Vertiefung des Konflikts führen.

Zwischen Freund-Feind-Mustern und integrierter Wohlfahrt

Die Konfrontation zwischen russischem und ukrainischem Nationalismus reicht bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Im Laufe des 20. Jahrhunderts stießen beide Formationen verschiedentlich aggressiv aufeinander, so insbesondere von 1943 bis 1947 durch die Aktivitäten der Ukrainischen Aufständischen Armee (Ukrajinska Powstanska Armija, UPA). Nach der raschen Bildung einer unabhängigen Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 entwickelten sich zwar reguläre Formen von Integration zwischen russischen und ukrainischen Bevölkerungsanteilen; insbesondere unter Extremisten beider Seiten blieben aber feindliche Einstellungen gegeneinander bestehen, die sich in den Majdan-Vorfällen ab Ende 2013 gerade auch in den Medien beider Seiten widerspiegelten.

Diesen feindseligen Orientierungen in der Logik des Krieges stehen allerdings vielfältige funktionale Integrationsanforderungen gegenüber. So weist die Ukraine eine ausgeprägt asymmetrische Wirtschaftsstruktur zwischen den westlichen Regionen und Kiew einerseits und den südöstlichen Industrieregionen andererseits auf: Während die Regionen des Westens und der Mitte vorwiegend agrarischen Charakter haben und mit Kiew die Hauptstadt der Ukraine stellen, liefern die südöstlichen Regionen traditionell überlebensnotwendige industriewirtschaftliche Kapazitäten, etwa Öl und Gas. Diese südöstlichen Regionen waren zwar während der Sowjetunion besonders stark sowjetisch-russisch ausgerichtet, werden aber immer wieder durch kulturelle und politische Impulse aus dem Westen und Kiew angeregt. Auch im Alltag der Bevölkerung sind reguläre Formen integrierten Zusammenlebens verbreitet. Diese Integrationspotenziale könnten stärker als bisher genutzt werden, wenn es zu einer gezielten Integrationspolitik käme.

Zwischen den westlichen Ländern und Russland bestehen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts zwar keine dem innerukrainischen Konflikt vergleichbaren Freund-Feind-Muster; wie sich gerade anhand der USA bis hin zu persönlichen Reaktionen des US-amerikanischen Präsidenten Obama zeigt, bestehen aber nach wie vor Konkurrenzhaltungen einzelner Staaten zu Russland. Dies gilt in den vergangenen Jahren auch für verschiedene, teilweise gegensätzliche Positionen in anderen internationalen Konflikten, etwa dem Syrien-Konflikt. Dem stehen Integrationsentwicklungen beachtlicher Stärke gegenüber, so ein deutlich massiv gewachsener Wirtschaftsaustausch und eine enge Kooperation in speziellen Tätigkeitsfeldern wie der Weltraumpolitik (gemeinsamer Betrieb der internationalen Raumstation ISS, enge Kooperation der USA und Russlands beim Transport von Astronauten ins All). Auch hier könnten Integrationspotenziale weit stärker als bisher entfaltet werden.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Im Ukraine-Konflikt reagieren die Beteiligten in unterschiedlichen Politik-Logiken aufeinander:

  • Russland rechtfertigt seine latent bis offen kriegerische Politik gegenüber der – militärisch und staatlich relativ schwachen – Ukraine mit vorangegangener Machtpolitik der EU und NATO. Dieser Vorwurf trifft insoweit zu, als Russland keine faire Chance zu gleichberechtigter Integration in das globale Sicherheits- und Marktsystem gegeben wurde. Anhand der russischen Entrüstung über die NATO-Osterweiterung zeigt sich allerdings, dass Russland freie Bündnisentscheidungen der mittelosteuropäischen Länder nicht akzeptiert – eine Einstellung, die die Furcht mittelosteuropäischer Länder vor russischen Übergriffen noch vergrößert.

  • Die völkerrechtlich legitimierte Sanktionspolitik der westlichen Länder wird von Russland mit Gegensanktionen in der Logik der Macht gekontert. Diese Antwort verfehlt die angegebene Politik-Logik und wird daher von den westlichen Ländern – trotz der internen ökonomischen Schwierigkeiten der westlichen Länder und abweichender Interessenwahrnehmung durch westliche Firmen – eher negativ bewertet. Dies erschwert eine Lösung des Konflikts.

  • Das Selbstbestimmungsrecht der Völker wird nach heute vorherrschender Auffassung als gesamtstaatliches Selbstbestimmungsrecht in der Achtung von Menschenrechten interpretiert. Sollte die (pro-)russische Seite demgegenüber das Selbstbestimmungsrecht der Völker weiterhin ethnisch-aggressiv interpretieren, so wird dies aller Voraussicht nach zu einer weiteren Isolation Russlands führen.

  • Trotz ausgeprägter Strukturen funktionaler Integration wird in der Ukraine, ausgehend von verfestigten Freund-Feind-Mustern zwischen russischem und ukrainischem Nationalismus, oft in spannungsreicher und diffuser Weise kommuniziert. Auch im internationalen Rahmen bestehen Potenziale fairer Integration, die stärker genutzt werden könnten.

Zur Bewältigung des Ukraine-Konflikts sollten drei Konsequenzen gezogen werden:

Erstens: Verständigungschancen bestehen am ehesten, wenn die besonderen Anliegen der einzelnen Akteure respektiert werden. Dementsprechend sollte möglichst in der jeweils initiierten Politikdimension kommuniziert werden. Zweitens: Formen von Großmachtpolitik sollten als vertrauenszerstörend und schädlich beendet werden. Demgegenüber gilt es, die Vereinten Nationen zu stärken und organisatorisch im Hinblick auf flexibles weltweites Handeln zu reformieren. Drittens: Gemeinsam anerkanntes Recht und Integration sollten in der Ukraine wie im Verhältnis zwischen den westlichen Ländern und Russland gezielt gestärkt werden. Dazu zählen Formen fairen Austauschs und integrierten Handelns in der Wirtschaft, im Sport, in der Weltraumpolitik sowie auf anderen Feldern.

Dr. rer. pol., geb. 1950; Professor am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin; Gründer des Democracy Institute Berlin, Breite Straße 30, 13597 Berlin. Externer Link: http://www.diberlin.info
E-Mail Link: mail@diberlin.info