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Die Sieben Todsünden: Heute noch relevant? - Essay | Sünde und Laster | bpb.de

Sünde und Laster Editorial Die Sieben Todsünden: Heute noch relevant? Sünde, Schuld(en) und Recht Erfindungen von Sünde und Geschlecht Das seltsame Erbe der Sünde Der neue Mensch. Zur trügerischen Vision menschlicher Vollkommenheit Vom Überlebensmittel zum Laster: Zur Kulturgeschichte der Zigarette

Die Sieben Todsünden: Heute noch relevant? - Essay

Heiko Ernst

/ 13 Minuten zu lesen

Weil die sogenannten Todsünden offensichtlich anthropologische Konstanten erfassen, taugen sie dazu, auch das Verhalten zeitgenössischer Menschen zu reflektieren und den Gestaltwandel der moralischen und ethischen Probleme ihrer Gesellschaften zu untersuchen. Manche Todsünde gilt heute gar als Tugend.

Die Idee der Todsünden ist im mönchischen Leben des fünften nachchristlichen Jahrhunderts entstanden. Über Hunderte von Jahren wurde ein Sündenkatalog entwickelt, erprobt und verfeinert und schließlich von ursprünglich acht auf sieben fixiert: Hochmut (superbia), Habgier (avaritia), Wollust (luxuria), Zorn (ira), Völlerei (gula), Neid (invidia) und Trägheit (acedia). Im klösterlichen Mikrokosmos, geprägt von Entsagung, Kontemplation und Arbeit, aber auch von Gruppenleben, von Versuchungen des Körpers und des Geistes, wurde das Kondensat der menschlichen Schwächen, Laster und Leidenschaften destilliert. Dies geschah durch gelehrte Dispute und durch Introspektion, auch – um den modernen Begriff zu gebrauchen – durch Selbsterfahrung. Als Asketen und zölibatär Lebende wurden Mönche und Nonnen zu den Spezialisten schlechthin, wenn es um Fragen von Versuchung, Selbstkontrolle und Kontrollverlust ging. In der Beschäftigung mit den sieben Hauptlastern entstand im Lauf der Zeit allmählich ein sinnreiches Raster, um menschliche Bedürfnisse und Handlungsweisen im Spannungsfeld von Religion, Moral und Gesellschaft, von Biologie und Psychologie zu beschreiben und erklären.

Auch für Nichtgläubige bietet die Konfrontation mit den "Großen Sieben" tiefe Einsichten in die eigene Psyche: Sie sind eine erhellende, manchmal verstörende Möglichkeit der Selbsterkenntnis. Die Todsünden stellen zudem negative Archetypen menschlicher Charaktere dar. Deshalb dienten die einstmals sündhaften Leidenschaften und Laster als Primärfarben, mit denen die großen Romanciers und Dramatiker ihre negativen Helden porträtierten: Jagos mörderischer Neid ist das eigentliche Thema in Shakespeares Othello, Ebenezer Scrooge in Dickens Weihnachtsgeschichte oder der Geizige von Molière sind die literarischen Urbilder der Habgier, und Kleists Michael Kohlhaas ist der Inbegriff des selbstzerstörerischen Zorns.Weil die Todsünden offensichtlich anthropologische Konstanten erfassen, taugen sie dazu, auch das Verhalten zeitgenössischer Menschen zu reflektieren und den Gestaltwandel der moralischen und ethischen Probleme ihrer Gesellschaften zu untersuchen. Hochmut, Habgier, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit sind durch Kultur und Zivilisation meist nur erstaunlich schwach überformte und mühsam gezügelte Gefühle. "Sünde" ist deshalb, aller Säkularisierung zum Trotz, auch heute ein Konzept, das jedem Menschen begreiflich bleibt, selbst wenn er es für sich ablehnt.

Heutige Begegnungen

Als der britische Kultursender Radio 4 2005 seine Hörer bat, eigene Listen mit den schlimmsten Sünden unserer Zeit zu erstellen, war es erstaunlicherweise vor allem Trägheit (in all ihren Facetten – als Apathie, Gleichgültigkeit oder Denkfaulheit), die von den Original-Sieben besonders häufig genannt wurde. Als "neue" Sünden tauchten auf: Selbstsucht, Heuchelei, Intoleranz, Grausamkeit und Zynismus. Habgier und Neid, Zorn und Trägheit, Hochmut, Völlerei und Wollust sind jedoch auch heute täglich in immer neuen Varianten und Ausprägungen zu beobachten – auch wenn sie nicht immer mit ihrem Klarnamen benannt werden und wir eine Vielfalt anderer Begriffe verwenden.

Habgier

, zum Beispiel, hat viele Gesichter: Wir erregen uns über die "Raffkes" in der politischen Klasse und die "Abzocker" in der Wirtschaft. Aber Habgier und Geiz sind kein Privileg der Mächtigen. Wir scheinen geradezu ein Volk von Schnäppchenjägern geworden zu sein, die eine seltsame Mischung von Geiz und Habgier praktizieren – möglichst viel haben wollen und möglichst wenig dafür bezahlen: Das Wort vom "Preis-Leistungs-Verhältnis" taucht in fast allen Unterhaltungen über Restaurantbesuche oder Urlaubsreisen spätestens im zweiten Satz auf.

Auch

Wollust

ist heute kein Laster mehr, kaum noch eine verzehrende Leidenschaft, sondern eine stets verfügbare, schnell konsumierbare Angelegenheit. Der moderne Casanova ist kein verruchter Frauenheld, sondern ein armer Sexsüchtiger. Der zeitgenössische Don Juan ist ein Getriebener, der seine Selbstwertprobleme durch sexuelle Eroberungen kompensiert. Eine durch und durch banalisierte Sexualität prägt und imprägniert unsere Gesellschaft: Die permanente Stimulation der sexuellen Lust ist ein gängiges Marketinginstrument, sexuelle Schlüsselreize sind ein Kaufanreiz, und überhaupt ist "sexy" ein unverzichtbares Lifestyle-Attribut. Erotische Reize konditionieren uns auch als Verbraucher: Nicht umsonst heißt es sex sells.

Völlerei

in all ihren Erscheinungsformen – Fresssucht, orgiastische Prasserei, Trunksucht, demonstrative Verschwendungssucht – wird am wenigsten noch als Sünde wahrgenommen. Völlerei gilt in manchen Kreisen zwar eher als verachtenswerte, prollige Charakterschwäche, oder sie ist der Ausdruck einer gesundheitlichen Störung, die in erster Linie als ästhetisches Problem augenfällig wird. Die Unmäßigkeit im Oralen zeigt sich in vielerlei Symptomen: Sie ist abzulesen an der zunehmenden Adipositas-Häufigkeit, an epidemisch verbreiteten Essstörungen, an den Suchtstatistiken. Sie wird aber auch erkennbar in der obsessiven Beschäftigung mit allem, was das Essen betrifft, etwa mit der Invasion der Fernsehköche oder der Suche nach immer neuen Gaumenkitzeln und "exklusiven" Genüssen. Die Blasphemie, die in dem Begriff "Fresstempel" liegt, entgeht uns dabei völlig.

Neid

ist die erste Sünde jenseits von Eden: Kain erschlug Abel aus Neid. Aber spätestens mit dem Beginn des bürgerlichen Zeitalters ist Neid der eigentliche Motor des Fortschritts und des wirtschaftlichen Wachstums. Das gilt erst recht heute, im beschleunigten Konsumkapitalismus, wo es um jeden Preis gelingen muss, den Wunsch "Das muss ich auch haben!" immer wieder neu zu wecken. Neid ist aber auch ein mächtiges Ordnungsprinzip in modernen Gesellschaften. Er kristallisiert sich zu Strukturen und Institutionen, die ihn managen und beschwichtigen sollen, weil er immer den Keim von Staatsverdrossenheit und Revolten in sich trägt: Die progressive Besteuerung der höheren Einkommen ("Neidsteuern") in vielen Staaten und ausgeklügelte Kompensationsmechanismen zeugen von der befriedenden, ausgleichenden Macht des Neides. Neid gerinnt dennoch häufig zum Ressentiment – und wird als solcher zum seelischen Dauerschmerz, weil existenzielle Ungleichheiten und soziale Ungerechtigkeiten nie auch nur annähernd beseitigt werden können.

Hochmut

hat seit biblischen Zeiten die Gesichter der Überheblichkeit, der Abgehobenheit, des Dünkels und der Eitelkeit: "Ich bin besser, schöner, klüger als andere!" Selbstüberschätzung und intellektuelle Arroganz gehören heute ebenso zu seinen Erscheinungsweisen wie die ungehemmte Zurschaustellung schönheitsoperierter und gestylter Körper. Andererseits gehört der medial aufbereitete tiefe Fall der Hochmütigen inzwischen zur Grundversorgung von Unterhaltung und Nachrichten: Wir delektieren uns am Sturz der Eitlen in die Lächerlichkeit, und mit grimmiger Zufriedenheit registrieren wir die Verbannung der allzu Hochfahrenden ins existenzielle Aus. Dabei haben sich die Maßstäbe in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verschoben: Ein bestimmtes Maß an Narzissmus wird heute jedem zugestanden, der mit anderen konkurrieren muss. Erfolg ist in der modernen Aufmerksamkeitsökonomie nicht ohne Selbsterhöhung und -überhöhung zu haben, denn die Aufmerksamkeit der anderen ist das Kapital, das sich am besten verzinst.

Die

Trägheit

nistet heute vor allem dort, wo sich der Rückzug aus der Verantwortung für den Nächsten als vorgeblich rationale Haltung, als Nichteinmischung tarnt. Trägheit ist heute vor allem Gleichgültigkeit, sie zeigt sich im willentlichen Ignorieren fremder Schicksale, sie ist die bequeme Neutralität, die uns nahelegt, sich rauszuhalten. Sie erscheint aber auch als habituelle Denkfaulheit und als Selbstunterforderung, oft genug getarnt als Überlastung. Trägheit macht, paradoxerweise, erfinderisch: Wir arbeiten daran, immer mehr Bewegung zu vermeiden – sowohl körperliche (mit dem Auto zum Zigarettenholen, mit dem Lift ins Fitnessstudio, einkaufen im Internet) als auch geistige (fernsehen statt lesen, denken lassen statt selber denken).

Und wie

zornig

sind wir heute! Wie leicht entflammt unsere Wut! Rasch erbost sind wir vor allem über die anderen Sünder, die uns Zeit und Geld kosten, die unserer Gier oder unserer Lust in die Quere kommen oder uns in unserer Trägheit stören. Wir sind empört und wütend ("Ich krieg so’n Hals!"), weil unsere Ansprüche nicht befriedigt oder unsere Rechte nicht respektiert werden – und wir haben hohe Ansprüche und viele Rechte! Bereits eine kurze Fahrt mit dem Auto bringt einen in Berührung mit dem eigenen Zorn und mit den vielen anderen Zornigen: mit wütenden, lichthupenden Dränglern oder aufgeregt gestikulierenden Pädagogen. Für die Aggressionsepidemie auf den Straßen gibt es bereits einen eigenen Namen: road rage. Aber das aggressive Auftrumpfen und Auf-den-Tisch-Hauen ist auch in anderen Lebensbereichen längst üblich, die Schwelle zum Zornesausbruch extrem abgesenkt.

Die Todsünden haben ihre spirituelle oder existenzielle Bedeutung in unserem Leben weitgehend verloren. Sie erscheinen uns heute eher als unangenehme, aber banale Verhaltensweisen, als Marotten und Neurosen, aber auch als zeitgemäße Strategien der Erfolgs- und Lustmaximierung oder der Selbstbehauptung. Sünder sind keine tragischen Gestalten mehr, die ihren Leidenschaften und Lastern verfallen sind und für die ein Dante seine infernalischen Strafen ersann. Sie treten heute als Light-Versionen in Erscheinung: als Konsumdeppen, Neidhammel, streitsüchtige Nachbarn, Pornokonsumenten, Fettsüchtige, couch potatoes oder sonnenstudiogebräunte Selbstdarsteller. Die Sünden sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen, als manchmal unerfreuliches, aber weitgehend auch toleriertes, teilweise sogar gezielt gefördertes Verhalten.

Die sieben Todsünden prägen nicht mehr – wie in früheren Zeiten – einen Charakter. Sicher sind wir zu dieser oder jener Sünde eher disponiert als zu den anderen; es gibt Sünden, zu denen wir aufgrund von Temperament oder familiärer Prägung eher bereit sind. Aber den großen Geizigen, der von Freud klassisch als der "anale Charakter" beschrieben worden war, gibt es in reiner Form nur noch selten. Die meisten Menschen sind heute gierig, eitel und geizig zugleich, gleichermaßen fähig zu Verschwendung und Sparsamkeit – meist in undramatischen "Ausschlägen", wenn man von Filmfiguren wie dem "Wolf of Wallstreet" oder Gordon Gekko absieht. Ein Merkmal unserer Zeit ist vielmehr, dass es Lebensbedingungen und Situationen gibt, in denen unsere "sündigen" Impulse sehr häufig und mitunter sogar systematisch stimuliert werden: In der mobilen, auf Leistung, Wettbewerb und Konkurrenz ausgerichteten Gesellschaft gibt es eben häufiger Gelegenheit, neidisch oder hochmütig zu sein als in einer Standesgesellschaft. Stress und Zeitdruck machen uns ungeduldig, reizbar – und wir reagieren mit Wut und Zorn auf Hindernisse, echte und eingebildete. Wir werden aber auch ständig zu Konsum und Verzehr, zu Selbstverwöhnung und Bequemlichkeit animiert – und sind deshalb träger, hungriger, geiler und gieriger, als wir es in einer reizärmeren Umwelt wären. Wir sind mehrheitlich zu opportunistischen Augenblickspersönlichkeiten mutiert, zu Schnäppchenjägern des Glücks, das uns die kleinen und großen Sünden verheißen.

Zivilisierung der Sünde

Was einmal als unmissverständlich sündhaft galt, als böse, unmoralisch, gott- und menschenfeindlich, ist zu großen Teilen dramatisch umgewertet worden. Aus einigen Todsünden wurden nach und nach Tugenden, zumindest aber akzeptierte Verhaltensweisen oder gar Zivilisationsimpulse. An dieser allmählichen Evolution lässt sich der gesellschaftliche Wandel von Werten und Moralvorstellungen nachvollziehen. Auch den Erfindern und frühen Interpreten des Todsündenkataloges war von Anbeginn klar, dass Sünden aus gewöhnlichen Verhaltensweisen heraus entstehen, dass sie sich graduell unterscheiden und ambivalente Dispositionen beschreiben.

Alles, was Sünde sein kann, gründete in menschlichen Verhaltensmöglichkeiten, die entweder auf Überlebenstriebe (wie Lust und Völlerei) zurückgehen oder sich als wichtige soziale Gefühle (wie Neid) oder funktionale Eigenschaften (wie Stolz) in der Evolution entwickelt haben. So gesehen sind sie in der Tat "Erbsünden". Eine Sünde besteht jedoch in der Verletzung von Grenzen in diesen Verhaltensspielräumen. In primitiven Gesellschaften wurde zwischen Sünde und Verbrechen (noch) nicht unterschieden: Sünde avant la lettre ist zunächst alles, was die Interessen des Stammes verletzt und von seinen Konventionen und Gesetzen abweicht. Das Verhalten wurde bestraft, nicht die im Innern verborgene Neigung oder die bloße Absicht.

Die Neubewertung der Laster zu nützlichen Eigenschaften oder gar Tugenden finden wir zuerst in der Renaissance, sie schritt in der Moderne weiter fort und ist bis heute nicht abgeschlossen. Der Staatsphilosoph Niccolò Macchiavelli (1469–1527) schrieb: "Wenn man alles genau betrachtet, wird man finden, dass manches, was als Laster gilt, Sicherheit und Wohlstand bringt." Und der Kulturhistoriker Lewis Mumford (1895–1990) konstatierte im Rückblick auf das 19. und 20. Jahrhundert, dass bis auf Trägheit alle Todsünden spätestens in der industriellen Revolution zu Tugenden umgeformt waren. Mehr noch: Sie seien inzwischen die treibenden Kräfte der kapitalistischen Wirtschaftsordnung.

Die Sünden sind nun keine persönlichen Akte der spirituellen Grenzverletzung mehr, keine verdammenswürdigen Laster, sondern wichtige psychosoziale Kräfte in einer neuen Kultur. Sie schufen Märkte, trieben die Dynamik des Fortschritts an, formten soziale oder wirtschaftlich erwünschte Eigenschaften. Das gilt insbesondere für die Trias Geiz, Habgier und Neid: Geiz mutiert zur Sparsamkeit, zum ich-starken Bedürfnisaufschub; Habgier ist die Triebfeder der Akkumulation von Kapital, das eine Industrialisierung erst finanzieren kann; und der Neid ist ein starkes Motiv zunächst der Arbeitsgesellschaft, später auch des Konsumkapitalismus.

Die Transformation bestand also darin, gefährliche, antisoziale Leidenschaften für nützliche Zwecke einzuspannen, statt vergeblich zu versuchen, sie durch religiöse Gebote oder staatliche Sanktionen zu unterdrücken. Es kam darauf an, sie so in eine Ordnung zu überführen, dass sie Gutes bewirken. Der Rechtsphilosoph Giambattista Vico (1668–1744) hat diesen psychologisch-revolutionären Grundgedanken so formuliert: "Aus Grausamkeit, Habsucht und Ehrgeiz, den drei Lastern, die alle Menschheit in die Irre führen, macht die Gesellschaft nationale Verteidigung, Handel und Politik und begründet damit die Stärke, den Wohlstand und die Weisheit der Republiken." Der Wirtschaftswissenschaftler Albert O. Hirschman (1915–2012), der den Transformationsprozess der Sünden in nützliche Interessen eingehend beschrieben hat, sieht in Vicos Satz den Vorschein ähnlicher, späterer Denkfiguren: Ob Hegels "List der Vernunft" oder Freuds Konzept der Sublimation, immer geht es um den quasi-alchemistischen Prozess, das Gute im Schlechten zu erkennen und herauszufiltern. Oder, wie Goethe seinen Mephisto erklären lässt, diese Inkarnation der wunderbaren Verwandlung von Sünden in Tugenden: "Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft."

Seit Beginn der Neuzeit kommt es also in Staatsphilosophie und praktischer Politik darauf an, die "unvermeidlichen" menschlichen Neigungen zu Gier, Neid, Zorn oder Hochmut so zu organisieren, dass sie nicht nur keinen Schaden anrichten, sondern den Wohlstand und das Glück in einem Gemeinwesen vergrößern. Als eine Methode dieser Transformation schlug der Philosoph Francis Bacon (1561–1626) vor, "Affekt gegen Affekt" einzusetzen, also die Leidenschaften sich gegenseitig neutralisieren zu lassen, Feuer mit Feuer zu bekämpfen: Ehrsucht hält Geiz in Schach, Neid treibt die Trägen an, und so weiter. Die Idee der sich neutralisierenden Todsünden oder Leidenschaften ist auch in Montesquieus (1689–1775) Gedanken der Gewaltenteilung enthalten, dem Kern der modernen Staatsidee. In der Demokratie tritt Ruhmsucht gegen Habsucht an, der Neid erhält die Chance, durch Erfolg sich selbst zu überwinden, alles jedoch nach festen Spielregeln und mit einem System der checks and balances.

Der neue Zentralbegriff dieser Entwicklung aber ist das Interesse: Menschen sind nicht in erster Linie Sünder, sie haben nicht nur Laster und Leidenschaften, sondern vor allem Interessen. Sie suchen als vernunftbegabte Wesen vor allem ihren Vorteil und wollen ihren Nutzen mehren. Aus dieser modernen, man könnte sagen: coolen Mischung aus Egoismus und Rationalität entsteht das materielle Interesse, das letztlich alles überragende Motiv des neuen Individuums. Die zivilisierende Kraft des kühlen Eigeninteresses, ausgelebt in einer Demokratie, erweist sich als vergleichsweise erträglich, betrachtet man die zerstörerischen Leidenschaften, die in den "heroischen Abenteuern" ideologisch oder religiös verblendeter Akteure entfesselt werden. John Maynard Keynes (1883–1946) schrieb: "Dank der Möglichkeit, Geld zu erwerben und privaten Reichtum anzuhäufen, lassen sich die gefährlichen menschlichen Triebe in vergleichsweise harmlose Bahnen lenken (…). Es ist sicher besser, ein Mensch übt tyrannisch Herrschaft über sein Bankkonto aus als über seine Mitbürger; und wenn ersteres auch manchmal als bloßes Mittel zu letzterem geschmäht wird, stellt es doch, jedenfalls manchmal, eine Alternative dar."

Fähigkeit zum Bösen anerkennen, Verantwortung übernehmen

Die alten Todsünden sind heute keine Sünden mehr, die uns in ewige göttliche oder menschliche Ungnade stürzen: Sie gelten – wo sie auch heute noch unangenehm auffallen – nur noch als abweichendes Verhalten, als pathologische oder moralische Verirrungen, als Charakterdefekte. Sie werden nicht mehr theologisch eingedämmt, sondern wissenschaftlich erklärt – und dadurch meist schon halb entschuldigt. "Sündiges" Verhalten ist die Folge frühkindlicher Störungen, oder es ist durch gesellschaftliche Deprivation entstanden. Die Familiengeschichte, das Triebschicksal, zahlreiche Traumatisierungen: Statt von Sünde sprechen wir Aufgeklärten von Entfremdung, von pathologischen Entwicklungsstrukturen und von Sozialkonflikten. Aggressivität und Perversion besitzen als Psychosen und Neurosen Krankheitswert.

Der Theologe und Psychotherapeut Eugen Drewermann erinnert uns daran, dass das heutige Christentum vor allem eine Erlösungsreligion ist, im Grunde eine quasi-therapeutische Veranstaltung. Die entscheidenden Fragen sollten demnach nicht die nach Ächtung oder Bestrafung des Sünders sein, sondern: Was steckt hinter der Sünde? Was hat einen Menschen dazu gebracht, sündhaft zu handeln? Und wie kann ich dem Sünder helfen, dieses selbstzerstörerische Muster zu überwinden? Die Psychologisierung und Therapeutisierung menschlichen Verhaltens ist in der Moderne weit fortgeschritten. Was einmal als Laster galt, wurde nach und nach entmystifiziert und verwissenschaftlicht. Damit wurden aber auch Erwartungen geweckt, dass das "abweichende Verhalten", wenn es erst einmal auf seine Ursachen hin untersucht und in seiner Bedingtheit erklärt ist, auch geheilt oder korrigiert werden kann. Und so besuchen Jähzornige Anger-Management-Kurse, um ihren Zorn in den Griff zu bekommen. Die Völlerei, die jetzt Essstörung oder Fettleibigkeit heißt, wird in Diätkliniken behandelt; auch für Sexsüchtige gibt es spezielle Therapien – und für die Trägen Motivationsseminare. Und die Habgierigen, so sie ihren Trieb irgendwann als bedenklich ansehen oder schlicht erschöpft davon sind, betreiben irgendwann Sinnsuche oder gehen stiften.

Moral bleibt eine Frage der Balance zwischen den Extremen der menschlichen Potenziale, sie ist das Produkt gelungener Selbststeuerung. Diese Selbststeuerung wird beeinflusst durch Kräfte im kulturellen und wirtschaftlichen Feld, in dem wir leben – Marktkräfte, Technologien, Ideologien und Mythen. Obwohl es in modernen Gesellschaften kaum noch wirksame religiöse Dogmen und verbindliche moralische Autoritäten gibt, ist die Folge nicht automatisch, wie irrtümlich und moralisierend oft behauptet wird, ein völliges moralisches Vakuum oder ein ethisches Niemandsland. Richtig ist: Moral ist nicht mehr universell, sie ist kein Fixstern mehr, sondern etwas, was immer wieder neu gefunden werden muss. Moral im 21. Jahrhundert ist eine veränderliche Größe, eine Konvention, ein Konstrukt – sie ist eine pragmatische Verhandlungsmoral.

Gerade deshalb stellt sich die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen für seine Handlungen in unverminderter, neuer Schärfe. Das Konzept der Todsünden lädt dazu ein, unsere Fähigkeit zum Bösen anzuerkennen und Verantwortung zu übernehmen. Wir sind auch heute nicht automatisch "entschuldigt", nur weil wir eine wissenschaftliche Erklärung für unser Verhalten haben, wir sind nicht schuldlos, wenn wir unseren Zorn ungezügelt ausleben, unserem Neid oder unserer Trägheit nachgeben, unseren Hochmut pflegen. Wir "sündigen" nicht, weil uns gesellschaftliche Verhältnisse dazu zwingen oder weil wir in einer dysfunktionalen Familie aufgewachsen sind oder weil unser Temperament uns eben so handeln lässt – wir überschreiten häufig Grenzen, die wir sehr wohl erkennen können. Wer Schuld für seine schlechten Taten nicht anerkennen will, kann auch die guten nicht für sich reklamieren. Die Todsünden legen unseren Charakter als Ganzes bloß – man kann sie nicht abspalten, rationalisieren oder trivialisieren. Die Fähigkeit zum Bösen ist ohne Zweifel auch heute in uns – und wir haben die Wahl, ob wir eine Grenze überschreiten oder nicht. Der englische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton (1874–1936) schrieb: "Moral besteht wie Kunst darin, irgendwo eine Linie zu ziehen."

Dipl.-Psych., geb. 1948; seit 1979 (bis Ende 2014) Chefredakteur der Zeitschrift "Psychologie heute", Autor u.a. von "Wie der Teufel uns reitet. Von der Aktualität der 7 Todsünden" (2011). E-Mail Link: heiko.w.ernst@gmx.de