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Selbstbestimmt sterben – eine Fiktion? - Essay | Hochbetagt | bpb.de

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Selbstbestimmt sterben – eine Fiktion? - Essay

Eckhard Nagel

/ 14 Minuten zu lesen

Sterbehilfe und assistierter Suizid scheinen probate Mittel zur Erlangung eines autonom geplanten Todes zu werden. Aber lässt sich die Dominanz der Selbstbestimmung in modernen Gesellschaften wirklich auf das Ende des Lebens anwenden?

Die meisten Menschen wünschen sich heutzutage einen schnellen, selbst nicht wahrnehmbaren Tod. Geprägt von der kulturellen Dominanz der Selbstbestimmung in modernen Gesellschaften scheinen hierbei Sterbehilfe und assistierter Suizid zum probaten Mittel zu werden – mit den entsprechenden Konsequenzen etwa auch für die Ärzteschaft, die mitunter aufgefordert und sogar verpflichtet werden soll, eine über die Sterbebegleitung hinausgehende Unterstützung zu leisten. Aber ist selbstbestimmtes Sterben überhaupt eine Möglichkeit? Oder ist es eher ein Schlagwort, durch das der Drang nach Kontrolle auch in diesen hochsensiblen Bereich des Lebens Einzug halten soll?

Sterbekulturen im Wandel der Zeit

Kulturen des Sterbens sind geprägt von unterschiedlichen Menschenbildern und Vorstellungen über das Dasein. Im Mittelalter galt beispielsweise die "Ars Moriendi" als Kunst des guten Sterbens: Ausgehend von der Annahme, dass im Sterbeprozess der finale und unumkehrbare Kampf um die eigenen Seele vollzogen wird und sich dabei entscheidet, ob einen am Ende die Hölle, also die Verdammnis, oder das Heil in Form der Erlösung und des Himmels erwartet, beschreibt die historische "Ars Moriendi" die zentrale Anleitung für den Übergang vom Leben zum Tod. Diese Sterbekultur war geprägt von der großen Sorge vor einem plötzlich eintretenden Tod. Erstrebenswert war es, Zeit für den Sterbeprozess zu haben. In diesem wird der Sterbende aktiv begleitet, um sein Seelenheil finden zu können. Von der Notwendigkeit, den Sterbeprozess in dieser Form zu durchlaufen, waren die Menschen aller Stände überzeugt. Diese Überzeugung reichte bis in die Neuzeit.

Seither hat sich das Bild vom idealen Sterben stark verändert. Was im Mittelalter absolut gefürchtet war, ist heute für viele Menschen sehr erstrebenswert: Der unvermittelte, idealerweise nicht spürbare Eintritt des Todes. Denn viele leben in der Vorstellung, dass das Ende des irdischen Lebens auch das Ende ihres einzigen Lebens bedeutet. Das führt dazu, dass im Gegensatz zu früheren Epochen Lebensbedrohung und Tod tabuisiert werden. Wir haben es in den zurückliegenden 60 Jahren erfolgreich geschafft, das Sterben aus dieser Gesellschaft zu verdrängen. Die Wunschvorstellung von einem schnellen Tod hat allerdings wenig mit der Realität des Sterbens zu tun: Von den über 800.000 Menschen, die jedes Jahr in Deutschland sterben, durchleben etwa 80 Prozent diesen Weg in Krankenhäusern oder Pflegeheimen. Sehr viele von ihnen sterben hochbetagt und nach langer Krankheit.

Das Credo des selbstbestimmten Sterbens

Wenn heute das Sterben in die Wahrnehmung der Menschen kommt, dann unter der Maßgabe, dass die moderne Medizin in der Lage ist, das Leben deutlich zu verlängern. Dadurch wächst aber auch das Risiko von und damit auch die Angst vor langem Siechtum und quälendem Sterben. Nicht zuletzt aufgrund der therapeutischen Fortschritte in der Medizin befürchten viele Menschen bei ihrem Durchleben des Sterbeprozesses im Krankenhaus oder Pflegeheim Fremdbestimmung, soziale Isolation und Verlust ihrer Würde. Schließlich verläuft die Verdrängung des Sterbens und des Todes aus der öffentlichen Wahrnehmung parallel zu einer Zunahme an Individualisierung in der Gesellschaft, mit der auch eine soziale Vereinsamung einhergeht. Der hohe Anteil der in Krankenhäusern und Pflegeheimen sterbenden Menschen belegt, dass der Wunsch der meisten Menschen, ihren unvermeidlichen Sterbeprozess würdevoll und geborgen im Kreis der Familie zu durchleben, nicht der Realität entspricht. Deshalb sollen heute die Urängste vor dem eigenen Sterben mit anderen, teilweise sehr rationalen Strategien beruhigt werden.

Die gesellschaftlichen Veränderungen und die Veränderung der Lebens- und Sterbesituation des Einzelnen prägen die aktuellen Diskussionen. So werden unter dem Credo des selbstbestimmten Sterbens individualisierte Entscheidungsräume eingefordert. Dabei scheinen Sterbehilfe und assistierter Suizid ein probates Mittel zu sein. Denn der selbstbestimmte Todeszeitpunkt, begleitet von der Unterdrückung befürchteter körperlicher Symptome wie Schmerzen, Luftnot oder Übelkeit, verspricht vermeintlich einen "angstfreien Tod". So zumindest suggeriert es die Forderung nach der durch die Ärzteschaft ausgeführten Suizidbeihilfe. Diese Forderung übersieht aber, dass es weder eine wissenschaftliche Kompetenz noch ein ärztliches Erfahrungswissen zur Suizidbeihilfe gibt. Zudem ignoriert sie, dass eine Selbsttötung eine der biologischen Natur des Menschen widersprechende Handlung ist.

Seit Jahrzehnten wird mit wechselnder Intensität und aus immer neuen Blickwinkeln über das Thema Sterbehilfe diskutiert. In Deutschland haben sich diese Diskussionen seit einigen Monaten in Politik und Öffentlichkeit wieder verstärkt. Denn im Anschluss an das jüngst verabschiedete Hospiz- und Palliativgesetz wurden unterschiedlich motivierte Gesetzesinitiativen in den Deutschen Bundestag eingebracht, die sich mit der Sterbehilfe befassen. Damit flammt auch eine immer wiederkehrende Forderung nach gesetzlichen Regelungen auf, die es Ärzten erlauben sollen, todkranken Patienten das Sterben zu ermöglichen. In den Diskussionen geraten Begriffe der unterschiedlichen Arten der Sterbehilfe durcheinander. Und auch deren Grenzen werden immer wieder offenbar. Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, die Sachverhalte unter dem Blickwinkel unseres Rechtssystems zu beleuchten.

Trennung von Begleitung und Pflege versus Sterbehilfe

Weitsichtigen Initiativen des ehemaligen Präsidenten des Bayerischen Landtags und Präsidenten des Zentralkomitees der Katholiken, Alois Glück, sowie der ehemaligen Bundesministerin für Gesundheit und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, Ursula Schmidt, und nicht zuletzt auch der Umsetzungsinitiative des amtierenden Bundesgesundheitsministers, Hermann Gröhe, ist es zu verdanken, dass in Deutschland die Diskussionen um die Sterbehilfe von der Frage nach der Pflege beziehungsweise der Behandlung von schwerstkranken Patientinnen und Patienten getrennt geführt werden.

Diese in der Praxis nicht immer ganz leicht nachzuvollziehende Trennung hat dazu geführt, dass das Bundeskabinett Ende April 2015 den Entwurf eines "Gesetzes zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland" (Hospiz- und Palliativgesetz – HPG) beschlossen und sich der Deutsche Bundestag Mitte Juni 2015 in erster Lesung mit diesem befasst hat. Mit dem Gesetz werden laut Bundesministerium für Gesundheit die Versorgung und Begleitung von schwerstkranken Menschen deutlich verbessert. Reformen in der gesetzlichen Krankenversicherung, in der sozialen Pflegeversicherung und im Krankenhauswesen werden damit umgesetzt. Es enthält zudem Regelungen zur ambulanten Palliativ- und Hospizversorgung in der häuslichen und stationären Versorgung in Pflegeeinrichtungen, Hospizen und Krankenhäusern. Ziel ist ein flächendeckendes Angebot an Palliativ- und Hospizleistungen in Deutschland.

Offen ist, ob für adäquate ambulante und stationäre palliativmedizinische Versorgung in ausreichendem Maße Fachpersonal verfügbar sein wird. Es ist aber auf jeden Fall ein Gesetz, das die Palliativversorgung und die Hospizkultur stärkt und das mehr Raum für die im Sterbeprozess notwendige Zeit und Zuwendung bieten kann. Individuelle Beratungs- und Betreuungsangebote sollen schwerstkranken Menschen die Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen, die sie in der letzten Lebensphase wünschen und benötigen, wenn sie den Weg des Sterbens auf individuelle Weise gehen möchten. Die Unterstützung durch Pflegende und auch die Ärzteschaft kann und muss diesem Anspruch an Individualität gerecht werden.

Das Hospiz- und Palliativgesetz hat das Potenzial, sowohl die Humanität in unserer Gesellschaft als auch die Finanzierung dieser Arbeit nachhaltig zu verbessern. Dem gegenüber steht die Sterbehilfe, zu der es in Deutschland ein umfassendes gesetzliches Regelwerk gibt. Vor dem Hintergrund der jüngsten Gesetzesentwürfe, die sich mit spezifischen Fragen und insbesondere mit dem assistierten Suizid beschäftigen, sind die Arten der Sterbehilfe genau zu unterscheiden. Es geht um aktive Sterbehilfe oder Tötung auf Verlangen, Sterben lassen und assistierten Suizid.

Aktive Sterbehilfe oder Tötung auf Verlangen

Bei der aktiven Sterbehilfe handelt es sich um das bewusste, aktive Eingreifen zur Beendigung des Lebens eines anderen. Ziel der Handlung ist die Herbeiführung des Todes. Kennzeichen der aktiven Sterbehilfe ist, dass ein Mensch vorzeitig an der Aktivität eines Anderen stirbt und nicht etwa an den Folgen einer Erkrankung. Daher beschreibt der Begriff "Tötung auf Verlangen" den Sachverhalt präziser.

Diese Art des Tötens ist, wie alle anderen Formen, in Deutschland und nahezu jedem anderen Land Europas mit Ausnahme der Benelux-Staaten nach Strafgesetzbuch verboten. Im deutschen heißt es in Paragraf 216 "Tötung auf Verlangen":

"(1) Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen. (2) Der Versuch ist strafbar."

Im vom christlichen Menschenbild geprägten Grundgesetz gilt generell die Vorstellung, dass ein Mensch nicht Herr oder Herrin über das Leben eines anderen sein kann. Das gilt auch für den Fall eines schweren Leidens. Denn die Erlösung von einem Leiden ist nicht die eigentliche Aufgabe eines mitleidenden Menschen. Daher ist es in vielen Ländern juristisch verboten. Und auch ethisch und moralisch gilt das Töten auf Verlangen weithin als inakzeptabel.

Sterben lassen und Sterbebegleitung

Ein weiterer Bereich der Sterbehilfe ist das Sterben lassen. Hier wird auf lebensverlängernde Maßnahmen wie beispielweise künstliche Ernährung oder Beatmung verzichtet. Das Sterben lassen ist straffrei und sogar rechtlich geboten, wenn der Patient dies vorher zum Beispiel in einer Patientenverfügung geäußert oder in der aktuellen Situation veranlasst hat.

Unter Sterbebegleitung sind alle Therapien zu verstehen, die am Lebensende Schmerzen und Leiden lindern helfen. Dabei nimmt ein Arzt, der einem Patienten Schmerzlinderung verschafft, in Kauf, dass die Behandlung mit starken Schmerzmitteln die Lebenszeit des Patienten verkürzt. Der Deutsche Ethikrat hat vor rund sechs Jahren versucht, die diesbezüglich immer noch verwendete Terminologie "indirekte Sterbehilfe" aus der Nomenklatur zu streichen. Diese Form der Sterbebegleitung wird vom Deutschen Ethikrat als eine "adäquate" beziehungsweise "angemessene" Handlung angesehen, die ärztlich geboten sein kann. Wie bei jeder ärztlichen Handlung ist auch dies nur im Einverständnis mit dem Sterbenden erlaubt.

Es ist ersichtlich, dass die Grenzen der Sterbehilfe in bestimmten Situationen fließend sein können. Das führt dazu, dass Ärztinnen und Ärzte sich in dieser Hinsicht sehr zurückhalten und versuchen, keine Maßnahmen zu ergreifen, die ethisch/moralisch, aber vor allem auch juristisch nicht akzeptabel sind. In Deutschland besteht daher eine lange Tradition völlig unzureichender Schmerztherapie bei schwerstkranken Patientinnen und Patienten, entsprechend herrschte auch sehr lange ein Defizit an adäquater palliativmedizinischer Behandlung. Hier hat erst mit Beginn beziehungsweise in der Mitte der 1990er Jahre ein Umdenken eingesetzt, aus dem unter anderem auch das jetzt verabschiedete Hospiz- und Palliativgesetz erwachsen ist.

Assistierter Suizid

Beim assistierten Suizid verschreibt ein Arzt einem Patienten totbringende Medikamente. Alternativ besorgt sie ein Angehöriger oder Freund und stellt diese einem Sterbewilligen bereit. Im Vergleich zu Sterben lassen und Sterbebegleitung gibt es beim assistierten Suizid einen entscheidenden Unterschied: Der Suizid ist die Selbsttötung. Die Handlungsebene liegt also beim Sterbenden und nicht bei einem Dritten. Der Suizid ist gesetzlich nicht diskreditiert. Jeder kann sich auf legale Weise im Rahmen der ihm zugewiesenen Selbstbestimmung das Leben nehmen. Die frühere Vorstellung des schuldhaften "Sich-aus-dem-Leben-Nehmens" gibt es heute kaum noch. Auch in der evangelischen Tradition wird die Freiheit respektiert, die Gott gegeben hat, individuelle Entscheidungen bis zu dem Punkt zu treffen, an dem sich ein Mensch das Leben nimmt.

Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Ärztinnen und Ärzte und letztendlich sogar alle Menschen eine Sorgepflicht haben in dem Moment, in dem sich jemand anderes das Leben nehmen will. Jeder sollte bemüht und sogar verpflichtet sein zu versuchen, diese Selbsttötung zu unterbinden.

Ähnlich wie der Suizid ist in Deutschland der assistierte Suizid gesetzlich zulässig. Jedem Menschen ist damit die Möglichkeit gegeben, sich das Leben zu nehmen oder sich Hilfe für die Selbsttötung zu organisieren. Diese Freiheit, aber auch der Wunsch nach Regelung der Unterstützung beim Suizid fanden ihren Ausdruck in der Bundestagsdebatte am 2. Juli 2015, der ersten Lesung von vier Gesetzesentwürfen zur Sterbehilfe.

Rolle der Ärztinnen und Ärzte

Besonders die Rolle der Ärzteschaft steht im Blickpunkt der aktuellen Diskussionen um den assistierten Suizid. Um deren Selbstverständnis und deren daraus resultierende Situation zu verstehen, müssen der medizinische Behandlungsauftrag sowie das Verhältnis der Ärzteschaft zum Tod beleuchtet werden. Dieser Auftrag beruht auf einer viele Jahrhunderte alten Tradition der Hinwendung zum und der Heilung des Menschen. Einer der führenden Transplantationsmediziner in Deutschland, Rudolf Pichlmayr, hat das ärztliche Selbstverständnis vor einigen Jahren wie folgt formuliert: "Es gibt heute also in der Ärzteschaft eine Grundeinstellung, in der die offensichtlich auch heute vom sogenannten Zeitgeist ja häufig als altmodisch angesehenen Tugenden wie Pflichterfüllung, außergewöhnlicher Einsatz, Hinwendung zum Menschen, Nächstenliebe oder Leben für eine Aufgabe noch gelten."

Allerdings hatte die Medizin bis weit in das 19. Jahrhundert hinein aufgrund fehlender Möglichkeiten relativ geringe Wirksamkeit erzielt. Erst mit dem technischen und medizinischen Fortschritt ist es gelungen, den medizinischen Behandlungsauftrag konsequent zu erfüllen. Dieser bezieht sich darauf, das Leben eines Menschen zu erhalten, neue Technologien zu entwickeln, das Leben zu verlängern und immer neue Situationen, die früher nicht behandelbar waren, zu behandeln. Die zweifellos großen und großartigen Erfolge der modernen Medizin haben aber in Bezug auf das Lebensende zur Folge, dass es durchaus Mediziner gibt, die mit dem Sterben Schwierigkeiten haben. So wird es nicht selten als eine persönliche Niederlage angesehen, wenn ein operativer Eingriff nicht den gewünschten Erfolg bringt, wenn die medikamentöse Therapie keine Heilung, sondern Komplikationen nach sich zieht, oder wenn trotz aller technischen Aufwendungen keine Erklärung für eine schwerwiegende Erkrankung gefunden wird. Die Spezialisierung birgt dabei die Gefahr, Patienten dann aus dem eigenen Fachbereich zu verlegen, weil die kurative Expertise nicht den gewünschten Erfolg gebracht hat. Auf der anderen Seite fragen sich Patientinnen und Patienten, ob Behandlungen wirklich notwendig sind oder vielleicht doch eher dadurch motiviert sind, dass Mediziner nicht akzeptieren können, dass ein Leben zu Ende geht, oder gar aus ökonomischen Motiven handeln. Auch hier erwächst der Wunsch nach Selbstbestimmung und der Kontrolle über das eigene Sterben. Kontrolle ersetzt dann das fehlende Vertrauen in den Arzt und in seine Bereitschaft, dem Patienten die Unterstützung und die Begleitung zu gewähren, die ihm im Moment des Sterbens wirklich wichtig sind.

Medizin und Sterben

Die hippokratische Tradition, die sich über lange Zeit ausschließlich auf das Heilen und das Lindern von Leid fokussierte, hat einmal definiert, dass es nicht zum Vertragsverhältnis zwischen Ärztin beziehungsweise Arzt und Patient gehört, beim Patienten zu bleiben, wenn eine Behandlung keine Aussicht auf Erfolg hat. In vergleichbarer Weise hat etwa auch schon Sokrates aus anderen Kontexten heraus definiert: "Es gehört nicht zum ärztlichen Handeln, den Sterbenden zu begleiten." Die Ärzte haben sich also früher von Sterbenden abgewandt. Erst im aktuellen medizinischen Verständnis hat sich dies grundlegend gewandelt. Bis in die 1990er Jahre war die Sterbebegleitung im überwiegenden Selbstverständnis keine ärztliche Aufgabe. Das war ein Thema für andere Berufsgruppen wie etwa Pfarrerinnen und Pfarrer. Seit rund 20 Jahren aber versucht die Medizin, sich nun dem Sterben zu nähern. Dass dies ein langer und auch schwieriger Weg ist, liegt in der Komplexität der Sache. Denn wenn Ärztinnen und Ärzte im Zweifel für das Leben und den Lebensschutz argumentieren, dann muss sich jeder Patient auch darauf verlassen können, dass die Person, der er sich in einem Krankenhaus anvertraut, aus ihrem Selbstverständnis heraus niemals auf die Idee käme, ihn auf seinen Wunsch hin zu töten beziehungsweise ihm beim Suizid behilflich zu sein. Dem entsprechend ist dies in Deutschland sowohl standes- wie auch strafrechtlich eindeutig geregelt.

Insofern steht die Ärzteschaft derzeit noch vor einer grundlegenden Veränderung, die sich nur langsam in Richtung Sterbebegleitung bewegt. Dabei kann sie durchaus eine führende Rolle einnehmen: Sowohl unheilbar kranke Menschen, deren Leid nur durch den Tod gelindert werden kann, als auch solche, die aus Angst vor Alter und Einsamkeit ihrem Leben ein Ende setzen wollen, sollten erwarten dürfen, dass ihr Arzt als Wegweiser und Helfer fungiert. Voraussetzungen dafür sind ausreichend Zeit, Zuwendung, Raum und eine eindeutige, verständliche Rechtslage.

Selbstbestimmt handeln

Selbstbestimmt zu handeln ist heute ein wesentliches Grundmotiv. Dazu hat bereits der Nationale Ethikrat, die Vorgängerorganisation des Deutschen Ethikrates, 2006 festgestellt, dass der Anspruch auf Selbstbestimmung der Person, aber auch als Kehrseite die Zumutung von Selbstbestimmung das Ethos moderner Lebensführung prägen. Menschen können und müssen selbst entscheiden, wie sie leben wollen. Allerdings bleibt das Individuum auf die Solidarität der Gemeinschaft angewiesen. Niemand kann alleine leben. Dass Selbstbestimmung der Stützung durch Solidarität bedarf, durch die sie in bestimmten Fällen überhaupt erst möglich wird, dürfte auch in der modernen Zivilgesellschaft unstrittig sein.

Damit Menschen im Fall einer schweren Krankheit und auch angesichts des nahenden Todes die gewünschten individuellen Beratungs- und Betreuungsangebote bekommen, ist die frühzeitige und eindeutige Willensäußerung ein elementarer Bestandteil des selbstbestimmten Handelns. Denn der Wille des Patienten ist für Ärztinnen und Ärzte Grundlage jeder Behandlung und damit auch deren Grenzen. In der Praxis ergeben sich durch das Eruieren des mutmaßlichen Willens der Patientinnen und Patienten vielfach Unsicherheiten, wenn deren Urteilsfähigkeit etwa krankheitsbedingt fehlt. Kommt es zu keiner ausreichenden Klärung, sind Ärztinnen und Ärzte gut beraten, für das Leben zu argumentieren. Dann wird in dubio pro vita entschieden. Das hat auch seinerzeit der Nationale Ethikrat so formuliert.

Für Patientenverfügungen gibt es in Deutschland ein gesetzliches Regelwerk, das unter anderem die Volljährigkeit voraussetzt, die Schriftform vorschreibt und bei dem konkrete Maßnahmen benannt, aber keine Basismaßnahmen ausgeschlossen beziehungsweise auch keine aktive Sterbehilfe eingefordert werden dürfen. Da auf der anderen Seite die Patientenverfügung grundsätzlich jederzeit formlos widerrufen werden kann, gibt deren bloße Existenz in der konkreten Situation nicht immer die gewünschte Klarheit. Daher empfiehlt sich eine vorhergehende ärztliche Aufklärung sowie eine rechtliche Beratung. Darüber hinaus sollten Patientenverfügungen kontinuierlich aktualisiert werden.

Mit der Patientenverfügung erhalten Ärztinnen und Ärzte auch vor dem Gesetz Handlungsfreiheit für die Sterbebegleitung. Denn das Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer begonnenen medizinischen Behandlung, also der Behandlungsabbruch, ist gerechtfertigt, wenn dies dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen entspricht und dazu dient, einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess seinen Lauf zu lassen.

Gesellschaftliche Verantwortung

Die kulturelle Dominanz von Selbstbestimmung in modernen Gesellschaften darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sterben keine rationale Angelegenheit ist, die man nach Belieben kontrollieren und steuern kann. Gesellschaften, die sich stark an ökonomischen Zielen orientieren, kommen daher in der Praxis mit ihren Erklärungsversuchen und Lösungsansätzen bei diesem Thema immer wieder an ihre Grenzen. Denn die rationale Grundannahme, dass Kontrolle immer besser sein soll als Vertrauen, ist falsch. Das gilt nicht nur, aber insbesondere auch für das Sterben. Denn ein Mensch stirbt nur dann im Frieden mit sich (und mit Gott), wenn er noch in den letzten Stunden in der Lage war, zu realisieren, dass er mit gutem Grund vertrauen kann. Dementsprechend ist es auch nicht verwunderlich, dass viele Patientinnen und Patienten in der präterminalen Phase bei entsprechender Betreuung in dieser Hinsicht noch einmal sehr positive Erfahrungen machen können.

Zur gesellschaftlichen Verantwortung gehört auch eine breite Akzeptanz dafür, dass Räume für die Sorgen, Ängste und Nöte von sterbenden Menschen geschaffen werden müssen. Das sind auf der einen Seite physikalisch Räume in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in denen das Abschiednehmen in einer würdigen Umgebung möglich ist. Das sind aber auch die zeitlichen Freiräume nicht zuletzt in der Pflege und der Medizin, die ausreichend Spielraum für die Hinwendung zum Menschen bieten müssen. Das Hospiz- und Palliativgesetz ist ein erster und wichtiger Schritt, diese Räume zu schaffen. Ziel muss es sein, gesamtgesellschaftlich einen selbstverständlicheren Umgang mit dem Sterben und individuell mit dem eigenen Tod zu finden.

Fazit

Eine neue Kultur des letzten Lebensabschnitts braucht keine neuen Gesetze. Sie braucht Zeit und Zuwendung. Und einen Rahmen, der dies fördert. Das Hospiz- und Palliativgesetz bietet diesen Rahmen für die Begleitung der Sterbenden. Dabei kann es legitim sein, dass Angehörige oder sogar vertraute Fremde einem Schwerkranken Hilfe leisten, um selbstständig aus dem Leben scheiden zu können. Ärztliches Handeln hingegen darf niemals über Sterbebegleitung hinausgehen. Eine Veränderung dieser Situation würde zu einem massiven Vertrauensverlust zwischen Patienten und Ärzteschaft führen und bestehenden Ängsten zusätzlich Vorschub leisten. Selbstbestimmung ist in Zusammenhang mit dem eigenen Sterben eine Fiktion. Der Mensch würde gern selbstbestimmt sterben – doch das ist leider oft nicht der Fall. Dem Versuch, diesen Widerspruch zwischen Wunsch und Wirklichkeit aufzulösen, in dem man der Ärzteschaft Pflichten hinsichtlich der Assistenz zum Suizid auferlegt, sollte daher energisch widersprochen werden.

Der aktuelle gesetzliche Rahmen in Deutschland ist absolut ausreichend. Veränderungen sind nur sehr begrenzt notwendig und hilfreich, zum Beispiel beim Verbot organisierter oder kommerzialisierter Sterbehilfe. Alle anderen derzeit im Deutschen Bundestag aktuell vorgeschlagenen Gesetzesänderungen dagegen verkomplizieren die Situation und verunsichern somit. Nicht vermeintlich gesetzlich organisierbare Kontrolle, sondern eine neue Kultur des Vertrauens im Arzt-Patienten-Verhältnis sollte das Gebot der Stunde sein. Um dahin zu kommen ist es gut, dass in Deutschland darüber diskutiert und ein Weg für die Zukunft gefunden wird.

Dr. Dr. med. habil. Dr. phil. Dr. theol. h.c., Univ.-Professor, geb. 1960; Ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums Essen, Mitglied des Deutschen Ethikrats; Universitätsklinikum Essen, Hufelandstraße 55, 45147 Essen. E-Mail Link: aerztlicher.direktor@uk-essen.de