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Multiple Europas und die interne Politik der Differenz

Manuela Boatcă

/ 15 Minuten zu lesen

Im Beitrag wird die vorherrschende Vorstellung eines einzigen Europas, das multiple Modernen produziert hat, durch ein Modell von multiplen Europas mit ungleichen Rollen bei der hegemonialen Definition der Moderne und ihrer Verbreitung ersetzt.

Seit über 20 Jahren sehen sich die Sozialwissenschaften mit dem Vorwurf des Eurozentrismus konfrontiert. Eine Vielzahl von Ansätzen, deren Ziel es war, den Eurozentrismus zu überwinden und über das Modernisierungsparadigma in seinen alten wie neuen Erscheinungsformen hinauszuwachsen, sind als Antwort auf diese Kritik entstanden. Die meisten davon konzentrierten sich auf das westliche Konzept von Moderne – das wiederum der Vorstellung von Moderne als etwas Westlichem entspricht – und ersetzten es durch den Begriff von multiplen, fragmentierten, alternativen oder schlichtweg "anderen" Modernen. Die verschiedenen Konzepte von pluralen Modernen teilen dabei die Vorstellung, dass die ursprüngliche Moderne, die als Vorbild und Messlatte für die anderen diente, die westeuropäische war und ist. Von diesem Standpunkt aus gesehen sind sowohl der Osten als auch der Süden Europas, ähnlich wie Lateinamerika, bloße Erweiterungen der ursprünglichen westlichen Moderne.

Das gleiche Verständnis eines letztlich in sich kohärenten Europas schwingt im ökonomischen und politischen Projekt der Europäischen Union mit, das die Bezeichnung "Europa" schrittweise monopolisiert hat, sodass nur noch die gegenwärtigen Mitgliedstaaten der EU oder solche, die bald Mitglieder werden sollen, in den Begriff inkludiert werden. Obwohl das Konzept "Europa" nie einen bloßen geografischen Gehalt hatte, sondern immer sowohl die Geopolitik als auch die Epistemologie verschiedener historischer Konstellationen widergespiegelt hat, entsteht mit dem Diskurs der EU das, was wir eine "moralische Geografie" des Kontinents nennen könnten, mit tief greifenden Konsequenzen für die Identitätspolitik der ausgeschlossenen Länder. Die "moralische Geopolitik" bezieht sich auf den Zivilisierungsdiskurs, der die EU an die Spitze einer Wertehierarchie setzt, die sich aus dem historischen Erbe und der gegenwärtigen politischen Rolle ihrer Mitgliedstaaten, die als vorbildlich gelten, ableitet. Die "moralische Geografie" meint hingegen die Ebene der symbolischen Repräsentation des europäischen Kontinents, der genau diesen Diskurs widerspiegelt: je später der Beitritt zur EU, desto fragwürdiger oder mangelhafter der Zivilisierungsgrad.

Eine solche Geografie setzt eine ontologische und moralische Skala voraus, die von einem westlichen Teil, dessen moderner, demokratischer und friedlicher Charakter (und somit dessen Überlegenheit) unhinterfragt bleibt, hin zu einem rückständigen, gewalttätigen und unterlegenen Teil reicht – als solcher von fragwürdiger Europäität und fast immer in den Balkan-Ländern verortet. Spätestens seit dem Ersten Weltkrieg als "Pulverfass Europas" angesehen, hat die Balkan-Region regelmäßig in der europäischen Literatur wie in der Moralgeografie des Kontinents die kollektive Rolle eingenommen, die 1940 so zusammengefasst wurde: "those wretched and unhappy little countries (that) can, and do have quarrels that cause world wars. Loathsome and almost obscene snarls in Balkan politics, hardly intelligible to a Western reader, are still vital to the peace of Europe, and perhaps the world." Der Balkan stellt "das Andere" (Extrem) auf einer ontologischen Skala von Europäität dar, die weitere Zwischenstufen zu umfassen scheint. Die Kriterien für die Positionierung auf der Skala sind nichtsdestotrotz noch lange nicht klar.

Um die Logik, die sowohl in den neuen Ansätzen zu pluralen Modernen als auch in dem EU-Modell wirksam wird, besser verstehen zu können, soll im Folgenden die Vorstellung eines einzigen Europas, das multiple Modernen produziert, durch diejenige von multiplen Europas mit unterschiedlichen und ungleichen Rollen in der Ausgestaltung der hegemonialen Definition der Moderne und in der Sicherstellung ihrer Verbreitung ersetzt werden. Das hier vorgelegte Modell multipler Europas betont in erster Linie die Machtverhältnisse und die unterschiedlichen Hierarchien, die innerhalb Europas selbst während des modernen Zeitalters entstanden sind, ohne daraus auf die Entstehung mehrerer europäischer Modernen zu schließen.

Die Frage nach dem historischen Ursprung der europäischen Ost-West-Teilung ist nach wie vor höchst umstritten. Für die Frage nach der Entstehung multipler Europas spielt der orientalistische Diskurs des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. Als Diskurs, der die westlichen Repräsentationen des "Anderen" beherrschte und es der westeuropäischen Kultur erlaubte, an "Macht und Identität zu gewinnen, indem sie sich von dem Orient als eine Art Ersatz und sogar Untergrund selbst absetzte", entstand der Orientalismus in der Zeit nach der Aufklärung. Wissenschaftliche und literarische Darstellungen des Orients als rückständig, irrational, zivilisierungsbedürftig und rassisch unterlegen fungierten als Hintergrund für Repräsentationen des Okzidents als fortschrittlich, rational, zivilisiert, ja sogar biologisch überlegen und dienten somit der Legitimierung europäischer Kolonialisierung und Kontrolle. Die dekolonialen Theoretiker Fernando Coronil und Walter Mignolo wiesen jedoch darauf hin, dass der Orientalismus des 18. und 19. Jahrhunderts ohne eine vorherige Vorstellung von Okzidentalismus, dessen Entstehung auf die Anfänge westeuropäischer kolonialer Expansion im langen 16. Jahrhundert zurückzuführen ist, nicht möglich gewesen wäre. Als Ausdruck einer "konstitutiven Beziehung zwischen westlichen Repräsentationen kultureller Differenz und weltweiter westlicher Herrschaft" stellt Okzidentalismus nicht das Pendant des Orientalismus, sondern seine Vorbedingung dar, einen Diskurs aus dem und über den Westen, der die Voraussetzungen für die Diskurse über die Anderen des Westens – das heißt für Orientalismus, aber auch für Antisemitismus, Anti-Schwarzen-Rassismus sowie für Sexismus – schafft. Viel mehr als ein physischer Ort auf einer Landkarte ist das im 16. Jahrhundert entstandene geopolitische Konzept des Okzidents ein epistemischer Standort für die Produktion hegemonialer mental maps – oder imperialer Landkarten –, die eine diskursive Machtkomponente umfassten.

Von multiplen Orientalismen zu multiplen Europas

In der Frühmoderne wurde das periphere Europa des 15. Jahrhunderts zum expandierenden Europa im atlantischen Raum und gleichzeitig zum ersten Zentrum der kapitalistischen Weltwirtschaft. In dieser Zeit waren sowohl die europäische Territorialherrschaft als auch die Reichweite ihrer epistemischen Macht noch begrenzt. Im Gegensatz dazu entstanden im 18. Jahrhundert Hierarchien, die Europa entlang ähnlicher Kriterien zu strukturieren begannen wie diejenigen, die auf die koloniale Welt angewandt wurden. Zum einen diente die evolutionistische Vorstellung, dass die Menschheit eine lineare Entwicklung mehrerer aufeinanderfolgender Stufen von einem ursprünglichen Naturzustand bis zur westlichen Zivilisation zu durchlaufen hatte, dazu, eine zeitliche Aufteilung des europäischen Kontinents zu rechtfertigen: Während der Osten immer noch als feudal galt, verkörperte der Süden das Ende des Mittelalters, der Nordwesten hingegen die Moderne. Zum anderen ermöglichte die dualistische Ansicht, dass die Unterschiede zwischen Europäern und Nicht-Europäern über unüberwindbare natürliche Kategorien wie primitiv-zivilisiert, irrational-rational, traditionell-modern erklärt werden können, sowohl eine räumliche als auch eine ontologische Einteilung Europas: Anders als "der" Orient und "der" Islam konnte der Osten Europas als weiße, christliche und europäische Region – die jedoch gleichzeitig rückständig, traditionell und überwiegend agrarisch war – nicht als Westeuropas Anderes konstruiert werden, sondern eher als dessen unvollständiges Selbst. Die Nähe zu Asien und das Erbe der osmanischen Herrschaft ließen darüber hinaus insbesondere den Balkan als Zwischenstadium zwischen Orient und Okzident erscheinen, der deshalb als halbentwickelt, semikolonial, semizivilisiert oder halborientalisch galt. Während die rassischen, ethnischen und Klassenhierarchien, die in den Kolonien etabliert worden waren, die koloniale Differenz von Westeuropa markierten, waren es weniger explizit rassische, dafür ausgeprägt ethnische und spezifische Klassenhierarchien, die die imperiale Differenz zwischen den europäischen Reichen und ihren (früheren) Subjekten artikulierten. Analog dazu wurde der Süden Europas, symbolisiert durch das geschwächte spanische Reich und sein maurisches Erbe, aufgrund seiner Nähe zum islamischen Norden Afrikas allmählich aus dem westlichen Zentrum herausdefiniert.

Parallel zur Konstruktion der kolonialen Differenz in Übersee entstand also eine doppelte imperiale Differenz in Europa (und bis nach Asien hinein): auf der einen Seite eine externe Differenz zwischen dem neuen kapitalistischen Zentrum und den existierenden traditionellen Reichen islamischen und ostchristlichen Glaubens – das osmanische und das zaristische Reich; auf der anderen Seite eine interne Differenz zwischen dem neuen und dem alten kapitalistischen Zentrum, vor allem England und Spanien. Vor diesem Hintergrund fielen sowohl der Orientalismus als auch die Verfremdung Russlands sowie des Südens Europas gegenüber dem westlichen Machtzentrum auf fruchtbaren Boden.

Ab diesem Zeitpunkt haben wir es mit wenigstens zwei Typen von europäischen Subalternen gegenüber dem hegemonialen Machtmodell zu tun und mit der ersten imperialen Landkarte multipler Europas. Vor dem Hintergrund der externen wie internen imperialen Differenz können wir zwischen mindestens drei Europas unterscheiden: einem dekadenten Europa – das sowohl die Hegemonie als auch die damit verbundene epistemische Macht, ein hegemoniales Selbst und seine subalternen Anderen zu definieren, verloren hatte, was insbesondere für Spanien und Portugal zutraf; einem heroischen Europa – selbst definiert als Urheber der zentralen Errungenschaften der Moderne, in erster Linie Frankreich und England; und einem epigonalen Europa – definiert über seinen vermeintlichen Mangel an solchen Errungenschaften und demnach als bloßer Re-Produzierer der Stufen, die vom "heroischen" Europa zurückgelegt wurden, was hauptsächlich für die Länder des Balkans zutraf. Während sowohl das "dekadente" als auch das "epigonale" Europa wirtschaftlich durch eine semiperiphere Position charakterisiert waren, trugen ihre unterschiedlichen Wege zu dieser Position dazu bei, sie im Hinblick auf ihre Interessen eher zu spalten als zu vereinen: In Spanien und Portugal lösten das Wissen um die verlorene Macht und die Verfügbarkeit über imperiale Sprachen das Bewusstsein eines Abstiegs aus dem Zentrum, eine imperiale Nostalgie aus. In dem Teil des Kontinents hingegen, der nur dank des zunehmenden Verfalls des Osmanischen Reiches zu "Europa" zugehörig wurde – in Osteuropa und dem Balkan – machte der Aufstieg in die Semiperipherie des Weltsystems, nach einer langen Geschichte als Peripherie innerhalb Europas selbst, das Streben nach Europäität (definiert als westliche Moderne) zur dominanten Haltung.

Tabelle: Multiple Europas (© bpb)

Die Unterkategorien, die der imperialen Landkarte von multiplen Europas zugrunde liegen, dienten somit dazu, die Hegemonie des "heroischen" Europas positiv zu sanktionieren: Frankreich, England und Deutschland als Inbegriffe dessen, was Hegel "das Herz Europas" genannt hatte, wurden so zur einzigen Autorität, die in der Lage war, ihre Definition der Moderne weltweit durchzusetzen und gleichzeitig ihre imperialen Projekte in den verbleibenden Europas oder durch sie umzusetzen: Der wirtschaftliche Aufstieg Nordwesteuropas, währenddessen Holland, Frankreich und England um Hegemonie rangen, machte sich einerseits die territorialen Gewinne der ersten, spanisch-lusitanischen kolonialen Expansion in den Atlantik zunutze, um daraus die menschlichen, ökonomischen und kulturellen Ressourcen zu schöpfen, die für die charakteristischsten Errungenschaften der Moderne nötig waren – allen voran für die Industrielle Revolution. Dies geschah jedoch, ohne dabei den Beitrag des "dekadenten" europäischen Südens oder den der kolonisierten Amerikas in das Selbstverständnis der Moderne zu integrieren, die sich als (nord)westlich und von europäischer Herkunft definierte.

Ab dem 19. Jahrhundert profitierte das westeuropäische Zentrum andererseits auch zunehmend vom Ende osmanischer Herrschaft im Osten des Kontinents. In den ländlichen und primär agrarwirtschaftlichen Gesellschaften der Region gewann es allmählich die Kontrolle über die strategischen Handelsrouten über die Donau und das Schwarze Meer. Die anschließende Modernisierung des Südostens Europas durch die Einführung bürgerlich-liberaler Institutionen, wodurch dieser Teil des Kontinents institutionell für den Westen erkennbar und finanziell von ihm abhängig wurde, prägte gleichzeitig die politischen und kulturellen Identitäten der Länder in der Region gegenüber dem westlichen Machtdiskurs. Österreich, Polen, Rumänien und Kroatien definierten demnach ihre Rolle in der europäischen Geschichte als "Bollwerke des Christentums" gegen die muslimische Gefahr; jedes Land in Osteuropa stellte sich selbst als "Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei" oder als "Brücke zwischen West und Ost" dar. Damit legitimierten sie die westliche Überlegenheit immer wieder aufs Neue und nährten denselben Orientalismus, der das jeweilige Land selbst als balkanisch, nicht christlich oder nicht weiß genug abwertete.

Die langfristige Instrumentalisierung der geopolitischen Stellung der "anderen Europas" für die Zwecke des "heroischen" Europas lässt erkennen, dass der Okzidentalismus, der an die "anderen Europas" gerichtet war, diese nicht daran hinderte, ihrerseits gegenüber der nicht-europäischen Welt den Eurozentrismus hochzuhalten. Ganz im Gegenteil. Die Neuverortung Osteuropas und des Balkans im Kontext eines hierarchischen Modells von multiplen Europas macht deutlich, dass die Blindheit gegenüber der (neo)kolonialen Logik, die in den politischen und Identitätsdiskursen dieser Regionen vorherrscht, sie eher zu Komplizen des kolonialen Projektes hat werden lassen, das der Entstehung der Moderne zugrunde liegt.

Eine solche Klassifikation ist allerdings notwendigerweise unvollständig und als heuristisch gedacht. Auf der Basis seiner prototypischsten Beispiele erlaubt das oben skizzierte Modell multipler Europas jedoch, die Auswirkungen, die eine direkte oder indirekte Beteiligung an dem außereuropäischen kolonialen Unterfangen auf die Definitionsmacht, die sich aus der strukturellen Position einer Region innerhalb des Weltsystems im Allgemeinen und innerhalb Europas im Besonderen ergibt, zu beleuchten.

Europäisierung als Projekt, Prozess und Problem

Insbesondere nach dem 11. September und der diskursiven Konstruktion der terroristischen Bedrohung als "islamische Herausforderung" in der gesamten westlichen Welt ist Verwestlichung zunehmend zu einer Frage der Parteiergreifung im "Kampf der Kulturen" geworden, den der Politikwissenschaftler Samuel Huntington als charakteristisch für zukünftige Konflikte ansah. Das Modell multipler Europas wird in der Mehrheit der gegenwärtigen kognitiven Landkarten des Kontinents reproduziert. Die Bezeichnung der Expansion der EU als "Osterweiterung" und der Aufnahme zentral- und südosteuropäischer Länder in die EU als "Europäisierungsprozess" deuten dabei erneut auf den Brückencharakter, den der Osten Europas im westlichen Verständnis annimmt. Folglich ist der Allgemeinbegriff "Europa", mit dem im 19. und 20. Jahrhundert West-, Nord- und Teile Südeuropas bezeichnet wurden, heute gleichbedeutend mit der EU, während die östlichen Teile des Kontinents als eine Region von fragwürdiger politischer, soziokultureller und religiöser Europäität und mit unzureichenden wirtschaftlichen und juristischen Standards definiert werden.

Die Anwendung des Europäisierungsdiskurses auf Länder mit jahrhundertealten europäischen kulturellen und gesellschaftlichen Traditionen (von Polen über die Tschechische Republik bis zu Ungarn und Rumänien) entspricht der gleichen Logik. Einerseits reinstrumentalisiert er die orientalistische Symbolik, um die Distanz vom Orient als Maßstab für Standards der Modernität und Zivilisation zu etablieren; gleichzeitig mobilisiert er die so entstandenen Minderwertigkeitskomplexe mit Hilfe einer quantitativen Abwertungslogik: Als die aus westlicher Sicht perzipierte islamische Gefahr an die Stelle der kommunistischen getreten ist, hat Osteuropa im okzidentalistischen Imaginären den Status einer politischen und ökonomischen Zweiten Welt, der ihr während des Kalten Krieges zugeschrieben wurde, für denjenigen einer kulturell und rassischen Zweiten Welt eingetauscht, ohne dabei die Rolle des "epigonalen" Europas zu verlassen. Als weiße, christliche und europäische Region, die jedoch gleichzeitig als wirtschaftlich rückständig, kulturell halborientalisch und politisch instabil gilt, übernimmt das "epigonale" Europa nach 1989 die Identität des unvollständigen Selbst des "heroischen" Europas, anstatt, wie im Falle des Islam und des Orients, sein Anderes zu werden.

Dass Theorie und Praxis der Osterweiterung der EU als "Instrument der Orientalisierung" fungieren, wird daran deutlich, dass die vorerst letzten Länder, die in die EU aufgenommen wurden, Rumänien, Bulgarien und Kroatien waren, die letzten, die über eine Aufnahme verhandeln, Serbien und Montenegro sind. Verhandlungen mit der Türkei, deren Antrag auf Vollmitgliedschaft fast 30 Jahre zurückliegt, wurden hingegen wiederholt auf Eis gelegt und stoßen regelmäßig auf Widerstand von Seiten Frankreichs und Deutschlands. Die Reihenfolge der Inklusion neuer Länder in die EU scheint somit den Grad ihrer jeweiligen Verbindung zu dem osmanischen Erbe, das als Gegenteil zur politisch und kulturell erwünschten Europäität konstruiert wird, fast exakt zu reproduzieren.

Von der Europäischen Kommission explizit als "entscheidende Maßstäbe für den EU-Beitritt" bezeichnet, erinnern die Kriterien, anhand derer der "Fortschritt" östlicher Kandidaten beurteilt wird, stark an den Orientalismus des 19. Jahrhunderts. Sowohl Korruption und Menschenhandel als auch die fehlende Autorität des Gesetzes, die für den verspäteten Beitritt Rumäniens und Bulgariens während der fünften Erweiterungsrunde wie für die stockenden Verhandlungen mit Kroatien und der Türkei verantwortlich gemacht wurden, gehören zum Repertoire des orientalischen Despotismus, der in den Vorstellungen über den Orient während des 18. und 19. Jahrhunderts eine prominente Rolle spielte. Sie als Kernprobleme der evaluierten Länder herauszuheben, lässt die Beitrittskandidaten nicht nur als exotisch und unterlegen erscheinen, sondern führt ihre Missstände auf eine Vergangenheit zurück, die die Mitgliedstaaten bereits überwunden haben.

Die Aushandlung kultureller und rassischer Identitäten, die darauf beruhen, die eigene orientalische Vergangenheit zurückzuweisen, seinen eigenen Beitrag zur europäischen Zivilisation zu betonen und sich die Integration in die EU als eine "Rückkehr nach Europa" vorzustellen, dominierten noch einmal den osteuropäischen Identitätsdiskurs. In den 1990er Jahren hatten die nationalen Eliten Kroatiens und Sloweniens den politischen und wirtschaftlichen Übergang ihrer Länder als Befreiung von der "balkanischen Dunkelheit" bezeichnet. Das Wahlversprechen, sich institutionell und wirtschaftlich Europa wieder anzuschließen, basierte in Kroatien und Polen auf dem nationalen Selbstverständnis als "Bollwerk des Christentums" gegenüber der osmanischen Gefahr und im ehemaligen Jugoslawien auf Argumenten der historischen Zugehörigkeit zu Zentraleuropa – anstatt zu Osteuropa oder dem Balkan.

Bei aller Unterschiedlichkeit verfolgen die diskursiven Strategien der Kandidaten zur Europäisierung ein ähnliches Ziel: den Aufstieg von der Position des "epigonalen" Europas in diejenige des "heroischen" Europas, das heißt das Erreichen vollständiger Europäität. Individuelle Abgrenzungsstrategien beruhen dabei darauf, Merkmale von Östlichkeit, Orientalismus, und letztlich Nicht-Weißsein an neu konstruierte "Andere" innerhalb der Region weiterzureichen, in einer internen Reproduktion von Orientalismus.

Je mehr das "epigonale" Europa seinen eigenen Europäitätsgrad betont, desto stärker hebt es seine Andersartigkeit gegenüber dem "heroischen" Europa hervor und zollt dabei der imperialen Landkarte, in der die Vorstellung von Europäität dem dominant westlichen Modell entspricht, zusätzliche Anerkennung. Die Verinnerlichung einer kulturellen Identität als unvollständiges Selbst des Westens macht es somit möglich, Osteuropa gleichzeitig in die Identität der expandierenden EU zu inkludieren als auch zu exkludieren.

"Es gibt keinen sicheren Ort". Offene Fragen

Kann eines der multiplen Europas die Basis für eine einzige Idee von Europa oder ein allgemein gültiges Modell für eine charakteristische europäische Moderne liefern? Angesichts der Tatsache, dass sie alle zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte der globalen Moderne imperialistische, koloniale, nationalistische, rassistische oder totalitäre Ideologien produziert haben, gibt es keinen geopolitisch oder epistemisch sicheren Ort, der entweder die europäische oder die moderne Essenz verkörpern würde. Ganz im Gegenteil: Genauso, wie die Geschichte Europas mit der Geschichte derjenigen nicht-europäischen Regionen verflochten ist, die es eroberte, mit denen es Handel trieb, oder gegen die es sich verteidigte, ist auch die Geschichte der Moderne durch Kolonialismus, Imperialismus, Sklaverei und Kriegführung geprägt worden und bis heute damit untrennbar verbunden. Europäität auf eine triumphalistische Version der Moderne zu reduzieren, die auf eine Hand voll heroischer "Gründerväter" beschränkt ist, lässt die Vielfalt der Europas und deren jeweiligen (widersprüchlichen) Beiträge zur europäischen Zivilisation außer Acht. Damit dient ein diskursives Modell, das Europäität als Einheit beziehungsweise als Einzigartigkeit definiert, dazu, die Vielfalt des postkolonialen und postimperialen Europas als Manko zu verkennen sowie mittels der eingangs diskutierten Moralgeografie des Kontinents eine interne Politik der Differenz zu reproduzieren, die nur in das Gegenteil von Einheit münden kann.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Willfried Spohn, Multiple, Entangled, Fragmented and Other Modernities. Reflections on Comparative Sociological Research on Europe, North and Latin America, in: Sérgio Costa et al. (Hrsg.), The Plurality of Modernity: Decentring Sociology, München 2006, S. 11–22.

  2. Vgl. Shmuel Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000.

  3. Vgl. József Böröcz, Goodness Is Elsewhere: The Rule of European Difference, in: Comparative Studies in Society and History, 1 (2005), S. 110–387.

  4. John Gunther, Inside Europe, New York 1940, S. 437.

  5. Vgl. Edward Said, Orientalism, New York 1978.

  6. Ebd., S. 3

  7. Vgl. Fernando Coronil, Beyond Occidentalism: Toward Non-Imperial Geohistorical Categories, in: Cultural Anthropology, 1 (1996), S. 51–87; Walter Mignolo, Local Histories/Global Designs. Coloniality, Subaltern Knowledges, and Border Thinking, Princeton 2000.

  8. F. Coronil (Anm. 7), S. 57.

  9. Vgl. Manuela Boatcă, Global Inequalities beyond Occidentalism, Farnham 2015.

  10. Vgl. Immanuel Wallerstein, The Capitalist World-Economy, Cambridge 1979.

  11. Vgl. Aníbal Quijano, Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina, in: Edgardo Lander (Hrsg.), La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales. Perspectivas latinoamericanas, Buenos Aires 2000, S. 201–246.

  12. Vgl. Maria Todorova, Imagining the Balkans, New York–Oxford 1997.

  13. Vgl. ebd.

  14. Vgl. W. Mignolo (Anm. 7), S. 36f.

  15. Vgl. Boaventura de Sousa Santos, Between Prospero and Caliban. Colonialism, Postcolonialism and Interidentity, in: Review, 2 (2006), S. 143–166.

  16. Vgl. Walter Mignolo, Introduction, in: South Atlantic Quarterly, 3 (2006), S. 479–499, hier: S. 487.

  17. Vgl. József Böröcz, Introduction: Empire and Coloniality in the "Eastern Enlargement" of the European Union, in: ders./Melinda Kovács (Hrsg.), Empire’s New Clothes. Unveiling EU Enlargement, Telford 2001, S. 4–50.

  18. Vgl. M. Todorova (Anm. 12), S. 18.

  19. J. Böröcz (Anm. 17), S. 6.

  20. Vgl. Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat. Erweiterungsstrategie und wichtigste Herausforderungen für den Zeitraum 2006–2007, 8.11.2006, S. 6, Externer Link: http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2006/nov/com_649_strategy_paper_de.pdf (25.11.2015)

  21. Vgl. ebd.; Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat. Erweiterungsstrategie und wichtigste Herausforderungen 2009–2010, 14.10.2010, Externer Link: http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_documents/2009/strategy_paper_2009_de.pdf (25.11.2015)

  22. Vgl. Melinda Kovács, Putting down and Putting off: The EU’s Discursive Strategies in the 1998 and 1999 Follow-Up Reports, in: J. Böröcz/dies. (Anm. 17), S. 196–234.

  23. Nicole Lindstrom, Between Europe and the Balkans: Mapping Slovenia and Croatia’s "Return to Europe" in the 1990’s, in: Dialectical Anthropology, 27 (2003), S. 313–329.

  24. Vgl. Milica Bakić-Hayden, Nesting Orientalisms: The Case of Former Yugoslavia, in: Slavic Review, 4 (1995), S. 917–931.

  25. Vgl. N. Lindstrom (Anm. 23), S. 324; M. Bakić-Hayden (Anm. 24), S. 924.

  26. Vgl. ebd., S. 922.

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Dr. phil., geb. 1975; Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt Makrosoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Rempartstraße 15, 79098 Freiburg/Br. E-Mail Link: manuela.boatca@soziologie.uni-freiburg.de