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Austeritätspolitik als gesellschaftliches Projekt | Schulden | bpb.de

Schulden Editorial Geldpolitik und Staatsverschuldung. Monetäre oder fiskalische Dominanz? Einhegen oder pflegen? Internationale Regulierung von Staatsverschuldungskrisen im langen 20. Jahrhundert Austeritätspolitik als gesellschaftliches Projekt Staatsschulden, Haushaltskonsolidierung und staatlicher Gestaltungsspielraum in Schweden Geld und Schulden. Zwei Seiten einer Medaille Junge Menschen, Geld, Schulden Wie geht es "raus aus den Schulden"? Narrative Krisenbewältigung in der Privatverschuldung Schuld und Schulden. Wie moralisch ist die Ökonomie?

Austeritätspolitik als gesellschaftliches Projekt

Roland Sturm

/ 15 Minuten zu lesen

In der EU herrschen unterschiedliche Verständnisse von Austeritätspolitik und ihrer Wünschbarkeit vor. Unterschiedlich waren und sind auch ihre gesellschaftlichen und parteipolitischen Folgen im Zeichen der Staatsschuldenkrise.

Austeritätspolitik ist nicht neu. In Großbritannien verstand man darunter beispielsweise den Konsumverzicht und die Rationierungen während des Zweiten Weltkrieges. Über deren Notwendigkeit herrschte Einigkeit in der britischen Gesellschaft und Politik. Strittig wurde die Austeritätspolitik, als ausgerechnet eine dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates verpflichtete Regierung unter der Führung der sozialdemokratischen Labour Party diese Politik nach dem Krieg fortführte.

Wie wir es auch heute beobachten können, hatte diese wirtschaftspolitische Strategie soziale und parteipolitische Folgen. Während die Konservative Partei im Vereinigten Königreich die staatliche Kontrolle des gesellschaftlichen Konsums kritisierte, sahen die führenden Köpfe der Labour Party im zeitweiligen Konsumverzicht den Weg zum Sozialismus. Dabei argumentierten sie mit dem Vorbild der Sowjetunion, die durch erzwungenen Konsumverzicht das Land industrialisiert habe. Investitionen sollten Vorrang haben vor Konsum, um damit langfristig den wirtschaftlichen Erfolg Großbritanniens zu sichern, was wiederum auch heißt, Konsum auf höherem Niveau zu ermöglichen. Der britische Labour Schatzkanzler Stafford Cripps scheute sich 1949 nicht, vor einem Arbeiterpublikum Forderungen nach höheren Löhnen als kurzsichtig, unfair, ignorant und möglicherweise absichtlich bösartig zu bezeichnen. Die ökonomischen Prioritäten müssten lauten: zuerst Exporte, dann Investitionen und ganz zum Schluss persönlicher Konsum.

In jüngster Zeit war im Zusammenhang mit der Staatsschuldenkrise in den EU-Ländern wieder verstärkt von haushaltspolitischer Austerität die Rede. Im Vereinigten Königreich entwickelten die Regierungen und die wichtigsten Parteien den Ehrgeiz, in der Sparpolitik besonders erfolgreich zu sein; griechische Regierungen – um ein anderes Extrem zu nennen – argumentierten hingegen, dass Austeritätspolitik ihr Land überfordere.

Definiert man Austeritätspolitik als Sparpolitik mit dem Hauptziel, das Primärdefizit zu beherrschen, zeigen empirische Untersuchungen des Internationalen Währungsfonds (IWF), dass die Krisenstaaten der EU (Griechenland, Irland, Portugal und Spanien) ihr Defizit am stärksten begrenzt haben – auch stärker als das Vereinigte Königreich. Dies allein erklärt aber weder die unterschiedlichen öffentlichen Reaktionen auf die Austeritätspolitik in diesen Ländern noch die Veränderungen auf der Ebene der Parteien- und Regierungssysteme, die die Austeritätspolitik bewirkt hat.

Interpretationen und Begründungen von Austeritätspolitik

Austeritätspolitik findet ihre Begründung nicht in einem eigenen Politikfeld. Sie ist vielmehr ein Instrument zum Erreichen eines bestimmten Zwecks. Die Deutungen von Austeritätspolitik unterscheiden sich hinsichtlich der ihr unterstellten weitergehenden Ziele.

Am weitesten verbreitet ist wohl die These, Austerität ergebe sich aus der Logik des Neoliberalismus. Dieser leugne den Zusammenhang zwischen der von den Banken verursachten Finanzkrise seit 2008 und der Staatsschuldenkrise, die von den Kosten der Bewältigung der Bankenkrise mitverursacht wurde. Vielmehr werde aus neoliberaler Perspektive argumentiert, dass die Haushaltsprobleme der EU-Staaten dadurch entstanden seien, dass die Bürgerinnen und Bürger in den Krisenländern über ihre Verhältnisse gelebt haben. Um die Haushaltsprobleme zu überwinden, müssten alle mithelfen und Einschnitte bei ihren Einkommen, vor allem aber bei den Leistungen des Sozialstaates mittragen. Das bedeute, dass faktisch ein Umverteilungsprozess von Arm zu Reich stattfindet, weil die Besitzenden über die politischen und ökonomischen Möglichkeiten verfügen, die Kosten der Krise auf die Besitzärmeren abzuschieben, deren Lebensstandard weit mehr vom Sozialstaat abhängt. Austerität wird hier also als Frontalangriff auf den Wohlfahrtsstaat verstanden und als notwendiges Korrelat der Postdemokratie, die gesellschaftliche Verantwortung für Marktversagen leugnet. Austeritätspolitik kann diesem Verständnis nach nicht durch einen Politikwechsel überwunden werden. Vielmehr ist ihr Ende eng verbunden mit der Überwindung der Logik des Kapitalismus und der mit ihm einher gehenden Machtverhältnisse, wenigstens aber mit einem stark in die Wirtschaft intervenierenden Staat.

Tatsächlich wuchs in den EU-Krisenländern während der Austeritätspolitik der Anteil der armutsgefährdeten Personen nach Sozialleistungen, legt man die EU-Definition zugrunde (weniger als 60 Prozent des Median-Einkommens). Der Trend ist allerdings nicht eindeutig, und das Krisenjahr 2008 ist kein klarer Einschnitt. Es wäre verfehlt, sozialstaatliche Defizite und Probleme allein der Austeritätspolitik zuzuschreiben. Wenn argumentiert werden soll, der Neoliberalismus zeige nur sein anderes, radikaleres Gesicht, stellt sich die Frage, weshalb die Kritikerinnen und Kritiker des Neoliberalismus heute Austerität als eigenständige Herausforderung thematisieren. Die These, Austeritätspolitik sei ein Angriff auf den Wohlfahrtsstaat, ist für die Analyse politischer Realitäten zudem zu pauschal. So haben beispielsweise die britischen Regierungen von 2010 und 2015 wichtige Pfeiler des Wohlfahrtsstaates wie das Gesundheitswesen oder die Renten von der Sparpolitik ausdrücklich ausgenommen.

Kritiker der Austeritätspolitik halten dieser auch vor, nicht nur ungerecht, sondern auch überflüssig zu sein, weil sie kein Wirtschaftswachstum ermögliche. Dabei hat niemand eine kausale Verbindung zwischen Wirtschaftswachstum und Austeritätspolitik behauptet. Mit Austeritätspolitik kann nur das jährliche Staatsdefizit begrenzt werden. Die Alternative, eine weitere Staatsverschuldung zur Belebung der Nachfrage auf dem Binnenmarkt, ist ebenfalls umstritten, weil damit die Haushaltsprobleme vergrößert und an die nächsten Generationen weitergereicht werden. Wie Investoren das jeweils bewerten, bleibt im Einzelfall abzuwarten. Die negativen Konsequenzen eines Vertrauensverlustes in die Bonität von Staaten sind aber bekannt. Wachsen wird eine Wirtschaft nicht, wenn der Staat mehr oder weniger ausgibt, sondern nur, wenn Waren und Dienstleistungen produziert werden, für die eine Nachfrage besteht. Der Gegensatz Wachstum und Austerität, den die Gegner der Austeritätspolitik aufmachen, ist ein künstlicher.

Sparpolitik kann aber nicht nur als Enteignung der Armen verstanden werden, sondern auch als Belohnung der Tugendhaften. Hier steht die Überlegung im Vordergrund, dass ein Staat auf Dauer nicht mehr ausgeben kann, als er einnimmt. Die Analogie zu privaten Haushalten wird bemüht, von den Gegnern der Austeritätspolitik aber heftig abgelehnt. Aus ihrer Sicht werde damit die fundamentale Einsicht keynesianischer Wirtschaftspolitik missachtet, dass in Zeiten einer Krise und ausfallender privater Nachfrage der Staat die Aufgabe habe, diese Nachfrage zu ersetzen, um die Wirtschaft zu stützen. Ob solche Überlegungen zur Konjunkturpolitik ein Patentrezept für die Überwindung struktureller Defizite in den heutigen Krisenstaaten der EU sind, etwa das Fehlen einer funktionierenden Steuererfassung in Griechenland oder der Einfluss der organisierten Kriminalität in Süditalien, mag bezweifelt werden.

Strukturelle Defizite erfordern eine Auseinandersetzung mit den grundlegenden gesellschaftlichen und ökonomischen Problemen eines Landes, Konjunkturprogramme laufen hier ins Leere. Gehört ein Land der Eurozone an, lassen sich strukturelle Defizite, wenn sie zu wirtschaftlichen Problemen führen, nicht mehr durch eine Währungsabwertung auffangen, die qualitativ schlechtere Produkte über den Preis wieder konkurrenzfähig macht. Eine Abwertung des Euro leistet hier zwar Schützenhilfe außerhalb des Euroraums, von der nach innen aber die wettbewerbsstärksten Länder am meisten profitieren. Wettbewerbsfähigkeit hat zwei Säulen, die nicht unmittelbar durch politische Entscheidungen beeinflussbar sind: zum einen die Produktivität einer Volkswirtschaft – fehlt diese, helfen auch Subventionen nicht, sie werden im Gegenteil zu reinen Erhaltungsmaßnahmen auf Kosten von Wettbewerbern; zum anderen die Innovationskraft eines Landes. Diese ist nicht direkt, aber doch wesentlich vom Bildungssystem abhängig. Hier wirken Staatsausgaben aber eher mittel- bis langfristig.

In der EU führte die moralisch-realpolitische Sichtweise von Austerität zu der Wahrnehmung einer Spaltung zwischen Nord- und Südeuropa. Den Südeuropäern wird vorgehalten, sie seien nicht zu einer Gemeinschaftsanstrengung zur Stabilisierung der europäischen Wirtschaft und Währung bereit, seien also – anders als die Nordeuropäer – unsolidarisch und lehnten, trotz vertraglicher Verpflichtungen und Selbstverschulden, die nötigen Opfer für eine bessere europäische Zukunft ab. Damit werde die Finanzierung der Krisenlasten auf diejenigen Staaten verschoben, die seriös haushalten. Diese Debatte ist in der EU noch nicht zu Ende. Es wird von Bemühungen des Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker und führender europäischer Sozialdemokraten berichtet, den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufzuweichen, um neue Staatsverschuldung zu erleichtern. Dies wird als Abkehr von der Austeritätspolitik verstanden und mit dem bereits erwähnten umstrittenen Argument verbunden, dass dann mögliche staatliche Investitionen Wachstum erzeugen werden.

Eine weitere These sieht in der Austeritätspolitik eine Voraussetzung für nachhaltiges Wirtschaften, das künftigen Generationen keine immensen finanziellen Altlasten aufbürdet. Wenn jede Generation für ihre Verpflichtungen einstehen soll, sei beim erreichten Stand der Staatsverschuldung der heutigen Generation zuzumuten, Grenzen der Ausgabenpolitik anzuerkennen. Die Idee, aus nationalen Haushaltsproblemen durch Vergemeinschaftung europäische zu machen, um die Schärfe sozialer Einschnitte für einzelne EU-Mitglieder abzufedern, findet bei den ökonomisch bessergestellten EU-Mitgliedstaaten naturgemäß weniger Unterstützung. Orientiert man Nachhaltigkeitspolitik am Erreichen des Maastricht-Kriteriums für die Gesamtverschuldung von Staaten von 60 Prozent des BIP im Jahr 2030, so müsste beispielsweise Griechenland nach heutigen Schätzungen sein Primärdefizit jährlich um 11 Prozentpunkte des BIP verringern. Für Belgien wären es 8,2 Prozentpunkte, für Zypern 7,5, für Frankreich 7,3, für das Vereinigte Königreich 6,9, für Spanien 6,6, für Portugal und Italien 5,7 Prozentpunkte und für Deutschland 1,3 Prozentpunkte. Es fällt auf, dass eine solche Betrachtungsweise auch Länder in den Fokus rückt, die wie Frankreich, Italien oder das Vereinigte Königreich bei europäischen Initiativen zur Überwindung der Staatsschuldenkrise bisher nicht im Vordergrund standen.

Politische und gesellschaftliche Folgen der Austeritätspolitik

Die EU-Krisenstaaten begegneten der Herausforderung, ihre Wirtschafts- und Sozialsysteme im Zuge der Austeritätspolitik zu verändern, auf unterschiedliche Art – analog zu den unterschiedlichen Ursachen ihrer wirtschaftlichen Probleme. Auch ihre Gesellschaften reagierten jeweils anders auf die Auswirkungen der Austeritätspolitik. Die Reaktionen reichten von heftiger Ablehnung der "Fremdherrschaft" der sogenannten Troika aus Europäischer Zentralbank (EZB), IWF und EU-Kommission bis zu der Einsicht, dass es gelte, für selbstverschuldete Fehler eine Lösung zu finden. Solche öffentlichen Diskurse prägten ein Meinungsklima, das sich auch bei Wahlen und im Parteiensystem niederschlug. Verallgemeinernd lässt sich feststellen, dass die Ablehnung der Austeritätspolitik in den Bevölkerungen politische Erfolge von Randparteien und neuen populistischen Parteien erleichterte, die trotz der eigentlich unabweisbaren Notwendigkeit von Einsparungen und Strukturreformen des Sozialstaates den Erhalt und Ausbau des Wohlfahrtsstaates versprachen. Dieses Versprechen speiste sich aus der Definition einer Opferrolle für das eigene Land, wobei in Südeuropa in der öffentlichen Meinung inzwischen ein gewisser Konsens über die schädlichen Wirkungen eines angeblichen deutschen Diktats vorherrscht, während linke Parteien gleichzeitig Austerität als eine Politik der Bankenrettung und des Abbaus sozialer Errungenschaften geißeln.

Austeritätspolitik hat in der Regel mehr als eine Ursache (Tabelle 1). Als politisch entscheidend hat sich die Unterscheidung herausgestellt, ob Lösungen im Kontext der Austeritätspolitik von außen, beispielsweise als konkrete Bedingungen für die Inanspruchnahme der europäischen Rettungsschirme und anderer Hilfen, an die EU-Krisenstaaten herangetragen wurden, oder ob sie durch eigene Anstrengungen gefunden wurden.

Tabelle 1: Unterschiedliche Ausgangslagen für Austeritätspolitik (Hauptursachen) (© bpb)

Von den Ländern, die von 2010 bis 2015 Gelder aus den europäischen Rettungsschirmen erhielten, war nur in Irland die Kritik an den somit eingegangen Einsparverpflichtungen eine Minderheitsmeinung. Für viele Irinnen und Iren war die Vorstellung, sich den Anforderungen des freien Marktes und der Haushaltskonsolidierung zu stellen, trotz sozialer Härten nicht bedrohlich, sondern mit der Erinnerung an die vergangenen wirtschaftlichen Erfolge des Landes verbunden. Bezeichnend ist auch, dass die Troika in irischen Umfragen kein schlechteres Image hatte als die Regierung oder die Opposition – während in Griechenland schon der Ausdruck verpönt ist. Bei dem Referendum über den Beitritt Irlands zum EU-Fiskalpakt von 2012, der für Hilfsgelder aus dem EU-Rettungsschirm qualifiziert, zugleich aber auch zum Haushaltsausgleich zwingt, stimmten bei einer Wahlbeteiligung von 50,6 Prozent 60,3 Prozent der irischen Abstimmungsberechtigten für den Fiskalpakt.

Sowohl in Großbritannien als auch in Griechenland war im Kontext der Haushaltspolitik die Hauptsorge, das Haushaltsdefizit nicht mehr beherrschen zu können. Während sich im Vereinigten Königreich ein Allparteienkonsens für entsprechende Sparmaßnahmen fand und findet, war in Griechenland die Notwendigkeit der Haushaltskonsolidierung äußerst umstritten. Das blieb selbst so, nachdem die Ratingagenturen griechische Staatsanleihen auf Ramschniveau heruntergestuft hatten und private Banken nicht mehr bereit waren, sich in Griechenland finanziell zu engagieren. Schon im Mai 2010 kam es in Griechenland zu einem Generalstreik, dem allein bis 2011 15 weitere folgten. Damit einher gingen Großdemonstrationen und ab Mai 2011 eine mehrere Monate dauernde Besetzung des Syntagmaplatzes in Athen. Das Motto des Protests lautete: "Wir schulden nichts, wir verkaufen nichts, wir zahlen nichts." Die weiteren Jahre der Austeritätspolitik bis zur Regierungsübernahme von Syriza 2015 waren innenpolitisch durch eine anhaltende Proteststimmung geprägt.

Die Bankenrettung nach der Finanzkrise 2008 zwang selbst streng marktwirtschaftlich orientierte Regierungen wie die britische oder die irische zu weitreichenden finanziellen Verpflichtungen bis hin zur Übernahme maroder Banken, um das Funktionieren der Volkswirtschaften zu garantieren. Im Vereinigten Königreich war das Haushaltsdefizit aber nicht allein die Folge der Bankenrettung, sondern auch eines wirtschaftlichen Einbruchs und fehlender Haushaltsdisziplin in den letzten Jahren der Labour-Regierungen. In Irland, Spanien und Zypern war die Bankenkrise hingegen die wesentliche Ursache für die Haushaltskrise und die danach folgende Sparpolitik, in Irland und Spanien verbunden mit der Immobilienkrise. In Zypern war der Bankensektor ohnehin überdimensioniert, die Bankeinlagen erreichten fast das Vierfache des BIP. Die irische Regierung übernahm über den Staatshaushalt Garantien für alle Verbindlichkeiten der irischen Banken. Die Dimensionen waren gewaltig: 40 Prozent des BIP, verbunden mit Garantien von 245 Prozent des BIP, mussten mobilisiert werden.

Tabelle 2: (Partei-)Politische Auswirkungen der Austeritätspolitik (© bpb)

Die Finanzmärkte verloren aber nicht nur Vertrauen in jene Staaten, die offensichtlich Schwierigkeiten hatten, ihre Haushalte zu stabilisieren. Als problematisch erwiesen sich auch Länder, die "über ihre Verhältnisse leben", in denen also der erreichte Lebensstandard nicht mehr der Wirtschaftsleistung entspricht. Griechenland war schon vor der Finanzkrise nicht fähig gewesen, die sogenannten Konvergenzkriterien für die Einführung des Euro einzuhalten. In Frankreich hat die Regierung bis heute große innenpolitische Schwierigkeiten, ein Sparprogramm durchzusetzen. Das Gleiche gilt für Italien. Die dennoch erreichten Reformen sind bereits genug, um heftigen Protest und einen emotionalen Austeritätsdiskurs zu befeuern.

Kein Staat war völlig resistent gegen parteipolitische Folgen der Austeritätspolitik (Tabelle 2). In Großbritannien, Portugal, Zypern, Irland und Frankreich fanden die Verschiebungen wesentlich, aber nicht nur, im bestehenden Parteiensystem statt. In Griechenland, Spanien und Italien entstanden einflussreiche neue politische Kräfte. Im Vereinigten Königreich zeigten die Wahl von 2015 und die Politik nach der Wahl deutlich die Austerity-Bruchlinie im britischen Parteiensystem. Im Wahlkampf traten nur die kleinen Parteien, die walisischen und schottischen Nationalparteien und die Grünen als Kritiker der sozialen Folgen der Austeritätspolitik auf. Der überragende Wahlerfolg der schottischen Nationalpartei mit einem Anti-Austerity-Programm und die gleichzeitige Niederlage der oppositionellen britischen Labour Party in Schottland 2015 weisen darauf hin, dass nicht unbedingt die Strategie des Haushaltsausgleichs, wohl aber der Weg dahin strittiger ist, als dies noch bei der Wahl 2010 erkennbar war. Ein weiterer Beleg hierfür ist die Wahl eines Anti-Austerity-Kandidaten nach der Wahlniederlage der Labour Party zu ihrem Parteivorsitzenden. Jeremy Corbyn galt als Außenseiter, hatte aber mit seiner Kritik am Austeritätskurs der britischen politischen Elite letztendlich Erfolg.

Die politische Polarisierung entlang des Themas Austerität ist weit stärker in jenen Ländern, in denen bisherige Randparteien mit unterschiedlichem Erfolg versuchen, sozialen Protest zu bündeln. In Italien etwa steht die Demokratische Partei inzwischen fast alleine und zum Teil auch zögerlich für eine wirtschaftliche Reformpolitik. Alle wichtigen Oppositionsparteien – die Fünf-Sterne-Bewegung Cinque Stelle als quasi neue Partei, die Lega Nord sowie die Restbestände der dem ehemaligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi noch folgenden Gruppierungen – eint inhaltlich, wenn auch nicht organisatorisch, die Ablehnung der Austeritätspolitik und zum Teil auch der EU. In Italien schien sich anfangs noch die Möglichkeit abzuzeichnen, Austeritätspolitik als nationale Anstrengung zu begreifen, um das Land voranzubringen. Die 2011 gebildete Technokratenregierung unter Mario Monti war jedoch gerade einmal ein Jahr im Amt. Der wiedereinsetzende Parteienwettbewerb orientierte sich rasch am Populären, wozu auch zählt, die Verantwortung für wirtschaftliche und soziale Probleme Europa zuzuschieben.

Eine schwächere Rolle als Anti-Austeritätspartei spielt Sinn Féin in Irland. Zwar hatte die Immobilien- und Bankenkrise einen Regierungswechsel zur Folge. Die Fianna Fáil/Grüne-Koalition wurde 2012 abgelöst von einer Fianna Gael/Labour-Koalition. Die stärkste Regierungspartei wurde für die Krise des Landes verantwortlich gemacht. Für Sinn Féin reichte ihre ablehnende Haltung zur Austerität nur zu geringen wahlpolitischen Erfolgen, was angesichts der erwähnten gesellschaftlichen Unterstützung in der irischen Gesellschaft für Einsparungen bei staatlichen Leistungen nicht erstaunt.

Frankreich ist insofern ein etwas untypischer Fall, als der Aufstieg des Front National nicht in erster Linie einem an Austerität ausgerichteten Populismus zu verdanken ist. Der Front National konnte allerdings von den Enttäuschungen profitieren, die die Sozialistische Partei provozierte, nachdem sie 2010 mit einem Anti-Austeritätsprogramm die Wahlen gewonnen hatte. Weder gelang der wirtschaftliche Aufschwung, noch konnte die Partei ihrer Ablehnung des Abbaus sozialer Errungenschaften gerecht werden. 2014 traten Premierminister und Wirtschaftsminister zurück, womit auch der Einfluss des linken, austeritätskritischen Flügels der Partei geschwächt wurde. Der neue Premierminister Manuel Valls nähert sich einigen Aspekten sozialer Reformpolitik an, eingedenk des innerparteilichen Widerstands jedoch zögerlich.

In Griechenland waren von Beginn der Austeritätspolitik an die Zweifel in der Bevölkerung groß, ob diese erforderlich sei. Die Umsetzung der Austeritätspolitik traf auf eine politische Kultur, die kein Vertrauen in den Staat hat. Er gilt als Beute der Parteien, klientelistische Strukturen prägen die Gesellschaft. Austerität wurde nicht als griechische Angelegenheit gesehen, sondern als Angriff auf das Land. Dem wurde auch mit nichtökonomischen Argumenten wie der Verteidigung der "Würde" Griechenlands begegnet. Die Episode der Technokratenregierung 2011/12 war insofern ein halbherziges Instrument der nationalen Einigung in der Austeritätspolitik, als im Kabinett Lucas Papademos fast alle Ministerposten mit Parteivertreterinnen und Parteivertretern besetzt wurden. Die Altparteien verloren ihre Konkurrenzfähigkeit in dem Maße, wie sie mit dem doppelten Vorwurf des Politikversagens und des Ausverkaufs griechischer Interessen an die Troika konfrontiert wurden. Damit boten sich wahlpolitische Erfolgschancen für eine Austerität konsequent ablehnende Partei. 2015 gewann Syriza zwei Parlamentswahlen, einmal mit einem eindeutigen Anti-Austeritätsprogramm, das zweite Mal als Partei, die glaubhafter als die Altparteien argumentieren konnte, dass sie das unumgängliche Austeritätsprogramm im griechischen Interesse verhandelt habe und auch so umsetzen werde. Syriza wurde Vorbild einer anderen neuen Anti-Austeritätspartei, der Podemos in Spanien. Auch Podemos argumentiert gegen die korrupten Altparteien und kritisiert das europäische Austeritätsdiktat, allerdings im eher europafreundlichen politischen Umfeld Spaniens mit weniger Distanz zur EU.

Fazit

Austeritätspolitik ist auch Gesellschafts- und Parteipolitik. Sie wird aus unterschiedlichen Gründen als alternativlos präsentiert. Ihre Akzeptanz variiert je nach wirtschaftlicher Ausgangslage und wirtschaftspolitischem Grundkonsens einer Gesellschaft. Fehlt die Akzeptanz, sind Veränderungen in nationalen Parteiensystemen möglich, angefangen von innerparteilichen Schismen über das Erstarken von Randparteien bis hin zu erfolgreichen Parteineugründungen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Ina Zweiniger-Bargielowska, Consensus and Consumption: Rationing, Austerity and Controls after the War, in: Harriet Jones/Michael Kandah (Hrsg.), The Myth of Consensus. New Views on British History, 1945–64, Basingstoke 1996, S. 84f.

  2. Vgl. ebd., S. 85.

  3. Vgl. Spectator vom 14.1.1949, S. 2.

  4. Jährliches Haushaltsdefizit ohne Berücksichtigung des Schuldendienstes (Zinszahlungen) und konjunktureller Einflüsse.

  5. Vgl. The Economist vom 12.9.2015, S. 69.

  6. Vgl. Andrew Gamble, Crisis without End? The Unravelling of Western Prosperity, Basingstoke 2014, S. 157ff.

  7. Vgl. u.a. Dexter Whitfield, In Place of Austerity. Reconstructing the Economy, State and Public Services, Nottingham 2012; Armin Schäfer/Wolfgang Streeck (Hrsg.), Politics in the Age of Austerity, Cambridge–Malden 2013; Colin Crouch, The Strange Non-Death of Neoliberalism, Cambridge–Malden 2014; Mary O’Hara, Austerity Bites. A Journey to the Sharp End of Cuts in the UK, Bristol 2014; Richard Seymour, Against Austerity. How We Can Fix the Crisis They Made, London 2014.

  8. Vgl. Deutscher Bundestag, Auswirkungen der EU-Krisenbewältigung auf soziale Standards und Armut, Drucksache 17/10055, S. 9.

  9. Vgl. Mark Blyth, Austerity. The History of a Dangerous Idea, Oxford 2013, S. 4.

  10. Vgl. Robert Kuttner, Debtor’s Prison. The Politics of Austerity versus Possibility, New York 2013.

  11. Vgl. OECD, Economic Policy Reforms 2015: Going for Growth, Paris 2015.

  12. Vgl. Der Spiegel vom 5.9.2015, S. 39.

  13. Vgl. Stefan Moog/Bernd Raffelhüschen, Ehrbare Staaten? Update 2014. Die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen in Europa, Berlin 2015, S. 17.

  14. Vgl. Barry Cannon/Mary P. Murphy, Where Are the Pots and Pans? Collective Responses in Ireland to Neoliberalization in a Time of Crisis, in: Irish Political Studies, 30 (2015) 1, S. 1–19, hier: S. 16.

  15. Vgl. Tony Costello, The Fiscal Stability Treaty Referendum 2012, in: Irish Political Studies, 29 (2014) 3, S. 457–470.

  16. Vgl. Andrew Gamble, Austerity as Statecraft, in: Parliamentary Affairs, 68 (2015), S. 42–57, hier: S. 55ff.

  17. Vgl. David Stuckler/Sanjay Basu, The Body Economic. Eight Experiments in Economic Recovery, from Iceland to Greece, London 2014, S. 82ff.

  18. Vgl. Anthony Seldon/Guy Lodge, Brown at 10, London 2011, S. 382.

  19. Vgl. Peter Mair, Smaghi versus the Parties: Representative Government and Institutional Crisis, in: A. Schäfer/W. Streeck (Anm. 7), S. 143–168.

  20. Vgl. M. Blyth (Anm. 9), S. 62f.; Stella Ladis/Dimitris Tsarouhas, The Politics of Austerity and Public Policy Reform in the EU, in: Political Studies Review, 12 (2014), S. 172.

  21. Vgl. Guya Accomero/Pedro Ramos Pinto, "Mild Mannered"? Protest and Mobilisation in Portugal under Austerity, in: West European Politics, 38 (2015) 3, S. 491–515.

  22. Vgl. Roland Sturm, Das Land gespalten und auf dem Weg aus der EU? Die britischen Parlamentswahlen vom 7. Mai 2015, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 46 (2015), S. 502–520.

  23. Vgl. The Economist vom 19.9.2015, S. 29f.

  24. Vgl. The Economist vom 20.6.2015, S. 27f.

  25. Vgl. Georgios Karyotis/Wolfgang Rüdig, Blame and Punishment? The Electoral Politics of Extreme Austerity in Greece, in: Political Studies, 63 (2015), S. 2–24, hier: S. 14.

  26. Vgl. Yannis Theocharis/Jan van Deth, A Modern Tragedy? Institutional Causes and Democratic Consequences of the Greek Crisis, in: Representation, 51 (2015) 1, S. 1–17.

  27. Vgl. Yannis Palaiologos, The 13th Labour of Hercules. Inside the Greek Crisis, London 2014, S. 28f.

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Dr. phil. habil., geb. 1953; Professor am Institut für Politische Wissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Kochstraße 4, 91054 Erlangen. E-Mail Link: roland.sturm@fau.de.