Gedächtnis im Zeitalter der Globalisierung. Prinzipien für eine neue Politik im 21. Jahrhundert
Kann Erinnerung überhaupt mit Globalisierung in Zusammenhang gebracht werden? Ist nicht gerade die ‚kollektive Erinnerung‘ bestimmend für das ‚Lokale‘, das sich der Globalisierung Widersetzende? Mit diesen Fragen leitete ich 2001 einen Artikel in dieser Zeitschrift ein.[1] Die Fragen sind noch immer aktuell: Bedeutet eine globalisierte Welt also eine "Menschheit ohne Erinnerung"? Zusammen mit meinem Kollegen Daniel Levy habe ich schon vor einiger Zeit die These entwickelt, dass es eine kennzeichnende Form kollektiver Erinnerung im Zeitalter der Globalisierung gibt.[2] Im Folgenden werde ich der Frage nachgehen, was diese Annahme mit Blick auf Identität im globalen Zeitalter bedeutet und inwiefern sich daraus Prinzipien für eine neue Politik ableiten lassen.Kosmopolitisierung der Erinnerung
Beginnen wir im "kleinen" europäischen Rahmen. Wer nach der Europäisierung nationaler Erinnerungskulturen fragt, stößt in der einschlägigen Literatur auf einen bemerkenswerten Grundzug. In den entsprechenden Studien wird zumeist davon ausgegangen, dass die Beziehung zwischen Europa und dem Nationalen meist (mehr oder weniger unausgesprochen) auf ein gemeinsames europäisches Gedächtnis und eine entsprechende Identität zuläuft. Im Kern wird also stillschweigend unterstellt, dass sich Europäisierung nach dem Modell der vergrößerten Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert vollzieht – oder eben nicht. Entsprechend wird die Frage der europäischen und der nationalen Identifikationen und Identitäten meistens in sich gegenseitig ausschließenden Kategorien begriffen. Patriotische Europäer sind demnach also keine "Kosmopoliten", sondern entweder national oder europäisch – als ob es sich hierbei um ein dichotomisches Gegensatzpaar handle.[3]Es ist klar, dass der nationale Referenzrahmen nach wie vor dominant und relevant ist. Was jedoch bezeichnend zu sein scheint, und ebenso typisch wie problematisch, dass in diesen Untersuchungsergebnissen das Nationale als getrennt, ja sogar als antithetisch zum Europäischen und Globalen begriffen wird. Diese zumeist unreflektiert vorausgesetzte Entweder-oder-Logik des Nationalen und des Transnationalen kennzeichnet einen Grundzug eines großen Teils der sozialwissenschaftlichen Forschung zu Fragen europäischer Gedächtniskulturen und Identifikationen. Mit anderen Worten: Auch dieser Teil der sozialwissenschaftlichen Forschung und Diskussion vollzieht sich im epistemologischen Gefängnis des "methodologischen Nationalismus", indem davon ausgegangen wird, dass das "Nationale" das Schlüsselprinzip und die Messlatte ist und bleibt für die Untersuchung von sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Prozessen. Diese Gleichsetzung von Gesellschaft und Nation kennzeichnet auch das Konzept der "kollektiven Erinnerung": Offizielle und öffentliche Erinnerungsdiskurse werden demnach sowohl theoretisch als auch empirisch innerhalb des nationalen Containers angesiedelt. Sie stehen danach zum einen im Widerspruch zur Signatur der neuen Uneindeutigkeit, die seit Anfang des 21. Jahrhunderts prägend geworden ist, zum anderen zu den Wirklichkeiten der Europäisierung, verstanden als Erinnerungskulturen, die sich jenseits dieses Rahmens bewegen.[4] Hier geht es nicht um das eigentlich Geschehene, sondern um die politischen Konsequenzen des möglichen Geschehenen.
Damit öffnet sich ein neuer Raum, ja, vielleicht handelt es sich sogar um einen Meta-Wandel nationaler Erinnerungslandschaften inner- und außerhalb Europas. Um das sozialwissenschaftlich untersuchen zu können, bedarf es eines methodologischen und theoretischen Perspektivwechsels. Wie in der wachsenden Literatur zu einem sozialwissenschaftlich erneuerten Kosmopolitismus argumentiert wird, ist es dafür notwendig, ein analytisches Verständnis von "moderner Gesellschaft" zu entwickeln. Hierfür gilt es, die Ontologie des Nationalen abzustreifen und den erkenntnistheoretischen Horizont zu öffnen. Dabei will ich hier gar nicht die kontinuierliche Relevanz nationaler Orientierungen oder Erinnerungen infrage stellen. Vielmehr liegt die Bedeutung länderspezifischer Erfahrungen nicht darin, warum und wie das Nationale dominant bleibt, sondern darin, wie europäische Referenzen und Identifikationen in das politisch-kulturelle Skript der Nationen inkorporiert werden und so das Nationale transformiert wird. Entscheidend ist, das Europäische und das Nationale nicht als sich ausschließende Dichotome vorauszusetzen, sondern als sich wechselseitig ergänzende und verändernde Momente zu begreifen: Europäische Identifikationsmerkmale werden zum integralen Teil nationaler Diskurse und problematisieren und reformulieren auf diese Weise die Sinngehalte des Nationalen.
Diese Kosmopolitisierung der nationalen europäischen Identitätslandschaften wird unter anderem durch das, was man den weltkulturellen Gedächtnisimperativ nennen könnte, vorangetrieben. Dieser findet seinen Ausdruck in einem spezifischen Satz von politischen und normativen Erwartungen, die dazu auffordern, sich mit den dramatischen Ungerechtigkeiten und Verletzungen der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das europäische Phänomen des "Nie wieder!", das aus den moralischen Belastungen des Zweiten Weltkriegs hervorgeht, wird somit zur politischen Herausforderung.[5]
Erinnerungen als Dämonen
Aber dort beginnt es. Die Erinnerungen an den Holocaust haben sich verallgemeinert und verwandelt in einen universalen Code, was gleichbedeutend ist mit einem Imperativ, vergangenes Unrecht – sowohl legal als auch in Formen und Normen des Erinnerns – immer aufs Neue ins Gedächtnis zu rufen und wachzuhalten. Während dieser Gedächtnisimperativ aus der Zentralität der Holocausterinnerungen in den 1990er Jahren hervorging, ist dieser nun ein dekontextualisierter Code geworden für Menschenrechtsverletzungen im Allgemeinen. Die Folge ist: Europäische Nationalstaaten engagieren sich (oder wenigstens sehen sie sich mit dieser Erwartung konfrontiert) in der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte – und zwar in der skeptischen Auseinandersetzung mit dieser. Aus dem "Nie wieder" bildet sich eine eigene Ethik heraus. Während traditionelle Gedächtnisnarrative geschichtliche Ereignisse im Lichte eines nationalen Gründungsmythos beleuchten und organisieren, decken derartige skeptische Geschichtsnarrative auch Ereignisse auf, die in der Vergangenheit begangene eigene Untaten ins Zentrum rücken.Erinnerungen werden so gleichsam zu Dämonen, zu Zwischenwesen, die sich in einem Bereich zwischen Geschichte und Gegenwart, Zeit und Raum, dem Unwirklichen und Wirklichen bewegen. Sie sind wie Geister, die zwischen Leben und Tod wandeln. Shakespeare drückte es so aus: "Die Zeit ist aus den Fugen" – so erschrickt sich Prinz Hamlet, als er mit dem Geist seines Vaters konfrontiert wird.[6] Diese Dämonen können auch "unbestimmt" handeln, unerwartet auftauchen und somit letztlich Politik beeinflussen.[7] In der Erinnerung können mehrere Geschichten und damit auch Universalismus und Partikularismus, das Allgemeine und das Besondere gleichzeitig existieren.
Die konkreten und abstrakten Geister, die durch die Erinnerung hervorgerufen werden, sind weder menschlich noch heilig und verwahren sich jeglicher Form von Abschluss oder Festlegung. Sie sind ständig im Fluss, werden permanent verhandelt, verändert und verändern ihrerseits – zum Beispiel die Politik, die Teil der Verhandlung und Unterhaltung ist. Sie bewohnen einen Raum, den man thirdspace nennen kann, wo Raum, Kultur und Geschichte miteinander verschmelzen.[8] Es handelt sich hier also nicht um am Ort gebundene Geschichte, sondern um die ständige Ambivalenz von Ort und Zeit. Die alltäglichen Erfahrungen und die unendliche Geschichte laufen hier zusammen. Aber auch diese Geister müssen sich einer rituellen Ordnung unterwerfen (durch Museen, Denkmäler, politische Debatten, Gerichtsverhandlungen, Abhandlungen wie diese). So entsteht eine Stimmenpluralität, die integraler Bestandteil der Erinnerungspolitik ist. Diese Stimmen machen uns ständig Angebote, die miteinander verbinden und gegenseitig trennen, die national und transnational sein können, sowohl als Teil der Hoch- als auch der populären Kultur.