Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Iraks Zerfall und der Aufstieg des IS | Syrien, Irak und Region | bpb.de

Syrien, Irak und Region Editorial Saudi-Arabien und Iran: Entspannung unwahrscheinlich? - Interview Was in Syrien geschieht Internationale Sanktionen gegen Syrien: Was haben sie bewirkt? Iraks Zerfall und der Aufstieg des IS. Zwei Seiten einer Medaille Die Kurdenfrage in der Türkei und der Krieg in Syrien Der Nahe Osten 2025: Drei Zukunftsszenarien 360 Grad Damaskus: Zur Lage der Flüchtlinge in der Region Karte: Syrien und Irak

Iraks Zerfall und der Aufstieg des IS Zwei Seiten einer Medaille

Wilfried Buchta

/ 20 Minuten zu lesen

2003 öffneten die USA im Irak eine Büchse der Pandora. Machtvakua führten zum Aufstieg des IS und zum Ausbruch des Konfessionshaders zwischen Schiiten und Sunniten. Das Ergebnis: eine Demokratiefassade und die Überreste eines Staates.

Am 9. Juni 2014 eroberte die dschihadistische Terrormiliz "Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien" (ISIS) unter ihrem Führer Abu Bakr al-Baghdadi die nordirakische Zweimillionenstadt Mossul. Dieser Tag wird als Zäsur in die Geschichte des Nahen Ostens eingehen. Baghdadi löste damit nicht nur einen erneuten schiitisch-sunnitischen Bürgerkrieg aus, sondern er setzte damit auch ein Fanal. Denn durch den Fall Mossuls, der Hauptstadt der fast rein sunnitischen Provinz Ninawa, war der Zerfall des Irak, der 2003 mit der US-Invasion bereits begonnen und sich seither schleichend fortgesetzt hatte, irreversibel geworden. Am 30. Juni 2014 rief der Führer des ISIS, der sich inzwischen in "Islamischer Staat" (IS) umbenannt hatte, in Mossul ein transnationales Kalifat aus. Sich selbst ernannte er als "Kalif Ibrahim" zu dessen Herrscher. Durch die Ausdehnung des Herrschaftsanspruchs dieses IS-Kalifats auf den gesamten Nahen Osten wurden die bis dahin getrennten Bürgerkriege in Syrien und im Irak zum Operationsgebiet des IS.

Der IS besiegelte so den Zerfall des Irak in drei konfessionell und ethnisch deutlich geschiedene Teilstaaten. Wollte man sie griffig benennen, könnte man sie als "Schiastan", Irakisch-Kurdistan und "Sunnitistan" charakterisieren.

"Schiastan" ist der von einer schiitisch dominierten Regierung kontrollierte Rumpfstaat Irak mit der Hauptstadt Bagdad und den zehn fast rein schiitischen Provinzen des Zentral- und Südirak. Dort lagern die größten der reichen Erdöl- und Erdgasreserven des Landes, die 90 Prozent der Staatseinnahmen einbringen.

Irakisch-Kurdistan mit der Hauptstadt Erbil besteht aus den drei Provinzen Erbil, Sulaimaniya und Dahuk. Es ist das Territorium des Kurdistan Regional Government (KRG), der autonomen Kurdenregion. Offizielle Anerkennung fand die KRG bereits im Herbst 2005, als die aus ersten freien demokratischen Wahlen hervorgegangene irakische Regierung eine Verfassungskommission ins Leben rief, die eine föderale demokratische Verfassung erarbeitete. Mit dieser Verfassung billigte der irakische Zentralstaat den Kurden im Nordirak erstmals eine echte eigene Autonomie zu. Ab 1991 waren – dank der von den USA nach dem Kuwaitkrieg zum Schutz der Kurden verhängten Flugverbotszone im Nordirak – Strukturen entstanden, die unabhängig von Bagdad funktionierten. Seither gründeten die Kurden ein eigenes Parlament, eine eigene Regionsregierung und Peshmerga-Sicherheitskräfte. Mit anderen Worten: Die Kurden hatten bereits lange vor der US-Invasion 2003 solide Fundamente für einen kurdischen Quasi-Staat gelegt.

Das IS-Kalifat von "Sunnitistan" brachte bis Mitte 2015 mehr als ein Drittel des irakischen Territoriums unter seine Kontrolle, insbesondere in den sunnitischen Provinzen Anbar, Ninawa und Salahuddin. Hinzu kommen weite Gebiete im Osten und in Syrien das Territorium rund um die Provinzmetropole Raqqa. Überall unterwarf der IS die Einwohner der von ihm eroberten Gebiete einer rigiden Schariaordnung. Mitte 2015 umfasste der IS-Staat ein Gebiet, das etwa halb so groß war wie Deutschland und etwa acht bis zehn Millionen Einwohner hatte. Gestützt auf eine Armee von 30.000 Dschihadisten aus dem Irak und Syrien sowie aus der übrigen arabischen Welt, aus Europa, Russland und Asien baute der IS ein relativ effizient funktionierendes Staatswesen auf, das seinen Untertanen Daseinsvorsorge und eine halbwegs funktionierende Infrastruktur gewährleistete. Zugute kamen dem IS dabei fähige Militär-, Sicherheits- und Verwaltungsfachleute der früheren Staatselite des untergegangenen Baath-Regimes, die sich auf die Seite des IS geschlagen hatten. Wirtschaftlich fußt das IS-Kalifat auf einer auf permanente Expansion gerichteten "Beuteökonomie". Deren wichtigste Einnahmequellen sind neben Ölverkäufen aus den eroberten Ölquellen sowie Steuer- und Schutzgelderhebungen von seinen Untertanen auch der Antiquitätenschmuggel und Lösegelderpressungen.

Der Irak ist heute ein gescheiterter Staat, also ein Staat ohne hinreichende staatliche Autorität. Er kann seinen auseinanderstrebenden Volksgruppen keine gemeinsame nationale Identität mehr vermitteln. Zudem kann er einem großen Teil seiner Bevölkerung weder rudimentäre Daseinsvorsorge sichern noch Ordnung und Recht aufrechterhalten. Als sich die Strukturen des Irak nach der US-Invasion 2003 auflösten, bildeten sich Machtvakua. Das wiederum bot radikalen religiösen Gruppen wie dem Islamischen Staat einen idealen Nährboden. Für das Verständnis des Entstehens und der Expansion des IS ist ein kurzer Blick auf die Geschichte des Irak erforderlich.

Der moderne Irak bis 2003

Der Irak entstand 1918 nach Ende des Ersten Weltkrieges aus der territorialen Konkursmasse des Osmanischen Vielvölkerreiches. Nach der Niederlage der Osmanen wurden seine arabischen Provinzen in der Levante und in Mesopotamien von den Siegermächten Frankreich und Großbritannien als Mandatsmächte verwaltet. Die Grenzen des heutigen Irak entstanden 1916, als Paris und London im geheimen Sykes-Picot-Abkommen ihre territorialen Interessensphären festlegten. Im Verlaufe des Krieges eroberte Großbritannien sodann die drei osmanischen Großprovinzen Basra, Bagdad und Mossul, Provinzen, die die Briten unter dem Namen Irak zusammenfassten und deren Verwaltung der Völkerbund 1920 London als Mandatsgebiet Irak übertrug.

1921 installierten die Briten schließlich eine unter ihrem Mandat stehende parlamentarische Monarchie im Land, mit dem arabischen Hashimitenkönig Faisal I. an der Spitze, der sich auf eine kleine sunnitisch-arabische Militär- und Verwaltungselite stützte. Der Irak war von Anbeginn ein künstlicher Nationalstaat. Innerhalb seiner willkürlich gezogenen Grenzen lebten drei ethnisch und konfessionell unterschiedliche und untereinander verfeindete Volksgruppen. Wie bereits in der osmanischen Ära übte eine sunnitisch-arabische Minderheit von etwa 20 Prozent die Macht aus. Demgegenüber waren die Kurden (20 Prozent) und arabischen Schiiten (60 Prozent) politisch unterdrückt und wirtschaftlich benachteiligt.

Die Machtkonflikte zwischen Sunniten und Schiiten bildeten seit der Staatsgründung ebenso eine Konstante wie die immer wieder aufflackernden Rebellionen der nach Unabhängigkeit strebenden Kurden. London behielt durch gesonderte vertragliche Abmachungen weiter den beherrschenden politischen und wirtschaftlichen Einfluss im Land. Erst als sich 1958 nationalistische Militärs an die Macht putschten und die Monarchie stürzten, endete der britische Einfluss. Das folgende Jahrzehnt sah eine Abfolge sunnitischer autoritärer nationalistischer Regierungen, die mit Staatsstreichen an die Macht gelangten. 1968 errang schließlich die panarabische, säkulare und sozialistische Baath-Partei die Macht, die sie bis 2003 behauptete. Alsbald beseitigte sie alle kommunistischen, nationalistischen und religiös orientierten Machtkonkurrenten und verstaatlichte 1972 die irakische Ölindustrie. Dank der Öleinnahmen, die seit den 1970er Jahren immer reichlicher flossen, sowie der harten innenpolitischen Repression konnte die Baath-Partei eine säkular-nationalistische Entwicklungsdiktatur aufbauen. Sie förderte das Wachstum von Wirtschaft und Wohlstand, die Industrialisierung, die soziale Modernisierung und die "Panarabische Einheit" unter Führung des Irak. Auf den meisten dieser Felder gelangen dem Regime bis 1980 tatsächlich große Fortschritte.

Saddam Husseins Kriegsabenteuer und ihre Folgen

Zunichte gemacht wurde all dies jedoch durch die Kriegsabenteuer von Saddam Hussein. Er riss, nachdem er 1979 seinen politischen Ziehvater, den bisherigen Präsidenten Hassan al-Bakr, aus dem Präsidentenamt verdrängt hatte, die alleinige Macht in Partei und Staat an sich. Ein Jahr später, am 22. September 1980, gab Saddam Hussein der irakischen Armee den Angriffsbefehl zu einem Präventivkrieg gegen Iran, durch dessen neues islamistisches Regime er sich bedroht fühlte und dessen anfängliche Schwäche er nutzen zu können glaubte, um territoriale Ansprüche im Schwemmland des Schatt el Arab geltend zu machen. Doch statt Khomeinis Regime zu Fall zu bringen, festigte der irakische Angriffskrieg die Herrschaft der Mullahs, indem er unter den Iranern eine Welle patriotischer Kampfbereitschaft auslöste. Infolgedessen zog sich der Krieg bis 1988 hin und endete in einem militärischen Patt. Nach acht Jahren Abnutzungskrieg gab es keine Sieger, nur Besiegte. Saddam Hussein deutete das Patt propagandistisch dennoch als militärischen Sieg, kündigte den raschen Wiederaufbau seines Landes an und bedrohte mit aggressiver Expansionsrhetorik seine arabischen Nachbarn. Im August 1990 besetzte Saddam Hussein das benachbarte Öl-Emirat Kuwait. Doch wie schon 1980 verkalkulierte er sich auch 1990. Die USA, die den Irak im Krieg gegen das iranische Revolutionsregime massiv unterstützt hatten, wandten sich nun gegen Saddam Hussein. Am 17. Januar 1991 brach "Desert Storm" los, die größte militärische Aktion seit dem Zweiten Weltkrieg. Eine von den USA geführte internationale Streitmacht eroberte Kuwait zurück.

Mit den Angriffskriegen gegen den Iran (1980 bis 1988) und gegen Kuwait (1991) hatte Saddam Hussein den Irak wirtschaftlich ruiniert und sich selbst zum international isolierten Paria gemacht. Schlimmer noch: Das harte wirtschaftliche Sanktionsregime und die militärtechnischen Kontrollmaßnahmen, die die Vereinten Nationen 1991 verhängten, um den Irak durch Zerstörung seiner Depots an Massenvernichtungswaffen militärisch so zu schwächen, dass er die regionalen Nachbarstaaten nicht mehr würde bedrohen können, bewirkten im Lande Massenarmut und Verelendung breiter Bevölkerungsschichten, nicht aber der Regimeelite.

Das führte von 1991 bis 2003 zu einer massiven Erosion der staatlichen Fundamente des Irak. Die Sanktionen und die außenpolitische Isolation des Regimes führten zum Verlust wichtiger finanzieller und legitimatorischer Quellen seiner Macht. Die Baath-Partei, deren panarabisch-nationalistische Ideologie nach zwei verlorenen Kriegen im Lande diskreditiert war, erlitt einen starken Einflussverlust. Das spürte auch Saddam Hussein, der ab 1991 innenpolitisch geschwächt war. Zum Machterhalt forcierte er daher eine Politik des divide et impera. Zugleich betrieb er eine Hinwendung zum Islam, um seine angeschlagene Legitimität zurückzugewinnen. Denn angesichts von Not und Elend und des Versagens des Staates und seiner säkularen Ideologie suchten Millionen Iraker nun Halt, Hoffnung und Schutz im Islam, also derjenigen religiös-kulturellen Kraft, deren Einfluss Saddam Hussein bis dahin mit Erfolg eingedämmt hatte.

Er finanzierte den Bau zahlreicher Moscheen und islamischer Lehrstätten im ganzen Lande, und er und die übrigen säkularen Regimekader zelebrierten in öffentlichen Ritualen islamische Frömmigkeit, um ihren Glauben zu unterstreichen. Dadurch suchte das Regime die steigende Flut der Re-Islamisierung, die ihr gefährlich hätte werden können, zu kanalisieren und zu kontrollieren.

Die Irakpolitik der USA: Vom Containment zum Regime Change

Die US-amerikanische Politik gegenüber dem Irak nach dem Kuwaitkrieg lässt sich in zwei Phasen einteilen. Die erste Phase von 1991 bis 2001 zielte auf Eindämmung und Schwächung des Regimes durch Sanktionen, umfasste aber keinen militärisch herbeigeführten Regimewechsel. Sowohl George H.W. Bush als auch Bill Clinton hielten an dieser Strategie fest. Die zweite Phase begann im ersten Jahr der neuen Administration von George W. Bush. Sie wurde nach dem 9. September 2001 eingeleitet. Die Neokonservativen in Bushs Administration und ihnen nahestehende Spitzenpolitiker wie US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Vize-Präsident Richard Cheney überzeugten Präsident Bush davon, dass Saddam Husseins Irak mit dem dschihadistischen Al-Qaida-Netzwerk Bin Ladens in Verbindung stünde und der Irak noch Reste an Massenvernichtungswaffen besäße. Beide bedrohten die Sicherheit der USA und den Weltfrieden, weswegen die USA militärisch einen Regimewechsel herbeiführen müssten. Bush beauftragte Rumsfeld mit der Vorbereitung des Krieges. 2002 gewannen die USA auch die wichtigsten irakischen Oppositionsparteien (Schiiten, Kurden und Säkulare) als Verbündete.

Die Planung der US-Invasion stand jedoch von Anfang an unter einem ungünstigen Stern. Grund war der unüberbrückbare Dissens zwischen den Realpolitikern im Außenministerium unter Colin Powell und den neokonservativen Großmachtnationalisten im Pentagon unter Rumsfeld und Cheney. Powell bezweifelte, dass die USA nach dem Sturz Saddam Husseins in der Lage seien, ein Abgleiten des Irak in das Chaos und den religiösen Bürgerkrieg zu verhindern und eine stabile demokratische Ordnung zu errichten. Der Dissens in der Bush-Administration führte zu inkonsistenten und fehlerhaften Konzepten für die Nachkriegsphase. Das hatte katastrophale Folgen, insbesondere nachdem Bush dem Pentagon im Januar 2003 die alleinige militärische und zivile Planung für den Nachkriegsirak übertragen hatte. Triebfeder des Wunsches von Rumsfeld, Cheney und der Neokonservativen nach einem Regimewechsel im Irak war eine utopische Vision: Die USA sollten die Verantwortung für die Neugestaltung nicht nur des Irak, sondern des gesamten Nahen Ostens übernehmen. Der Irak, so propagierten sie, würde als erfolgreiches Demokratiemuster eine Strahlkraft entfalten, die schrittweise alle Länder der Region zu demokratischen, prowestlichen Systemen und verlässlichen Verbündeten der USA und Israels machen würde.

Das Konzept krankte an mangelndem Realitätssinn und eklatanter Unkenntnis der tatsächlichen Umstände und der politischen und religiösen Bestimmungsfaktoren im Irak. Dieses Unwissen verleitete Rumsfeld und die Neokonservativen dazu, als Regierungsalternative zu Saddam Hussein allein auf ein winzig kleines Segment innerhalb der irakischen Opposition zu setzen. Wunschpartner der Neokonservativen um Cheney und Rumsfeld war der prowestliche national-säkulare Iraqi National Congress (INC) von Ahmad Chalabi. Die Crux: Chalabi und sein INC hatten so gut wie keinen Einfluss im Irak. Bestärkt durch einseitige Informationen Chalabis gingen die US-Kriegsplaner in einem unrealistischen und optimistischen Best-case- Szenario von folgenden drei Grundannahmen aus:

  • Erstens käme es dank US-Militärüberlegenheit zum raschen Sieg über das Regime Saddam Husseins;

  • zweitens würden die US-Besatzer von den meisten Irakern als Befreier begrüßt werden;

  • drittens könnte die primär vom INC vertretene Opposition eine effiziente demokratische Übergangsregierung bilden, die den US-Truppenrückzug nach drei Monaten ermöglichen würde.

Am 20. März 2003 begann die US-Invasion und war nach drei Wochen mit der Eroberung Bagdads beendet. Als am 8. April Saddam Hussein und die verbliebene Machtelite in den Untergrund abtauchten, war die Baath-Diktatur am Ende. Allerdings: Die Mehrheit der Iraker verhielt sich gegenüber den Befreiern neutral und passiv, der erwartete jubelnde Empfang der US-Truppen blieb aus. Nur einen Tag später, am 9. April 2003, tat sich ein Machtvakuum auf, Anarchie brach aus und monatelange Plünderungen begannen. Doch standen die US-Truppen diesen Entwicklungen nicht nur unvorbereitet, sondern auch rat- und tatlos gegenüber. Dieses Versagen war vorhersehbar gewesen. Hatten die USA beim Kriegsplan doch 98 Prozent ihrer Ressourcen für die Aufmarsch- und Kampfphase verwendet. Der Krieg wurde vom Pentagon als Hightech-Blitzkrieg mit viel zu geringer Truppenstärke von nur 145.000 Mann geplant. Als Vergleich dazu: Für die Rückeroberung Kuwaits, das 20 Mal kleiner ist als der Irak, führten die USA 500.000 Soldaten ins Feld. Die Folge: Es gab kaum Reservekampftruppen geschweige denn Militärpolizisten. Kurzum: Das Pentagon hatte die Kriegsnachfolgephase mit Besetzung und Stabilisierung sträflich vernachlässigt.

Schlimmer noch: Der unter dem Schutz der US-Truppen heimgekehrte INC unter Chalabi konnte mangels Professionalität und ausbleibender Unterstützung im Volk auch keine demokratische Übergangsregierung bilden. Im Ergebnis standen die USA nach ihrem Pyrrhussieg vor einem Scherbenhaufen. Das Fehlen eines konsistenten und realistischen Plans für die Nachkriegsphase rächte sich bitter. Zu böser Letzt erbrachte die Suche nach Saddam Husseins angeblichen Massenvernichtungswaffen und Belegen für seine angeblichen Al-Qaida-Kontakte keinen Erfolg. Sehr bald zeigte sich: Die Kriegsgründe waren vorgetäuscht, die US-Administration hatte gelogen.

Nation Building gescheitert

Innenpolitisch unter gewaltigem Druck begründete Präsident Bush die US-Okkupation ab Mai 2003 neu. Das Stichwort hieß nun: Aufbau einer Demokratie. In der Folge setzten die USA widerwillig und entgegen ihrer vorherigen Absicht auf ihre direkte Herrschaft und nation building. Bush beauftragte den pensionierten Diplomaten Paul Bremer, den Irak als US-Prokonsul direkt zu regieren. Bremer, ein von radikalem Reformimpetus angetriebener Neokonservativer, galt als willensstarker, durchsetzungsfähiger Macher. Bremer übernahm am 12. Mai 2003 die Macht als Chef der US-Zivilverwaltung (CPA) und errichtete eine 14-monatige "wohlmeinende" Besatzungsdiktatur. Doch innerhalb weniger Wochen lähmte oder zerstörte Bremer auf diese Weise alle noch halbwegs funktionierenden Institutionen des alten Regimes. Drei Kardinalfehler Bremers prägen den Irak bis heute:

Bremers Dekret vom 16. Mai 2003 zur Auflösung der Baath-Partei setzte eine "Entbaathifizierung" in Gang, die viel zu tief griff und katastrophale Folgen hatte. Sunniten, die in den höheren Parteirängen überproportional vertreten waren und den Löwenanteil der Verwaltungselite stellten, wurden zu Hauptopfern. Damit bewirkte Bremer nicht nur den Zusammenbruch großer Teile der Staatsverwaltung, sondern er machte Teile der ehemaligen sunnitischen Staatselite auch zu eingeschworenen Feinden der USA.

Zerstörerischer noch war Bremers kurz darauf erlassenes Dekret zur Auflösung der Streitkräfte und Sicherheitsapparate mit einer Stärke von insgesamt 750.000 Mann. Da die Armee und die anderen Sicherheitskräfte ein überwiegend sunnitisches Offizierskorps hatten, fühlten sich weitere Mitglieder der sunnitischen Machtelite durch die US-Zivilverwaltung gedemütigt und zu Opfern gemacht. So schuf Bremer ein gewaltiges Reservoir zorniger, arbeitsloser sunnitischer Militärs und Geheimdienstler, von denen Abertausende sich dem Aufstand gegen die neue Ordnung anschlossen.

Bremer billigte schließlich im Juli 2003 den Aufbau eines aus Exilpolitikern zusammengesetzten Beratergremiums, des "Irakischen Regierungsrates" (IGC) auf der Basis eines von ihm akzeptierten ethno-konfessionellen Proporzes (Arabisch: muhassasa). Im IGC setzten sich ab 2004 die islamistischen Schiitenparteien und nationalistische Kurdenparteien auf Kosten der Sunniten und National-Säkularen durch. Das benachteiligte sie vor allem, als ab 2005 die ersten aus freien Wahlen hervorgegangenen Regierungen entstanden. Denn der muhassa-Proporz wurde zum Machtverteilungsschlüssel in Staat, Regierung und Verwaltung. Seither wuchern dort Kleptokratie, Nepotismus und Korruption. Für die Postenvergabe an die Kandidaten gilt eine eiserne ungeschriebene Regel: Die ethnisch-konfessionelle Zugehörigkeit bedeutet alles, die Qualifikation nichts.

Der Juli 2003 markierte den Beginn des bewaffneten Aufstands. Fortan kämpften die US-Besatzer gegen eine Vielzahl sunnitischer, zumeist salafistischer und dschihadistischer Gruppen, aber auch gegen militante Schiitenmilizen. Die schlagkräftigste Rebellengruppe war die sunnitisch-dschihadistische Al-Qaida in Iraq (AQI), die weitgehend autonome irakische Regionalfiliale von Bin Ladens Al-Qaida. AQI, der Vorläufer des heutigen IS, hatte sich seit 2003 im Lande eingenistet und war vor allem durch verheerende Anschläge auf Schiiten bekanntgeworden.

Bremer konzipierte einen auf zwei Jahre angelegten Demokratisierungsprozess mit verschiedenen Kontrollen und Zwischenschritten bis hin zu ersten freien Wahlen. Doch stieß er damit auf zwei Widerstände. Der eine kam von Großayatollah Hussain Ali Sistani, dem im Theologenzentrum von Najaf residierenden religiösen Oberhaupt der irakischen Schiiten, der unnachgiebig so rasch wie möglich Wahlen forderte. Der zweite Widerstand kam von Präsident Bush, dessen innenpolitische Wahlkampfagenda für seine Wiederwahl im November 2004 schnelle Erfolge im Irak erforderte.

Im November 2003 lenkte Bremer ein. Widerwillig akzeptierte er einen Zeitplan für den überhasteten Aufbau demokratischer Institutionen und einen umgehenden Souveränitätstransfer. Bremer übergab im Juni 2004 die Macht an eine Interimsregierung unter Iyad Allawi und verließ das Land. Die säkular-nationalistische Interimsregierung Allawis blieb im Volk aber ohne Popularität und ohne organisatorischen Rückhalt. Das minderte ihre Chancen in den für den 30. Januar 2005 angesetzten ersten demokratischen Parlamentswahlen erheblich. Die zuvor noch zerstrittenen Schiitenparteien vermochten hingegen, gedrängt von Großayatollah Sistani, der im Hintergrund als einflussreicher Schlichter tätig war, Einigkeit zu wahren und eine gemeinsame Koalition zu bilden. Und so gewann die Schiitenkoalition die Hälfte der Stimmen und die aus den zwei mächtigsten Kurdenparteien bestehende Kurdenkoalition ein Viertel. Verlierer waren die National-Säkularen und die Sunniten. Letztere hatten die Wahlen fast alle boykottiert. Im Mai 2005 schlossen die vereinigten Schiiten und die Kurden ein Bündnis und bildeten eine schiitisch dominierte Regierung. Mit Premierminister Ibrahim al-Jaafari erlangte die Bevölkerungsmehrheit der Schiiten zum ersten Mal die Regierungsmacht im Irak. Gedrängt von den USA erarbeitete die neue Regierung im August 2005 eine neue Verfassung, die den Irak zu einer föderalen parlamentarischen Demokratie machte und die im Oktober 2005 per Referendum angenommen wurde. Schiitisch dominierte Regierungen wurden fortan zu einer Konstante. Denn Schiitenkoalitionen waren in allen Parlamentswahlen, sei es im Dezember 2005, im März 2010 oder im April 2014, letztlich immer die Sieger. Und so konnten Schiiten im Bündnis mit den Kurden und einer kleinen Anzahl opportunistischer sunnitischer Politiker ohne großen Rückhalt unter Iraks Sunniten das Land regieren.

Al-Qaida in Iraq setzte am 22. Februar 2006 ein blutiges Fanal. Ihr Anschlag auf das bedeutende schiitische Grabheiligtum von Samara entfesselte einen konfessionellen Bürgerkrieg zwischen schiitischen und sunnitischen Milizen, der knapp zwei Jahre dauerte und mehr als 100.000 Tote forderte. Machtlos gegenüber dem Chaos war sowohl die neue Regierung unter dem Schiiten Nuri al-Maliki, der Jaafari im Mai 2006 als Ministerpräsident ersetzt hatte, als auch die US-Besatzungsarmee. Da das Land zu zerfallen drohte, sah sich Präsident Bush zu einer Truppenaufstockung und einem erneuten Strategiewechsel gezwungen. 30.000 zusätzliche US-Soldaten wurden ab 2007 in den Kampf geschickt. Die US-Truppen konnten schließlich dank der Zusammenarbeit mit angeworbenen, von AQI abgefallenen sunnitischen Milizen, den sogenannten Erweckungsräten, bis Ende 2008 die schiitischen und sunnitischen Milizen zurückdrängen oder besiegen.

Malikis Ausgrenzung der Sunniten

Maliki nutzte 2008 die Atempause, um seine Regierung zu stabilisieren und sich als "nationaler Führer" zu etablieren. Ein gestärkter Maliki erzwang im August 2008 von den USA ein Abkommen über den Abzug der US-Truppen bis Dezember 2011. Ende 2010 konnte Maliki nach Monaten eines zermürbenden parlamentarischen Patts als Ergebnis der Wahlen von März 2010 schließlich seine zweite Regierung bilden. Als im Dezember 2011 die letzten US-Truppen abzogen, musste Maliki keine ihn kontrollierende amerikanische Kraft mehr fürchten. Bereits in den Jahren zuvor gab sich der machtbewusste Maliki immer autoritärer. Damit nicht genug hatte er sich durch legale Tricks und illegale Machenschaften eine stetig wachsende Machtfülle auf Kosten von Ministerien oder anderer Staatsinstitutionen verschafft. So unterwarf er schrittweise nicht nur die Geheimdienste des Landes seiner Kontrolle, sondern auch die Justiz, die Zentralbank, die Antikorruptionsbehörde, die Wahlaufsichtskommission und den Generalstab der Armee.

Derart gestärkt forcierte Maliki ab 2012 die Ausgrenzung und Entmachtung der Sunniten in Staat, Armee und Verwaltung. Binnen eines Jahres hatte er alle mächtigen sunnitischen Politiker in Staat und Regierung, die er als Bedrohung ansah, angeklagt oder ins Exil getrieben. Furcht davor, dass Maliki zu einem Diktator wie Saddam Hussein werden würde, veranlasste die sunnitisch dominierten Provinzregierungen in Salahuddin und Anbar, die Schaffung einer Autonomieregion nach dem Muster Kurdistans anzustreben. Doch Maliki vereitelte diese Autonomiebestrebung 2012 und 2013 durch verfassungsjuristische Tricks, assistiert von einer willfährigen Justiz. Als er 2013 auch friedliche Proteste von Sunniten in diesen Provinzen mit Polizeigewalt unterdrücken ließ, machte er die große Mehrheit der Sunniten endgültig zum Feind der schiitisch dominierten Regierung in Bagdad.

Malikis Entmachtung der Sunniten rächte sich bitter, da sie viele von ihnen dem IS in die Arme trieb. Und das spätestens, als der IS in einer Blitzoffensive im Juni 2014 zur Eroberung Mossuls ansetzte, eine Eroberung, die letztlich nur deshalb gelang, weil, wie Augenzeugen später berichteten, große Teile der Bevölkerung der Stadt mit den Angreifern sympathisierten. Nur so erklärt sich der Sieg von 1.500 IS-Kämpfern über mehr als 50.000 in Mossul stationierte Armeesoldaten. Als diese in heilloser Flucht das Weite suchten, überließen sie dem IS kampflos modernste Waffen aus US-Rüstungsbeständen im Wert von 1,4 Milliarden US-Dollar. Dem Ansturm des IS ausgesetzt, gab Bagdads Armee wenige Wochen später auch ihre Stellungen in und um die Stadt Kirkuk und in den anderen zwischen der Kurdenregion und Bagdad umstrittenen ölreichen Territorien fluchtartig auf. Doch bevor der IS letztere erobern konnte, besetzten die kurdischen Peshmerga diese Gebiete und halten sie bis heute. Der seit 2005 mit Bagdad schwelende Streit um diese Territorien mit einer Bevölkerung aus Kurden, sunnitischen und schiitischen Arabern, Turkmenen und anderen Minderheiten war nun zugunsten der KRG beendet. Das stärkte ihre Position, die nun ihrer de facto Unabhängigkeit so nahe war wie nie zuvor. In anderen Teilen des Nordirak außerhalb der KRG wütete der IS gegen Jesiden, Christen und Mitglieder anderer religiöser Minderheiten wie die kurdisch-schiitischen Shabaka. Tausende von ihnen starben in Massakern, Hunderttausende wurden enteignet und vertrieben; die meisten flohen in den Südirak oder in die KRG.

Den IS-Vormarsch nach Süden wehrte Ende Juni 2014 nicht die reguläre Armee ab, sondern schiitische Milizen vor den Toren Bagdads. Einen Monat zuvor waren 100.000 Freiwillige Großayatollah Sistanis Aufruf zu den Waffen gefolgt. Hingegen erwies sich die 200.000 Mann starke reguläre Armee während und nach dem Mossul-Debakel als weitgehend kampfunfähig und dysfunktional. Die bis 2003 multi-konfessionelle Armee hatte sich unter Maliki in eine fast rein schiitische Armee verwandelt, in deren Offizierskorps überwiegend Malikis Vertraute saßen. Dass seither in der Armee Günstlingswirtschaft und Korruption blühen, ist ein herber Rückschlag für die USA, die seit 2004 den Wiederaufbau der Armee mit Beratern und dem Einsatz von 41 Milliarden US-Dollar unterstützt hatten.

Seither führen schiitische Milizen und von Teheran zur Unterstützung entsandte iranische Militärberater den Kampf gegen den IS. Damit nicht genug sprang Iran den bedrängten schiitischen Glaubensbrüdern im Irak ab Juli 2014 auch mit der Lieferung von Waffen und Munition sowie mit dem Einsatz von Kampfbombern gegen IS Stellungen bei.

Das Fiasko von Mossul wurde vor allem dem Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki angelastet. Sein Rückhalt in der schiitischen Regierungskoalition wie auch bei den mit ihr verbündeten Kurden in der Regierung bröckelte, und er sah sich harter Kritik von US-Präsident Obama ausgesetzt. Dem Druck von innen und außen erlegen, musste Maliki sein Amt schließlich im August 2014 an Haidar al-Abadi abtreten, einen bis dahin eher unbekannten schiitischen Hinterbänkler. Aus Verbundenheit mit Maliki überließ al-Abadi ihm das Amt des Vizepräsidenten. Ein fataler Fehler. Denn das ermöglichte Maliki die Aufrechterhaltung seines Schattenstaates, den er seit 2006 mit Hilfe hunderter Vertrauter, der sogenannten Malikisten, und mittels Einschüchterung und Korruption in Staat, Regierung und Verwaltung aufgebaut hatte. In Windeseile baute Maliki das Vizepräsidentenamt zu einem neuen Bollwerk seiner Macht aus. Von dort aus hintertreibt er seither systematisch alles, was al-Abadi unternimmt, um Staat und Gesellschaft zu reformieren oder die Sunniten mit Bagdad zu versöhnen.

Ausblick

Die Situation im Irak gibt wenig Anlass zu Optimismus. Die ehemalige Besatzungsmacht USA hat unter der Obama-Administration jede Absicht aufgegeben, durch Entsendung von Bodentruppen als Ordnungsmacht Frieden und Stabilität herzustellen. Diese Haltung dürfte Obamas Lehre aus dem Irak-Desaster sein. Dazu einige Zahlen:

Seit 2003 hatten 1,5 Millionen US-Soldaten im Irak gekämpft, 4448 von ihnen starben, 30.000 wurden teils schwer verletzt und weitere 30.000 sind Opfer schwerer posttraumatischer Erkrankungen geworden. Laut offiziellen Angaben des US-Congress Research Service bezahlten die USA bis 2012 rund 880 Milliarden US-Dollar für ihr Irakengagement. Nach anderen Studien hingegen werden sich die Kosten des Irakkrieges bis 2050 durch die medizinischen Kosten für die Behandlungen der im Krieg versehrten Soldaten auf 1.500 Milliarden US-Dollar summieren. Die humanitären und materiellen Kosten des Krieges für den Irak sind dagegen gar nicht abschätzbar. Laut "Iraqi Body Count" waren von März 2003 bis Dezember 2011 rund 138.000 Iraker ums Leben gekommen, der Großteil zwischen 2005 und 2008. Über 4,5 Millionen Iraker waren geflüchtet, entweder innerhalb des eigenen Landes oder ins Ausland.

Bisher beschränken sich die USA im Irak bei der Bekämpfung des IS auf Entsendung von Militärberatern und Luftschläge. Letztere haben aber nur eine begrenzte Wirkung. Zum Sieg über den IS wären Bodentruppen unabdingbar, auf deren Entsendung die USA aus gutem Grund verzichten. Alle schiitischen Milizen im Irak erklärten öffentlich, sie würden zurückkehrende westliche Truppen als Besatzer militärisch bekämpfen. Ein Zweifrontenkrieg wäre die Folge.

Seit dem US-Truppenabzug 2011 haben die USA ihren politischen Einfluss im Irak weitgehend verloren. Gewinner ist der Iran, der von 1980 bis 2003 fast allen Mitgliedern der schiitisch-irakischen Oppositionsparteien Exil bot und der heute, nachdem diese Sitz und Stimme in Iraks Regierung und Parlament haben, auf ihre Loyalität und Dankbarkeit bauen kann. Tatsache ist: Die Mehrheit der schiitischen Regierungspolitiker in Bagdad steht unter dem Einfluss des Iran, der den Irak seit Juli 2014 mit Waffenlieferungen und Militärberatern unterstützt. Der Irak 2015 ist zu einem halbunabhängigen Vasallenstaat Irans geworden. Teheran wiederum kann auf Bagdads Loyalität im "Kalten Krieg" mit der sunnitischen Führungsmacht Saudi-Arabien zählen, die mit Iran um die Hegemonie im Nahen Osten ringt, ein Streit, der auch den Irak destabilisiert. Saudi-Arabien hat sich bis heute nicht damit abgefunden, dass Schiiten statt Sunniten in Bagdad herrschen. Und so unterstützt Riad im Irak politisch und finanziell – wohl mit Ausnahme des IS – alle sunnitischen Kräfte, die der politischen Dominanz der Schiiten entgegenarbeiten.

Bislang treten die Bemühungen um einen politischen Ausgleich zwischen Schiiten und Sunniten im Irak auf der Stelle. Das betrifft auch den US-Plan für eine sunnitische Nationalgarde im Westirak. Er gründet auf der Einsicht, dass weder westliche Truppen noch schiitische Milizen oder kurdische Peshmerga den IS im Westen und Norden des Irak besiegen können. Das könnten nur lokale oder regionale sunnitische Bodentruppen, die aber mangels Vertrauens nicht für und mit Schiiten und Kurden kämpfen, sondern nur unter eigenem Kommando in einer sunnitischen Nationalgarde. Deren Aufbau aber scheiterte bislang am Veto der schiitischen-Parteien in Bagdads Regierung, die fürchten, Sunniten könnten die Macht im Staat militärisch wieder erobern.

Seit Ende 2014 haben schiitische Milizen und iranische Militärberater kleinere sunnitische Territorien vom IS zurückerobert. Immer wieder, so die Berichte internationaler Menschenrechtsorganisationen, töteten oder vertrieben sie dabei zahlreiche sunnitische Zivilisten, denen sie Kollaboration mit dem IS vorwarfen. Ministerpräsident Haidar al-Abadi blieb gegenüber diesen Gewaltexzessen bisher machtlos. Das vertiefte die bestehenden Gräben des Misstrauens und Hasses.

Eine politische Lösung im Irak muss auf einer Politik der nationalen Versöhnung zwischen Schiiten und Sunniten aufbauen. Doch mangelnde Bereitschaft der schiitischen-Spitzenpolitiker, die Macht mit den Sunniten gerecht zu teilen, lässt Versöhnung nicht zu. Und so bleibt der Irak im Teufelskreis von Misstrauen und Hass gefangen. Sunniten sehen sich als entrechtete Opfer der Schiiten. Die Schiiten wiederum fürchten den Machtverlust durch Rückkehr einer von Sunniten geführten und als Ergebnis von Staatsstreichen aufgebauten Militärdiktatur. Da es davon in der Geschichte des Irak seit 1936 mehrere gab, scheint das Misstrauen der Schiiten durchaus berechtigt.

Dr. phil., geb. 1961; Studium der Islamwissenschaft, Politologie und Religionswissenschaft; 2005 bis 2011 Senior Political Affairs Officer der UNO-Friedensmission in Bagdad/Irak; seit 2012 freier Autor und Nahostberater, lebt in Berlin. E-Mail Link: wilfried.buchta@gmx.de