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No talks? Über Verhandlungen mit terroristischen Gruppen

Anna Mühlhausen

/ 16 Minuten zu lesen

Darf mit terroristischen Gruppen verhandelt werden? In öffentlichen Stellungnahmen finden sich oft Beteuerungen von Regierungen, nicht mit Terroristen zu sprechen – auch wenn viele Beispiele existieren, dass Verhandlungen stattgefunden haben.

Darf mit terroristischen Gruppen verhandelt werden? In öffentlichen Stellungnahmen finden sich zahlreiche Beteuerungen von Regierungen unterschiedlich verfasster Staaten, nicht mit Terroristen zu sprechen – auch wenn ähnlich viele Beispiele existieren, dass Verhandlungen stattgefunden haben und einen wichtigen Beitrag zu einer friedlichen Konfliktbeilegung leisten konnten. Das Wesen der terroristischen Gewalt – zumeist in Form von Anschlägen auf die Zivilbevölkerung – macht die Frage nach der "Denkbarkeit" von Verhandlungen zu einem sensiblen wie umstrittenen Thema.

Ablehnung bezieht sich in erster Linie auf die Gewaltform, da Anschläge im Kopf der Menschen wirken und Angst erzeugen sollen – jede und jeder kann Opfer werden. Terroristische Gewalt wird als unvereinbar mit Verhandlungen gesehen, weil diese auf Vertrauen und Zuverlässigkeit basieren. Verteidiger des No-talks-Paradigmas weisen zudem auf das Problem der Legitimierung und Anerkennung von Terroristen durch Gespräche hin. Die Bereitschaft zu Verhandlungen könnte als Zeichen von Schwäche des Staats gesehen werden und Demokratien im Angesicht von Anschlägen gegen ihre Bevölkerung erpressbar machen. Zudem verschafften sich Terroristen erst durch diese illegitime Gewalt Gehör oder erwirkten Zugeständnisse. Ferner führten Erfolge von Terroristen in Verhandlungen zu weiterer Gewalt durch Nachahmer. Verhandlungen mit Terroristen bilden eher eine Ausnahme, nur eine von fünf Gruppen tritt in Verhandlungen ein und etwa die Hälfte setzt ihre Gewalt nach den Verhandlungen fort, wenn auch auf niedrigerem Niveau. Eine komplette Zerschlagung der Gruppe produziere dagegen, so die Kritiker von Verhandlungen, einen stabileren Frieden.

Verhandlungen können aber auch signifikant zu einem Ende der Gewalt beitragen. Hiermit verknüpft ist ein verändertes Verständnis von "Terrorismus", das die Gewaltform nicht isoliert betrachtet, sondern zugesteht, dass terroristische Gruppen auch oft Rebellen, Aufständische (engl. insurgents) oder kriminelle Organisationen sind.

Die "Palästinensische Befreiungsorganisation" (PLO) ist eines der bekanntesten Beispiele für Gruppen, an denen die Zuschreibung "des einen Terroristen und des anderen Freiheitskämpfer" deutlich wird. Sie zeigt diese Ambivalenz auf, da sie zum einen eine jahrzehntelange Geschichte von Anschlägen und Geiselnahmen, beispielsweise während der Olympischen Spiele in München 1972, vorzuweisen hat. Zum anderen wurde sie mit der Zeit zur international anerkannten Vertretung der palästinensischen Bevölkerung und nimmt eine Schlüsselrolle in den Osloer Friedensgesprächen mit der israelischen Regierung in den 1990er Jahren ein. Um dieser Ambivalenz zwischen terroristischer Gewalt und gleichzeitiger Einbettung in eine Gesellschaft Rechnung zu tragen, wird oft auf die Bezeichnung "Terroristen" oder "terroristische Gruppe" verzichtet und stattdessen der Terminus "Gewaltgruppe" verwendet, wie auch in diesem Beitrag.

Die Zuschreibung "terroristisch" wird auch dahingehend kritisch betrachtet, dass sie dazu dienen kann, politisch unerwünschte Gegner zu kriminalisieren und bestimmte sicherheitspolitische Methoden nahezulegen – die in der Regel jede Form von Dialog ausschließen. Dieser vorwiegend im politischen Diskurs verlaufende Prozess bewirke eine Entfremdung und damit auch Entmenschlichung der anderen Konfliktpartei – und legitimiere Maßnahmen wie Folter.

Generell gilt: Gespräche bergen für Gewaltgruppen eine friedliche Alternative, um ihre Forderungen zu vertreten. Für Geheimdienste bieten Verhandlungen zahlreiche strategische Vorteile wie den Gewinn an zusätzlichen Informationen etwa in die inneren Dynamiken der Gruppe. Darüber hinaus können Verhandlungen als eine zivile Institution auch zivilisierend wirken, da sie in ihrem Verlauf bestimmte (Verhaltens-)Normen etablieren, Vertrauen aufbauen und so die Legitimierung der Gewaltgruppe an Vorbedingungen und friedliche Verhaltensmuster knüpft.

Einen umstrittenen Sonderfall stellen islamistische Gruppen wie Al-Qaida und regionale Ableger der Gruppe dar. Analysen nach dem 11. September 2001 beschreiben diese als "neuen" oder "absoluten" Terrorismus, der auf einer zu radikalen, universalistischen Ideologie basiere, die weder einen politischen Dialog zulasse, noch für Demokratien in Verhandlungen aufgreifbare Forderungen stelle. Als weitere Hürden werden Selbstmordanschläge, die netzwerkartige Struktur ohne klare Hierarchien und eine globale, staatliche Grenzen überschreitende Orientierung genannt.

Um dieser Diskussion Rechnung zu tragen, werde ich mich mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern Verhandlungen mit dem nordafrikanischen Ableger von Al-Qaida, "Al-Qaida im Islamischen Maghreb" (AQIM), als einer Gruppe dieses "neuen" Typs umsetzbar sind. Neben der religiösen Orientierung als Basis der Radikalität von AQIM werden ihr regionaler und globaler Bezug sowie die überwiegende Ausrichtung auf die organisierte Kriminalität als Hindernis für Verhandlungen gesehen. Die grundsätzliche Thematik von Verhandlungen mit Gewaltgruppen – die Art, wie verhandelt wird, Zeitpunkt und Reichweite von Verhandlungen sowie die Frage, wozu Verhandlungen dienen können – werde ich anhand weiterer Beispiele behandeln.

Verhandeln, wenn es keiner sieht

Verdeckte oder geheime Verhandlungen (engl. back-channel negotiations (BCN)) erlauben es Konfliktparteien – in diesem Fall meist eine Regierung und die Gewaltgruppe –, Gespräche zu beginnen, ohne die Öffentlichkeit darüber in Kenntnis zu setzen. BCN sind eine direkte oder über vermittelnde Akteure ermöglichte, geheime Kommunikation zwischen den führenden Vertretern verfeindeter Gruppen.

Verschiedene bekannte Fälle von BCN mit Gewaltgruppen sind unter Vermittlung von Mediatoren zustande gekommen, wie beispielsweise die Osloer Friedensgespräche, Gespräche zwischen der südafrikanischen Regierung und Nelson Mandela als Vertreter des African National Congress (ANC) sowie im Nordirlandkonflikt.

Die Erfolge der Verhandlungen im Nordirlandkonflikt zwischen der Provisional Irish Republican Army (PIRA) und der britischen Regierung zeigen die Vorteile von BCN auf. Dies sind der hohe Grad an Geheimhaltung gegenüber Gegnern der Verhandlungen und der Öffentlichkeit, sodass mehr Vertrauen und über einen längeren Zeitraum persönliche Beziehungen zwischen den Verhandelnden entstehen können, eine offenere und flexiblere Diskussion von Lösungen sowie die Möglichkeit, jenseits der öffentlichen Rhetorik beider Konfliktparteien die tatsächlichen Absichten und Ziele zu identifizieren. Auch verhindern BCN, das die Konfliktlösung zur "Geisel" des Konflikts wird und schirmen die Verhandelnden von den Konfliktgeschehnissen ab, wie etwa in den Osloer Friedensgesprächen. Zudem erleichtert es die Geheimhaltung, ohne formulierte Vorbedingungen ins Gespräch zu kommen. Dies bedeutet, dass während der verdeckten Verhandlungen die Gewalt von beiden Seiten weitergehen kann, da ein Waffenstillstand nicht automatisch eine Vorbedingung für die Verhandlungen darstellt. Oft werden die Bedingungen für einen Waffenstillstand erst während der BCN und zum Zweck offener Verhandlungen formuliert, wie Verhandlungsergebnisse zwischen kolumbianischer Regierung und nationaler Befreiungsarmee (ELN) zeigen.

Verdeckte Kommunikation zwischen Regierungen und Gewaltgruppen erlaubt es beiden Seiten, miteinander zu sprechen, ohne die gegnerische Seite anzuerkennen, sie zu legitimieren oder Zugeständnisse zu gewähren. Hiermit ist oft eine Veränderung der offiziellen Rhetorik verbunden, die parallel zu den BCN verlaufen kann und ein Bekanntwerden der Verhandlungen sowie öffentliche Verhandlungen (engl. front-channel negotiations, FCN) vorbereitet. So wurden beispielsweise nach dem Regierungswechsel von George W. Bush zu Barack Obama 2009 die afghanischen Taliban im Diskurs der US-amerikanischen Regierung von Al-Qaida und somit dem unversöhnlichen Label des Terrorismus losgelöst. Anstatt einer synonymen Verwendung wurde unter Obama zwischen beiden Gruppen oder zumindest moderaten und radikaleren Teilen der Taliban unterschieden, die Verankerung in der afghanischen Bevölkerung hervorgehoben und so andere Maßnahmen denn reines militärisches Bekämpfen ermöglicht – die unter anderem BCN unter Vermittlung Katars umfassten.

Durch BCN ist es allen Parteien möglich, Vertrauen aufzubauen und durch deeskalierende Handlungen gegenüber der anderen Konfliktpartei ihren Willen zu einer Konfliktlösung zu verdeutlichen. Dies kann die Ankündigung eines einseitigen Niederlegens der Waffen sein oder der Austausch von Gefangenen und Geiseln, der etwa zwischen PIRA und britischer Regierung im Rahmen von BCN direkte Verhandlungen im Nordirlandkonflikt ermöglicht hat.

Die Geheimhaltung der Gespräche gewinnt für die Kontrolle und den Ausschluss von Gegnern der Verhandlungen, Störenfrieden (engl. spoilers), an Bedeutung. Deren Agieren stellt in Friedensprozessen eine der größten Schwierigkeiten dar. Selbst wenn alle Beteiligten den Friedensprozess als sinnvoll erachten, gibt es Unterschiede in der Einsicht, wann der Punkt für Verhandlungen erreicht wird, und in der Ansicht, wie der Friedensprozess gestaltet werden soll.

Spoilers sind an den Verhandlungen direkt beteiligt oder agieren als eine dritte externe Partei, die von den Verhandlungen ausgeschlossen wurde beziehungsweise sich selbst ausgeschlossen hat. Die negative Wirkung von spoilers in Verbindung mit verdeckten Verhandlungen wird besonders im Scheitern des Osloer Friedensprozesses sichtbar. Mit Hilfe der BCN konnten zwar die radikalen Gruppen, die ein Abkommen verhindern wollten, erfolgreich ausgeschlossen werden. Gleichzeitig sind diese auf beiden Seiten aber so stark geworden, dass ihre Gewalt – die in der Ermordung des israelischen Premierministers Jitzchak Rabin 1995 gipfelte – die Umsetzung des Friedensvertrags verhindern konnte.

In ihrer Geheimhaltung liegt das Paradox verdeckter Verhandlungen: Wird wie in den Osloer Friedensgesprächen zu viel in BCN erarbeitet, verlieren die Repräsentanten beider Konfliktparteien die Möglichkeit, einen Konsens in ihren eigenen Reihen aufzubauen. Diese Situation birgt erstens die Gefahr, dass sich radikale Flügel von Gruppen ablösen und den Konflikt erneut anheizen oder die Verhandlungsergebnisse gefährden. Zweitens stellt sich für Demokratien die Frage, wie mit dem Ausschluss der Zivilbevölkerung vom Verhandlungstisch bei BCN umgegangen werden soll. Zudem sollten solche Gruppen Gehör finden, die ihre Forderungen gewaltlos formulieren und sonst marginalisiert werden würden. Daher stellt sich die Frage, wie inklusiv Verhandlungen mit Gewaltgruppen sein sollten.

Es ist zu betonen, dass verdeckte Verhandlungen grundsätzlich große Vorteile bieten, aber nicht als einziges Instrument zur Konfliktlösung genutzt werden sollten. Ihre Nachteile wiegen dann schwer, wenn man BCN dazu einsetzt, schnell eine Lösung zu verhandeln. Den Nachteilen kann entgegengetreten werden, indem zwischen verdeckten und offenen Verhandlungen gewechselt, das finale Abkommen öffentlich verhandelt und abschließend per Referendum abgestimmt wird.

Im Falle des nordafrikanischen Ablegers von Al-Qaida hat es um 2009 geheime Gespräche zwischen dem damaligen Anführer des südlichen Ablegers von AQIM in der Sahara, Mokhtar Belmokhtar, und dem algerischen Geheimdienst gegeben, die kurzfristig zu einem taktischen Abkommen geführt haben sollen. Dies ist nicht mit Friedensverhandlungen zwischen Regierungen und Gewaltgruppen wie in Nordirland oder Südafrika zu vergleichen. Es ist eine seit dem Bürgerkrieg in den 1990er Jahren erprobte Politik Algeriens, im Umgang mit Gewaltgruppen neben starker Repression immer wieder in geheimen Gesprächen individuelle Amnestien zu verhandeln und so moderate Teile von den Gewaltgruppen abzulösen. Die Verhandlungen mit Belmokhtar zeigen auch, dass staatliche Regierungen Anreize für eine Gruppe oder Individuen bieten können, selbst wenn diese über Staatsgrenzen hinweg agieren. Zudem wird sichtbar, dass sich unterhalb der universalistischen Forderungen einer Al-Qaida-nahen Gruppe, die Kritikern als entscheidendes Hindernis für Verhandlungen gelten, Interessen wie persönliche Vorteile der Mitglieder als Verhandlungsgegenstand finden lassen.

Verhandeln, wenn es wehtut

Eines der Kernelemente von Theorien des Konfliktmanagements ist die Frage, wann die Konfliktparteien Gespräche oder Verhandlungen aufnehmen. Dem No-talks-Paradigma folgende Positionen betonen, dass Verhandlungen mit terroristischen Gruppen erst dann möglich sind, wenn diese bereits beginnen, aufzugeben. Dies ist problematisch, wenn Gewaltgruppen in einer Situation extremer Schwächung zu einer besonders hohen Gewaltbereitschaft neigen. Entgegen dem No-talks-Paradigma könnten daher Verhandlungen zu einem früheren Zeitpunkt unnötige Gewalt vermeiden.

Hiermit sind zwei Begriffe verbunden, die der Konfliktforscher I. William Zartman geprägt hat: die Konfliktreife und das mutually hurting stalemate (MHS). Bei letzterem wird beiden Konfliktparteien unterstellt, zu dem Ergebnis gekommen zu sein, dass sie eine Art Sackgasse erreicht haben, da bisherige Strategien gescheitert sind und sie ihre Situation durch eine weitere Eskalation der Gewalt nicht mehr verbessern können, es also zu Verhandlungen keine bessere Alternative gibt. Diese Pattsituation darf nicht angestrebt werden oder durch Druck dritter Parteien wie Alliierter oder Mediatoren entstehen, sondern muss den Konfliktparteien "wehtun" und sie in eine Reife für Verhandlungen hineindrücken. So sind Kriegsmüdigkeit und hohe finanzielle wie menschliche Kosten des Einsatzes in Afghanistan wichtige Push-Faktoren für die USA hin zu solch einem "schmerzhaften" MHS gewesen, um schließlich BCN mit den afghanischen Taliban einzugehen.

Das Erreichen der Konfliktreife setzt gleichzeitig einen Grad an Optimismus darüber voraus, dass die andere Seite auf das Angebot von Verhandlungen eingeht, zu Zugeständnissen bereit und an einer Versöhnung interessiert ist – anstatt die Gespräche als Feuerpause zum Überwinden einer eigenen Schwächung zu nutzen. Darin liegt ein wesentlicher Unsicherheitsfaktor hinsichtlich des (An-)Erkennens von Konfliktreife und MHS begründet.

Kritik erfährt das Konzept von MHS und Konfliktreife dahingehend, dass ein solcher Punkt meist erst ex post erkennbar ist und nicht aus dem direkten Konfliktgeschehen heraus. In der Wissenschaft werden dazu verschiedene Kriterien wie Machtgleichgewichte (real oder subjektiv wahrgenommen) zum Beispiel anhand der (militärischen) Stärke und der Grad der Schäden durch den Konflikt diskutiert. Das Beispiel der Verhandlungen zwischen USA und Taliban verweist außerdem darauf, dass ein MHS zwar unter Umständen zu Gesprächen führt, dieser Zustand aber auch wieder überwunden werden kann und der Prozess ins Stocken gerät oder scheitert.

Zudem zeigen die Kontakte zwischen algerischem Geheimdienst und Belmokhtar/AQIM, dass die Aufnahme von Verhandlungen aus anderen Absichten denn aus einem MHS erfolgen kann. Das stalemate, entstanden durch Erfolge Algeriens in der Bekämpfung und dem Ablösen moderater Teile der Gruppe, konnte der südliche Flügel AQIM mit der Expansion in die Sahara und den Sahel sowie die Integration in die organisierte Kriminalität zur eigenen Finanzierung überwinden. Die Gründe für Verhandlungen zwischen dem algerischen Geheimdienst und Belmokhtar sind daher eher in taktischen Überlegungen und kurzfristigen Vorteilen einer Kooperation zu suchen. Gleichzeitig ließe sich argumentieren, dass eine Kooperation schließlich an dem Fehlen einer wirklichen Notsituation und besseren Alternativen gescheitert ist.

Die meisten Analysen einer Reife für Verhandlungen werfen einen Blick auf das Verhältnis zwischen Regierung und Gewaltgruppe. Ein Schritt zu Gesprächen kann aber auch aus Dynamiken zwischen verschiedenen Gruppen und innerhalb der Gruppe, wie im Fall von AQIM, heraus erfolgen. Vor allem die individuelle Ebene ist hier wichtig, da die persönliche Feindschaft zwischen Belmokhtar und dem Anführer von AQIM, Abdelmalek Droukdel, als wichtiger Grund für eine zeitlich begrenzte Kooperation von Belmokhtar mit dem algerischen Geheimdienst genannt wird.

Verhandlungen sind nicht gleich Verhandlungen

Die Beispiele von Verhandlungen mit Gewaltgruppen zeigen, dass hieraus nicht zwingend ein Ende der Gewalt oder ein Friedensschluss resultieren. Gespräche mit der Gewaltgruppe dienen häufig auch dazu, Informationen zu gewinnen, um mit deren Hilfe Einfluss auf die moderaten Teile zu nehmen und über sie die Gruppe insgesamt zu einer Abkehr von der Gewalt zu bewegen oder signifikant zu schwächen. Diese Transformation der Mittel weg von terroristischer Gewalt hin zu politischer Partizipation als Partei ist eines der Kernziele.

Des Weiteren gibt es Positionen, die die Wirkkraft eines Dialogs mit Gewaltgruppen über Verhandlungen hinaus betonen. Terroristische Gewalt kann demnach nicht (ausschließlich) durch ein Bekämpfen zur Wiederherstellung der staatlichen Ordnung überwunden werden, sondern weist auf einen tief greifenden gesellschaftlichen Konflikt hin. Die Unfähigkeit der staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen, Unzufriedenheit gewaltfrei zu kanalisieren, könne nur durch eine Veränderung der Gruppe und der staatlichen Strukturen im Sinne einer höheren demokratischen Inklusion bewältigt werden.

Wie dies geschehen kann, zeigt das Beispiel der Deradikalisierung der ägyptischen "Gama’a Islamiya" in den 1990er Jahren. Im Rahmen eines Deradikalisierungsprogramms der Gruppe ermöglichte die ägyptische Regierung einen Dialog sowohl der inhaftierten Mitglieder untereinander als auch mit Geistlichen und durch die Veröffentlichung von Büchern und Interviews mit der Zivilgesellschaft. Ein Teil der Gruppe konnte sich nach langer Isolation wieder in die Lebenswelt der ägyptischen Gesellschaft integrieren. Auch hat dieser Dialog die Möglichkeit geboten, ein Gegennarrativ zur Attraktivität Al-Qaidas zu entwickeln und eine Alternative mit gewaltlosen Mitteln anzubieten.

Verhandlungen sind als Prozesse anzusehen, die im Sinne eines taktischen bargaining beginnen, im Laufe ihrer Institutionalisierung aber eine Transformation der Mittel hin zu gewaltfreien Methoden, der Einstellungen beider Konfliktparteien zueinander und schließlich des sozialen Umfelds bewirken können.

Fazit

Die Hürden zu Beginn von Verhandlungen mit Gewaltgruppen sind sehr hoch und mehr als nur eine Frage des richtigen Timings. Können beide Seiten nach Gesprächen Verhandlungen beginnen, so sind diese als komplexe Prozesse und nicht als ein Endprodukt zu sehen. Die erwähnten Beispiele der Verhandlungen im Nordirlandkonflikt, in Südafrika, Kolumbien und den Osloer Friedensgesprächen zeigen, dass es sich hierbei um langwierige, sehr störanfällige und immer wieder von Rückschlägen bedrohte Konfliktlösungswege handelt. Oft geht es eher darum, überhaupt im Gespräch zu bleiben, denn Ergebnisse zu liefern, da bei einem Scheitern – wie im Fall der israelisch-palästinensischen Gespräche – eine weitere Radikalisierung der Mittel beider Seiten droht. Sowohl die Verhandlungen in Nordirland als auch in Kolumbien haben eine jahrzehntelange Geschichte hinter sich und zeigen die Gefahr auf, dass während des Prozesses neue Gruppen entstehen oder radikale Flügel wie zum Beispiel die Real Irish Republican Army (RIRA) absplittern können.

Auch die Verhandlungen in Ägypten und Algerien zeigen die Gefahr einer Radikalisierung dritter Gruppen oder des Absplitterns von gewaltbereiten Flügeln auf: Im Dialogprozess zwischen ägyptischer Regierung und Gama’a Islamiya konnte eine dritte Gruppe, der "Ägyptische Dschihad", in Gespräche eingebunden werden, von der sich ein radikalerer Flügel unter der Leitung von Ayman al-Zawahiri loslöste und sich am Aufbau von Al-Qaida beteiligte. In Algerien werden die erfolgreichen Verhandlungen zwischen der Regierung und einem der Anführer der Vorgängergruppe von AQIM als ein Auslöser für die weitere Radikalisierung der Gruppe und ihren Anschluss an Al-Qaida gesehen.

Geheime Kommunikation bietet die Möglichkeit, sich an Verhandlungen heranzutasten und zu verhandelnde Gegenstände zu identifizieren. Darüber hinaus können solche Akteure, die von vornherein einen Friedensprozess gefährden, zunächst ausgeklammert werden. Hierbei ist wichtig zu betonen, dass Verhandlungen immer in eine weitergreifende Politik und verschiedene Maßnahmen, auch militärischer Art, eingebunden sein sollten. Dabei ermöglichen es Verhandlungen und Gespräche dem Staat, nicht nur auf Anschläge oder andere Taktiken zu reagieren, sondern selbst aktiv zu werden und so wieder Einfluss über die Gruppe zu gewinnen.

Gespräche oder Verhandlungen mit Gewaltgruppen sind also grundsätzlich weder undenkbar oder unmöglich, noch entbehren sie historischer und aktueller Vorbilder. Dies trifft inzwischen auch auf Verhandlungen mit islamistischen Gewaltgruppen zu. Dennoch stellen sie für alle Beteiligten herausfordernde Prozesse dar, die nicht zuletzt ein Abwägen zwischen der Ablehnung der verwendeten (terroristischen) Gewalt und dem Vermeiden zukünftiger Gewalt sowie den Schutz von Menschenleben darstellen. "Negotiating with terrorists is not a question of forgiving or forgetting the past, but holding a pragmatic position about the future."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Daniel Byman, The Decision to Begin Talks with Terrorists: Lessons for Policymakers, in: Studies in Conflict & Terrorism, 29 (2006) 5, S. 403–414, hier: S. 406; Peter Neumann, Negotiating with Terrorists, in: Foreign Affairs, 86 (2007) 1, S. 128–138, hier: S. 134.

  2. Vgl. ebd.

  3. Vgl. D. Byman (Anm. 1), S. 406; ders., Talking with Insurgents: A Guide for the Perplexed, in: The Washington Quarterly, 32 (2009) 2, S. 125–137, hier: S. 129.

  4. Vgl. D. Byman (Anm. 1), S. 406.

  5. Vgl. Audrey Kurth Cronin, How Terrorism Ends. Understanding the Decline and Demise of Terrorist Campaigns, Princeton 2011, S. 36.

  6. Vgl. Isabelle Duyvesteyn/Bart Schuurman, The Paradoxes of Negotiating with Terrorist and Insurgent Organisations, in: The Journal of Imperial and Commonwealth History, 39 (2011), S. 677–692, hier: S. 687.

  7. Vgl. Bruce Hoffman, Terrorismus, der unerklärte Krieg. Neue Gefahren politischer Gewalt, Frankfurt/M. 2006, S. 43f.

  8. Vgl. zum Osloer Friedensprozess Martin Schäuble/Noah Flug, Die Erste Intifada und das Friedensabkommen von Oslo, 28.3.2008, Interner Link: Die Erste Intifada und das Friedensabkommen von Oslo (9.5.2016).

  9. Vgl. Harmonie Toros, Terrorism, Talking and Transformation. A Critical Approach, Abingdon u.a. 2012, S. 31f.; I. William Zartman/Guy Olivier Faure, Introduction: Why Engage, and Why Not?, in: dies. (Hrsg.), Engaging Extremists. Trade-Offs, Timing, and Diplomacy, Washington D.C. 2011, S. 1–19.

  10. Vgl. Camille Pecastaing, Facing Terrorism: Engagement and De-escalation, in: I.W. Zartman/G.O. Faure (Anm. 9), S. 169–202.

  11. Vgl. ebd., S. 177f.; H. Toros (Anm. 9), S. 78ff.; I.W. Zartman/G.O. Faure (Anm. 9), S. 6f.

  12. Vgl. A.K. Cronin (Anm. 5), S. 37.

  13. Vgl. Carl Miller, Is it Possible and Preferable to Negotiate with Terrorists?, in: Defence Studies, 11 (2011) 1, S. 145–185, hier: S. 172.

  14. Vgl. Richard E. Heyes et al., Negotiating the Non-Negotiable: Dealing with Absolutist Terrorists, in: International Negotiation, 8 (2003) 3, S. 451–467, hier: S. 452; vgl. B. Hoffman (Anm. 7).

  15. Vgl. ebd.

  16. Hierfür wird vor allem der Zeitraum von 2007 bis 2013 betrachtet.

  17. Vgl. Dean G. Pruitt, Back-Channel Communication in the Settlement of Conflict. in: International Negotiation, 13 (2008) 1, S. 37–54, hier: S. 37f.

  18. Vgl. ebd.

  19. Vgl. zum Friedensprozess in Südafrika Helga Dickow, Südafrika, 4.10.2013, Interner Link: Südafrika (9.5.2016).

  20. Vgl. Dean G. Pruitt, Negotiation with Terrorists, in: International Negotiation, 11 (2006) 2, S. 371–392, hier: S. 381.

  21. Vgl. zum Friedensprozess in Nordirland Bernhard Moltmann, Nordirland, 17.12.2015, Interner Link: Nordirland (9.5.2016).

  22. Vgl. D.G. Pruitt (Anm. 17), S. 41; Anthony Wanis-St. John, Back-Channel Negotiation: International Bargaining in the Shadows, in: Negotiation Journal, 22 (2006) 2, S. 119–144, hier: S. 128.

  23. Vgl. A.K. Cronin (Anm. 5).

  24. Vgl. Dean G. Pruitt, Ripeness Theory and the Oslo Talks, in: International Negotiation, 2 (1997), S. 237–250, hier: S. 245.

  25. Vgl. Regierung verhandelt mit weiterer Rebellengruppe, 30.3.2016, Externer Link: http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-03/kolumbien-eln-rebellen-friedensgespraeche-farc (9.5.2016); grundlegend: Christiane Schwarz/Alexandra Huck, Kolumbien, 22.12.2015, Interner Link: Kolumbien (9.5.2016).

  26. Vgl. D.G. Pruitt (Anm. 20), S. 382.

  27. Vgl. Judith Renner/Alexander Spencer, De-Antagonising the Other: Changing Constructions of the Taliban and the Possibility of Reconciliation, in: Global Society, 27 (2013) 4, S. 475–496.

  28. Vgl. Niall Ó Dochartaigh, Together in the Middle: Back-Channel Negotiation in the Irish Peace Process, in: Journal of Peace Research, 48 (2011) 6, S. 767–780.

  29. Vgl. Stephen John Stedman: Spoiler Problems in Peace Processes, in: International Security, 22 (1997) 2, S. 5–53, hier: S. 7.

  30. Ebd., S. 8.

  31. Vgl. A. Wanis-St. John (Anm. 22); D.G. Pruitt (Anm. 20), S. 383.

  32. Vgl. A. Wanis-St. John (Anm. 22), S. 138.

  33. Vgl. ebd.

  34. Vgl. ders./Darren Kew, Civil Society and Peace Negotiations: Confronting Exclusion, in: International Negotiation, 23 (2008) 1, S. 11–36.

  35. Vgl. D.G. Pruitt (Anm. 17), S. 51; A.K. Cronin (Anm. 5); A. Wanis-St. John (Anm. 22).

  36. Vgl. D.G. Pruitt (Anm. 17), S. 59f.

  37. Vgl. Djallil Lounnas, Confronting Al-Qa’ida in the Islamic Maghrib in the Sahel: Algeria and the Malian Crisis, in: The Journal of North African Studies, 19 (2014) 5, S. 810–827, hier: S. 820f.

  38. Vgl. ebd.; Luis Martinez, Why the Violence in Algeria?, in: The Journal of North African Studies, 9 (2004) 2, S. 14–27.

  39. Vgl. P. Neumann (Anm. 1), S. 133; C. Pecastaing (Anm. 10), S. 186.

  40. Vgl. I. William Zartman, Negotiation and Conflict Management. Essays on Theory and Practice, London–New York 2008, S. 232, S. 252.

  41. Vgl. ebd.; Roger Fisher et al., Negotiating an Agreement without Giving in, New York 1991, S. 104f.

  42. Vgl. I.W. Zartman (Anm. 40), S. 232ff.; D.G. Pruitt (Anm. 20), S. 380.

  43. Vgl. S. Gülden Ayman, Reconciliation with the Taliban: Challenges and Prospects, in: Journal of Security Strategies, 17 (2013), S. 1–22, hier: S. 3.

  44. Vgl. ebd., S. 9; P. Neumann (Anm. 1).

  45. Vgl. Moorad Mooradian/Daniel Druckman, Hurting Stalemate or Mediation? The Conflict over Nagorno-Karabakh, 1990–95, in: Journal of Peace Research, 36 (1999) 6, S. 709–727, hier: S. 712f.

  46. Vgl. D. Lounnas (Anm. 37); Olivier Walther/Dimitris Christopoulos, Islamic Terrorism and the Malian Rebellion, in: Terrorism and Political Violence, 27 (2015) 3, S. 497–519.

  47. Vgl. D. Byman (Anm. 1), S. 404f.; D.G. Pruitt (Anm. 20), S. 384; Bertram I. Spector, Negotiating with Villains Revisited: Research Note, in: International Negotiation, 8 (2004), S. 613–621, hier: S. 620; A.K. Cronin (Anm. 5).

  48. Vgl. u.a. Judith Renner/Alexander Spencer (Hrsg.), Reconciliation after Terrorism. Strategy, Possibility or Absurdity?, London–New York 2012; H. Toros (Anm. 9).

  49. Vgl. H. Toros (Anm. 9).

  50. Vgl. Carolin Goerzig, Talking to Terrorists: Concessions and the Renunciation of Violence, London 2012, S. 40f.

  51. Vgl. ebd., S. 35.

  52. Vgl. ebd., S. 42.

  53. Vgl. D. Byman (Anm. 3), S. 129f.; A.K. Cronin (Anm. 5), S. 41f.

  54. Vgl. A.K. Cronin (Anm. 5), S. 41f.; C. Pecastaing (Anm. 10), S. 192f.

  55. Vgl. D.G. Pruitt (Anm. 20), S. 380.

  56. Vgl. C. Goerzig (Anm. 50), S. 43.

  57. Vgl. Eric Ouellet et al., The Institutionalization of Al-Qaeda in the Islamic Maghreb (AQMI), in: Terrorism and Political Violence, 26 (2014) 4, S. 650–665.

  58. Vgl. R. Fisher et al. (Anm. 41), S. 168f.; B.I. Spector (Anm. 47), S. 617.

  59. C. Miller (Anm. 13), S. 177.

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M.A., geb. 1989; Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Friedens- und Konfliktforschung.