Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952, 1972, 1993 und 2012 | Land und Ländlichkeit | bpb.de

Land und Ländlichkeit Editorial Neue Ländlichkeit. Eine kritische Betrachtung Geschichte und Gegenwart des Dorfes Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952, 1972, 1993 und 2012 Politik im und für den ländlichen Raum Flüchtlinge aufs Land? Migration und Integration im ländlichen Raum Urbane Dörfer. Städtische Lebensformen im dörflichen Kontext Rurbane Landschaften. Landschaftsentwürfe als Projektionen produktiver Stadt-Land-Verschränkungen

Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952, 1972, 1993 und 2012

Heinrich Becker Gesine Tuitjer

/ 13 Minuten zu lesen

Der Beitrag präsentiert Ergebnisse des Forschungsprojekts "Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel", in dem Veränderungen der ländlichen Lebensverhältnisse in immer denselben zehn westdeutschen und seit 1993 auch vier ostdeutschen Dörfern untersucht werden.

Das Forschungsprojekt "Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952, 1972, 1993 und 2012" ist in der deutschen Forschungslandschaft einzigartig. Es untersucht die Veränderungen der ländlichen Lebensverhältnisse seit den Anfängen der Bundesrepublik Deutschland alle 20 Jahre in immer denselben zehn westdeutschen und seit 1993 auch vier ostdeutschen Dörfern und deren Umland (Karte). Alle vier Untersuchungsfolgen wurden vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft finanziert. Die Entwicklung zur Langzeitstudie ist eine Reaktion auf die stetigen Veränderungen der ländlichen Lebensverhältnisse sowie des öffentlichen und politischen Interesses an diesem Wandel.

Von einer Kleinbauernuntersuchung …

Die junge Bundesrepublik sah sich Anfang der 1950er Jahre dem drängenden Problem der Sicherung der Ernährung einer durch Flüchtlinge und Vertriebene stark angewachsenen Bevölkerung gegenüber. Für die Ernährungssicherung der Bevölkerung war der Produktionsbeitrag von Kleinbauern, die zu der Zeit 80 Prozent aller Landwirte stellten, daher unverzichtbar. Die kleinbäuerliche Landwirtschaft schien allerdings durch das Wiedereinsetzen der sich bereits in der Vorkriegszeit abzeichnenden Abwanderung von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft, an der auch die Unterbringung von Flüchtlingen und Vertriebenen in Dörfern wenig änderte, und von Menschen vom "Lande" in Richtung Stadt gefährdet. Als Ursache wurden im Vergleich mit anderen Bevölkerungsteilen schlechtere Arbeits-, Einkommens- und Lebensverhältnisse vermutet. Mit Blick auf das konkurrierende politische System im Osten Deutschlands befürchtete man nichts weniger als die Gefährdung des sozialen Friedens auf dem Land. Die Überlegung, dass die kleinbäuerlichen Familien ihre eigene Situation an der ihrer nicht in der Landwirtschaft erwerbstätigen Nachbarn messen würden, führte zu deren Einbeziehung in die Untersuchung. Aus der ursprünglichen Fragestellung zur Situation von Kleinbauern wurde so eine Fallstudienuntersuchung zur Entwicklung und aktuellen Situation der Lebensverhältnisse in Dörfern.

Die Auswahl der Dörfer folgte damals keiner wie auch immer konstruierten Einheitlichkeit des "Ländlichen", sondern setzte mit dem Ziel, Lebensverhältnisse mit unterschiedlichen Bedingungen einzufangen, an der empirischen Realität von Vielfalt und Heterogenität in ländlichen Räumen an. Kriterien der durch Inaugenscheinnahme aufwändigen Auswahl der Untersuchungsdörfer waren naturräumliche und strukturelle Unterschiede der Dörfer (Dörfer mit einer überwiegenden kleinbäuerlichen Landwirtschaft, mit einem höheren Anteil größerer landwirtschaftlicher Betriebe oder sogenannte Arbeiter-Bauern-Dörfer, in denen der Anteil nichtlandwirtschaftlicher Bevölkerung erheblich war), unterschiedliche landwirtschaftliche Vererbungssitten, unterschiedliche Verkehrsbedingungen beziehungsweise Entfernungen zu größeren Städten und damit tendenziell unterschiedliche Erwerbsalternativen, aber auch positive beziehungsweise problematische Entwicklungen der Dörfer in der Vergangenheit. Nach einem von den beteiligten Wissenschaftlern ausgearbeiteten Plan wurden die Lebensverhältnisse in jedem der Untersuchungsdörfer von je einem Mitarbeiter analysiert. Die sogenannten Ermittler lebten zu diesem Zweck bis zu einem Jahr in den Untersuchungsdörfern. Der Verflechtung dieser Dörfer mit ihrem Umland wurde von Anfang an Rechnung getragen, beispielsweise in Bezug auf Arbeitsplätze. In den zusammenfassenden Ergebnissen der Fallstudien wurde deutlich, dass mit agrarpreispolitischen Mitteln allein die Situation vieler kleinbäuerlicher Betriebe nicht dauerhaft zu verbessern sei. In der unausgesprochenen Konsequenz war dazu in erster Linie die Entwicklung von Arbeitsplätzen außerhalb der Landwirtschaft notwendig.

Karte: Die 14 Untersuchungsorte

… zur Untersuchung ländlicher Lebensverhältnisse

Eine gute gesamtwirtschaftliche Entwicklung und, darin eingebettet, der massive Strukturwandel in der Landwirtschaft, dessen herausragendes Kennzeichen die verbreitete Aufgabe kleinbäuerlicher Betriebe war, stellten den Hintergrund für die erneute Untersuchung der 1952 ausgewählten Dörfer dar. Unter Aufnahme des Materials der Untersuchung von 1952 stellte das neue Forschungsvorhaben die Frage, was aus diesen Dörfern in den zurückliegenden 20 Jahren geworden war, wie sich die örtlichen Agrarstrukturen verändert und die Lebensverhältnisse entwickelt hatten. Als ein ertragreiches Muster für die Folgeuntersuchungen erwies sich die 1972 erstmals praktizierte Verknüpfung aus ortsbezogenen Analysen des Wandels und ortsübergreifenden, an je aktuellen Fragestellungen ausgerichteten Forschungsarbeiten zu Einzelaspekten des ländlichen Wandels.

Die Wiedervereinigung erlaubte es 1993, die Untersuchung auch auf vier ostdeutsche Dörfer auszuweiten. Blind, das heißt ohne vorherige Inaugenscheinnahme, wurden vier unterschiedlich strukturierte Dörfer, festgemacht an der Bevölkerungsgröße und der Entfernung von vermuteten Wachstumsräumen beziehungsweise -achsen, ausgewählt. Eines der Dörfer sollte, so eine Vorabfestlegung, im Kernsiedlungsgebiet der Sorben liegen. Inhaltlich war die Untersuchung in diesen Dörfern durch Fragen zur Transformation der Verhältnisse und deren Folgen für die Entwicklung der örtlichen Lebensverhältnisse geprägt.

Kontinuität des Forschungsprogramms unter veränderten Rahmenbedingungen

Wiederholungsuntersuchungen zum Wandel ländlicher Lebensverhältnisse in Dörfern über einen Zeitraum von 60 Jahren müssen sich – wollen sie wahrgenommen werden und Antworten zu aktuellen Fragen liefern – in ihrer Ausrichtung auch an Entwicklungen in Wissenschaft und Gesellschaft, mehr aber noch an die Veränderungen der Lebensverhältnisse selbst anpassen. So wurde etwa den Veränderungen vor Ort durch die fallweise Erweiterung der Untersuchungsgebiete Rechnung getragen.

Die strukturellen und konzeptionellen Gemeinsamkeiten machen aus dem lockeren Zusammenhang von vier Einzeluntersuchungen ein gemeinsames Projekt: Das stärkste Bindeglied zwischen den Einzeluntersuchungen ist ihr Anspruch, die Menschen vor Ort als Experten ihrer Lebensverhältnisse in die Studien einzubinden. Als Teil dieses Anspruchs werden seit 1993 die Ergebnisse den Einwohnern in jedem der Untersuchungsorte vor Abschluss der Forschungsarbeit präsentiert und diskutiert. Das Alltagsleben der Menschen zieht sich als roter Faden durch alle vier Untersuchungsfolgen und garantiert so die Aktualität der Ergebnisse unter den jeweiligen Verhältnissen und Bedingungen.

Die Untersuchungsfolgen haben den Veränderungen durch die Auswahl von jeweils aktuellen Untersuchungsthemen zu Einzelaspekten des Wandels Rechnung getragen. Hieraus folgt die interdisziplinäre Struktur der Untersuchungen, die sich aus der Zusammenarbeit von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Fachrichtungen ergibt.

Untersuchungen im Bann der Einwohnerentwicklung

Alle Untersuchungen – dies ist ein weiterer gemeinsamer Faktor – fanden vor dem Hintergrund öffentlich diskutierter, von der Anziehungskraft großer Städte gespeister Sorgen um die demografische Entwicklung in ländlichen Räumen statt. In rückläufigen Einwohnerzahlen schlägt sich – so die Annahme – die negative Entwicklung regionaler Wirtschaftstätigkeiten und der Lebensbedingungen kumuliert nieder. Abwanderung gilt in diesem Zusammenhang als eine Art Abstimmung der Menschen mit Füßen über die örtlichen Bedingungen.

Geradezu prototypisch für ein solches Szenario einer wirtschaftlich induzierten Bevölkerungsabnahme kann die Entwicklung eines Teils der westdeutschen Untersuchungsdörfer im 19. Jahrhundert gelten. Auf den Zusammenbruch des örtlich bedeutsamen hausgewerblichen Leinenwebens im Zuge der Industrialisierung folgten Abwanderungen und Rückgänge der Einwohner. Leinenweben war beispielsweise die Existenzgrundlage eines Großteils der Bevölkerung in dem Leinenweberdorf Freienseen und in Westrup, das zur Leinen-Exportwirtschaft des Minden-Ravensburger-Raums gehörte. Selbst der vollständige Untergang dieser Erwerbsgrundlage löste jedoch keineswegs eine Spirale im Sinne eines irreversiblen und sich selbst verstärkenden Prozesses aus.

Aufgrund höchst unterschiedlicher örtlicher und regionaler Faktoren entwickelten sich die Einwohnerzahlen in den Untersuchungsorten sehr unterschiedlich. Einigen Untersuchungsorten gelang es relativ zügig, an dem allgemeinen und massiven Bevölkerungswachstum seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu partizipieren. In anderen Orten blieb die Bevölkerung weitgehend unverändert. Es gab aber auch Orte, in denen über lange Zeit die Einwohnerzahlen zurückgingen. Im Laufe der langfristigen Entwicklung kam es dabei zu Vorzeichenwechsel der Einwohnerentwicklung.

Die völlig veränderten Bedingungen der Gegenwart mit ihren regional differenzierten wirtschaftlichen wie auch demografischen Entwicklungen sind einerseits durch einen ausgeprägten Wettbewerb um Einwohner zwischen Wohnorten, Dörfern wie Städten, gekennzeichnet, andererseits aber auch durch die vielfältigen kommunalpolitischen Versuche, steuernd in diese Prozesse einzugreifen. Infolge der Differenzierung versuchen einerseits Untersuchungsdörfer durch Baulandausweisungen, Infrastrukturausbau und Vergünstigungen, Einwohner, insbesondere junge Familien, anzulocken. Andere Untersuchungsdörfer in Regionen mit einem deutlichen Bevölkerungswachstum und einer großen Nachfrage nach Bauland versuchen die Entwicklung so zu steuern, dass auch Einheimische noch die Chance haben, Grundstücke zu erwerben. Auf die örtliche Bevölkerungszahl in verschiedenen Untersuchungsdörfern wirkt zudem die Ausweisung von Wohnungsschwerpunkten innerhalb der Gemeinden. Durch eine solche Ausweisungspolitik der Großstadt Göttingen beispielsweise ist Elliehausen zu einem bevorzugten Wohndorf dieser Großstadt geworden.

In orts- oder auch regionalspezifisch andauernden Prozessen der Bevölkerungsentwicklung stellen die vier Untersuchungsfolgen nur Momentaufnahmen dar. Dieser Sachverhalt zeigt sich deutlich an der Einordnung der "Rückstandsdörfer" Bockholte und Spessart in der Untersuchung von 1952. Die prekäre Situation der Dorfbevölkerung zu diesem Zeitpunkt führten die Wissenschaftler überzeugend auf die geringen Einkommensmöglichkeiten vor Ort beziehungsweise auf eine "Überbevölkerung" im Hinblick auf die regional-ökonomischen Möglichkeiten zurück. Die Bevölkerung in beiden Dörfern reagierte aber keineswegs mit einer starken Abwanderung, sondern erschloss sich, oft gehalten durch eigenen kleinen Landbesitz, in einem langen und oft sehr mühevollen Prozess weitere Einkommensmöglichkeiten. Heute weist Bockholte einen anhaltenden Einwohnerzuzug als Folge einer ausgesprochen dynamischen Wirtschaftsentwicklung in dem unmittelbar angrenzenden Hauptort der gleichnamigen Gemeinde Werlte und des Emslandes auf. Spessart ist heute in einem durch hohen Wettbewerb um Einwohner gekennzeichneten, demografisch schwierigen Umfeld durch stabile Einwohnerzahlen und eine ausgesprochen positive gewerbliche Standortentwicklung gekennzeichnet.

Exponiertes Beispiel für eine von einem mehrfachen Wechsel der Vorzeichen geprägte Einwohnerentwicklung ist der Untersuchungsort Gerhardshofen. Die Phase eines mehr als 100 Jahre anhaltenden Bevölkerungsrückgangs löste nach langen und oft vergeblichen Bemühungen der Gemeinde erst in den 1980er und 1990er Jahren ein starkes Bevölkerungswachstum ab. Auf Basis guter regionalwirtschaftlicher Entwicklungen und Unternehmensansiedlungen im Ort lag die Ursache vor allem in der Ausweisung von attraktivem Bauland in Verbindung mit erfolgreichen Gewerbeansiedlungen. Gerhardshofen wurde zum Pendlerdorf. Das Bevölkerungswachstum hat wiederum seit 2008 leicht rückläufigen Bevölkerungszahlen Platz gemacht.

Die ostdeutschen Untersuchungsorte wurden von den Folgewirkungen der Wiedervereinigung mit der umfassenden und tief greifenden Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft vor massive Herausforderungen gestellt. Die Entwicklung ihrer Einwohnerzahlen war weitgehend bestimmt von starken Arbeitsplatzverlusten in der Landwirtschaft und in den regionalen Industrien, verbunden mit neu entstandenen beruflichen Alternativen in Westdeutschland. Zum Teil als Fortsetzung eines bereits weit in die DDR zurückreichenden Einwohnerrückgangs kam es in den 1990er und frühen 2010er Jahren in den ostdeutschen Untersuchungsdörfern zu deutlichen Einwohnerverlusten durch Abwanderung. Im Nachhall dieser Entwicklung haben beispielsweise die beiden Untersuchungsgemeinden Glasow und Krackow im Landkreis Vorpommern-Greifswald 2013 im Vergleich zu 1990 44 beziehungsweise 28 Prozent ihrer Einwohner verloren. Dies sind die höchsten Verluste innerhalb der ostdeutschen Untersuchungsorte. Zuzüge, in den Fällen von Glasow und Krackow in erster Linie auch aus dem nahen Polen, und eine sich stabilisierende wirtschaftliche Entwicklung sind erste Anzeichen für eine beginnende Konsolidierung der Einwohnerzahlen.

Langfristig betrachtet, sind die wiederkehrenden Befürchtungen um eine Entleerung ländlicher Räume weder für die west- noch die ostdeutschen Untersuchungsdörfer eingetreten. Alle Untersuchungsdörfer verzeichnen, deutlich beeinflusst auch durch kommunalpolitische Entscheidungen, sowohl Zu- als auch Fortzüge. Die jeweilige Größenordnung entscheidet über das Vorzeichen der Einwohnerentwicklung. Eine oft vermutete besondere Abwanderungsbereitschaft eines Großteils der erwachsenen Wohnbevölkerung und mehr noch von Jugendlichen ist in den Untersuchungsorten nicht nachzuweisen. Zwar haben 25 Prozent der in der Studie befragten erwachsenen Einwohner schon einmal über Wegzug nachgedacht, und bei etwa der Hälfte spielten solche Überlegungen auch zum Zeitpunkt der Befragung im Frühjahr 2013 eine Rolle. Solche Überlegungen werden aber weitaus stärker als in allen anderen Untersuchungsorten von Menschen aus den wachsenden und durch dynamische Wanderungsprozesse geprägten, großen und stadtnahen Untersuchungsorten Elliehausen und Kusterdingen angestellt. Hauptursache für solche Überlegungen sind eigene berufliche Entwicklungsvorstellungen. In der Momentaufnahme der Untersuchung 2012 zeichnet sich das Untersuchungsfeld sowohl durch Untersuchungsorte mit wachsender oder stabiler Bevölkerung als auch Bevölkerungsabnahme aus.

Heterogenität der Lebensverhältnisse

Die Entwicklung der Untersuchungsdörfer seit 1952 folgte keineswegs einem im Zeitverlauf regional identischen Muster. Immer eingebettet in jeweilige regionale Kontexte ging die Entwicklung der Untersuchungsdörfer auf örtliche Akteure zurück, die nicht immer frei von Rückschlägen die Möglichkeiten der Umgebung und staatliche Fördermaßnahmen in je spezifischer Art und Weise nutzten. Im Zuge dieser Prozesse haben auch die "Rückstandsdörfer" aus der ersten Untersuchung von 1952 diese Situation längst überwunden.

Die Untersuchungsdörfer sind auch heute nach Größe und Struktur sehr unterschiedlich. Sie hatten 2013 zwischen 160 (Glasow) und 3.750 (Falkenberg) Einwohner. Sie sind Ortsteile in Gemeinden, selbst Gemeinden oder im Fall des ursprünglich als stadtnah ausgewählten Untersuchungsdorfs Elliehausen ein Ortsteil der Großstadt Göttingen (116.891 Einwohner).

Das wirtschaftliche Rückgrat dieser Orte sind Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe und in Dienstleistungsunternehmen. Dieser Sachverhalt demonstriert den tief greifenden Wandel, den die einst kleinbäuerlichen Dörfer durchlaufen haben. Damit einher geht der deutliche Rückgang der landwirtschaftlichen Betriebe in einem Großteil der westdeutschen Untersuchungsdörfer. Der agrarstrukturelle Wandel in dem Untersuchungsort Westrup (557 Einwohner) steht beispielhaft für diese Entwicklung. 1952 hatte der Ort 119 landwirtschaftliche Betriebe. Gegenwärtig sind noch neun landwirtschaftliche Betriebe dort ansässig, davon sind vier Haupterwerbsbetriebe. Als Arbeitsplatz für die Dorfbevölkerung ist die Landwirtschaft in solchen Untersuchungsorten nur noch von untergeordneter Bedeutung.

Von dem gängigen Bild des Agrarstrukturwandels mit einer Reduzierung auf einige wenige landwirtschaftliche Betriebe weicht die Entwicklung des Weinbaudorfs Bischoffingen deutlich ab. Der Weinbau prägt nicht nur das Image des Ortes und der Region Kaiserstuhl nachhaltig. Eine große Zahl von Weinbaubetrieben, teilweise mit eigener Kellerei und Vermarktung, und die Winzergenossenschaft sind für Bischoffingen auch aktuell ein wichtiger Arbeits- und Wirtschaftsbereich, in dem auch viele Saisonarbeitskräfte beschäftigt werden. In den ostdeutschen Untersuchungsorten stellen Großbetriebe, die aus den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) hervorgegangen sind, ein nicht unerhebliches wirtschaftliches Potenzial dar.

Ein großer Teil der Einwohner der Untersuchungsdörfer pendelt zur Arbeit aus. Insgesamt sind die Pendelentfernungen der Berufstätigen gering und keineswegs ausschließlich auf Metropolen oder Großstädte ausgerichtet. 80 Prozent der Befragten erreichen ihre Arbeitsplätze in einer Fahrzeit von weniger als 30 Minuten.

Gleichzeitig aber sind die Dörfer vielfach selbst in nicht unerheblichem Maß Sitz von Unternehmen des produzierenden Gewerbes und im Dienstleitungssektor. Dieser Sachverhalt gilt nicht nur für Untersuchungsorte mit einer besonderen Lagegunst, wie beispielsweise Kusterdingen (3.523 Einwohner und Lage zwischen der Universitätsstadt Tübingen und der industriell geprägten Großstadt Reutlingen), das auf eine weit zurückgehende Industrietradition blicken kann. Unternehmen finden sich in allen Untersuchungsorten, auch wenn sie nicht immer über solche Lagevorteile verfügen. In der niederbayrischen Gemeinde Falkenberg (3.750 Einwohner, die in 106 kleinen Orten und Weilern leben) liegt der aus einem Handwerksbetrieb hervorgegangene Sitz einer heute weltweit operierenden Holding.

Im Zuge solcher Gewerbeentwicklungen sind die Untersuchungsorte auch Ziel von Einpendlern. In der Eifel-Gemeinde Spessart (749 Einwohner) sind beispielsweise 112 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte tätig, davon pendeln 89 ein, und 283 Beschäftigte pendeln aus Spessart aus. Auch ostdeutsche Untersuchungsdörfer verzeichnen ähnliche Entwicklungen, wie das Beispiel der Gemeinde Finneland (1.126 Einwohner) im Süden Sachsen-Anhalts zeigt. In der Gemeinde tätig sind 169 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte, von denen 110 in die Gemeinde einpendeln, während 458 Einwohner zu sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen auspendeln. Zu dem insgesamt positiven Bild hat die seit Jahren anhaltende wirtschaftliche Hochkonjunktur in allen ländlichen Räumen beigetragen.

Die Untersuchungsorte verfügen über sehr unterschiedliche Infrastrukturangebote. Die mitunter großen Unterschiede relativieren sich aber unter Einbezug der zum Teil direkt anschließenden Nachbarorte deutlich. In 9 der 14 Untersuchungsorte sind allgemeinärztliche Praxen ansässig. Im Untersuchungsdorf Bischoffingen hat sich im 60-jährigen Untersuchungszeitraum eine private Klinik entwickelt, die heute mit 75 Betten zu einem internationalen Krankenhauskonzern gehört. Der politisch geförderte Breitbandausbau steht in den letzten Untersuchungsorten vor dem Abschluss.

Die Existenz unterschiedlicher Lebensverhältnisse in den Untersuchungsdörfern war bereits 1952 konstitutiv für die erste Untersuchungsfolge. Im Zuge der Entwicklung hat die im deutlichen Gegensatz zu einfachen und einheitlichen Bildern des "Ländlichen" stehende Heterogenität der Lebensverhältnisse deutlich zugenommen: In der Gegenwart lassen unterschiedliche berufliche Tätigkeiten in verschiedenen Arbeitsorten und zu unterschiedlichen Arbeitszeiten, unterschiedliche familiäre Verpflichtungen und Freizeitinteressen hoch individuelle Alltagspraktiken der Bewohner entstehen. Die Automobilität ist dabei für die meisten Einwohner eine unabdingbare, zentrale Voraussetzung, um diese unterschiedlichen Anforderungen in Einklang zu bringen. Dementsprechend wird auch die dörfliche Infrastruktur höchst unterschiedlich genutzt und stellt lediglich ein Angebot dar.

Im Ergebnis weist das Forschungsprojekt "Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952, 1972, 1993 und 2012" heterogene Entwicklungsprozesse zwischen den und in den Untersuchungsorten nach, die sich vereinfachenden Schematisierungen entziehen. So unterschiedlich Untersuchungsorte, Lebensabschnitte ihrer Einwohner, ihre beruflichen Tätigkeiten, ihre individuelle Gestaltung des Alltags auch sind, die weit überwiegende Mehrheit der Einwohner in jedem der Untersuchungsorte, nicht nur bei den Erwachsenen, sondern auch bei den Kinder und Jugendlichen, lebt gerne in ihren Wohnorten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Jahresangaben im Projekttitel stehen für die vier bisherigen Untersuchungsfolgen.

  2. Die Ergebnisse wurden im Herbst 2015 im Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) präsentiert und stehen unter Externer Link: http://www.thuenen.de/index.php?id=1798&L=0 und Externer Link: http://www.thuenen.de/media/ti-themenfelder/Laendliche_Lebensverhaeltnisse/
    Laendliche_Lebensverhaeltnisse_im_Wandel/BMEL_Dorfstudie.pdf
    zur Verfügung.

  3. Vgl. Heinrich Becker, Dörfer heute, Bonn 1997, S. 31 f.

  4. Für die Untersuchung 1952 wurde "Kleinbauer" annähernd definiert als Inhaber eines Betriebes mit einer Bodenfläche von 2 bis 7,5 Hektar. Vgl. Heinrich Niehaus, Lage und Aussichten der Kleinbauern in der gegenwärtigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in: Forschungsgesellschaft für Agrarpolitik und Agrarsoziologie, Lebensverhältnisse in Kleinbäuerlichen Dörfern. Berichte über Landwirtschaft, Hamburg–Berlin 1954, S. 40–59, hier S. 41.

  5. Im Anerbenrecht wurden bzw. werden landwirtschaftliche Familienbetriebe im Erbgang geschlossen an einen Erben zur Fortführung übertragen, in der Realteilung wird der Betrieb und insbesondere das Land unter den Erben gleich aufgeteilt.

  6. Vgl. Becker (Anm. 3), S. 14.

  7. Vgl. Emil Woermann, Aussprache, in: Forschungsgesellschaft für Agrarpolitik und Agrarsoziologie (Anm. 4), S. 60–63, hier S. 63.

  8. Vgl. Forschungsgesellschaft für Agrarpolitik e. V., Lebensverhältnisse in kleinbäuerlichen Dörfern 1952 und 1972, Bonn 1975, S. 19.

  9. Vgl. Becker (Anm. 3), S. 17.

  10. Die ursprünglichen Orte bleiben im Datenmaterial identifizierbar. Vgl. BMEL, Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952, 1972, 1993 und 2012, Berlin 2015, S. 12.

  11. Diesem Zweck dienten 2012 beispielsweise 3177 standardisierte Befragungen mit zufällig ausgewählten Einwohnern und knapp 400 offene, "qualitative" Gespräche. Vgl. ebd., S. 13.

  12. Die Auswahl der Fragestellungen und beteiligten Institute erfolgte für die Untersuchungswelle 2012 über eine zweistufige Ausschreibung. Vgl. ebd., S. 10.

  13. Die beteiligten Wissenschaftler und Institute der Untersuchungswelle 2012 waren: Luisa Vogt/Michael Kriszan (Institut für Green Technology und Ländliche Entwicklung der Fachhochschule Südwestfalen); Simone Helmle/Carmen Kuczera/Stefan Burkart (Institut für Sozialwissenschaften des Agrarbereichs der Universität Hohenheim); Andreas Keil/Charlotte Röhner/Ina Jeske/Michael Godau/Jennifer Müller (Fachbereich Bildungs- und Sozialwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal); Stephan Beetz/Anna-Clara Gasch/Alexander Voigt (Fakultät Soziale Arbeit der Hochschule Mittweida); Ralf Nolten/Maria Meinert (Institut für Lebensmittel- und Ressourcenökonomie der Universität Bonn); Michaela Evers-Wölk/Britta Oertel (IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung gemeinnützige GmbH); Heinrich Becker/Claudia Hefner/Gesine Tuitjer (Thünen-Institut für Ländliche Räume).

  14. Der Einfluss der aktuellen Flüchtlingszuwanderung nach Deutschland auf die Einwohnerentwicklung konnte in der Untersuchung nicht berücksichtigt werden, da diese erst zum Ende der Untersuchung (2012–2014) massiv einsetzte.

  15. In Haupterwerbsbetrieben wird das Einkommen zum überwiegenden Teil aus der landwirtschaftlichen Tätigkeit erwirtschaftet. Die übrigen landwirtschaftlichen Betriebe werden zusätzlich zu einem Haupterwerb in anderen Berufen bewirtschaftet.

  16. Politiken zur Förderung ländlicher Räume haben auf die Vielschichtigkeit der entsprechenden Prozesse seit Langem mit differenzierten Angeboten reagiert. Siehe dazu auch den Beitrag von Ulrike Grabski-Kieron in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Heinrich Becker, Gesine Tuitjer für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und der Autoren/-innen teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist promovierter Agrarwissenschaftler und Mitarbeiter i. R. am Thünen-Institut für Ländliche Räume. E-Mail Link: heinrich.becker@thuenen.de

ist Sozialwissenschaftlerin und Mitarbeiterin am Thünen-Institut für Ländliche Räume. E-Mail Link: gesine.tuitjer@thuenen.de