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An der Schwelle zur Macht? | Frankreich | bpb.de

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An der Schwelle zur Macht? Der Front National zwischen Normalisierung und Isolation

Jean-Yves Camus

/ 13 Minuten zu lesen

Ist der Front National, wie seine Protagonisten behaupten, im Begriff, die politische Macht zu übernehmen? Oder wird er weiterhin in der Rolle einer, wenn auch wichtigen, Protestpartei gegen die bürgerliche und liberale Rechte und die sozialdemokratische Linke verharren?

Wer das Amt des französischen Staatspräsidenten die kommenden fünf Jahre innehaben wird, bestimmen die Französinnen und Franzosen am 23. April und 7. Mai 2017. Zum jetzigen Zeitpunkt steht die Liste der Kandidaten noch nicht endgültig fest. Erst Ende Januar 2017 werden die primaires (Vorwahlen) der verschiedenen Lager abgeschlossen sein.

Gleichwohl gibt es zwei Gewissheiten: Zum einen wird für den Front National (FN) Marine Le Pen als Kandidatin antreten. Zum anderen wird sie, wenn sie auch im ersten Wahlgang 26 bis 30 Prozent der Stimmen erhalten dürfte, im zweiten Wahlgang sicher unterliegen. Die zwei wesentlichen Varianten, die das Markt- und Meinungsforschungsinstitut BVA in einer am 21. Oktober 2016 veröffentlichten Umfrage zu den Wahlabsichten der Franzosen durchgespielt hat und die von Nicolas Sarkozy oder Alain Juppé als Kandidat der bürgerlichen Republikaner ausgehen, sind eindeutig: Sarkozy und Juppé würden mit 58 beziehungsweise 68 Prozent der Stimmen gegen Le Pen obsiegen. Die Linke wird es allen aktuellen Prognosen zufolge nicht in den zweiten Wahlgang schaffen.

Bemerkenswert an diesen Vorhersagen ist mit Blick auf den zweiten Wahlgang mithin nicht das Ergebnis, sondern der Stimmenanteil zugunsten des FN. Während der ehemalige Parteivorsitzende Jean-Marie Le Pen im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen 2002 im Rennen gegen Jacques Chirac 17,79 Prozent erzielte, wird seine Tochter beim Aufstieg der Partei offenbar eine weitere Hürde nehmen und die "gläserne Decke" des FN durchbrechen, die seit dem ersten Wahlgang der Regionalwahlen im Dezember 2015 bei 27,73 Prozent der Wählerstimmen liegt.

Es stellt sich also die Frage nach der Zukunft des FN: Ist er, wie seine Protagonisten behaupten, im Begriff, die politische Macht zu übernehmen? Oder wird er weiterhin in der Rolle einer, wenn auch wichtigen, Protestpartei gegen die bürgerliche und liberale Rechte und die sozialdemokratische Linke verharren? Eine Annäherung an diese Frage bedarf zunächst einer kurzen Bestandsaufnahme des von Marine Le Pen 2011 eingeleiteten Prozesses der "Entdämonisierung" der Partei sowie einer soziologischen Verortung der FN-Wählerschaft, um schließlich herauszufiltern, welche Ressourcen der Partei zur Verfügung stehen und welche Hemmnisse ihre Entwicklung weiterhin behindern.

Entdämonisiert?

Als Marine Le Pen 2011 den Parteivorsitz des FN übernahm, bemühte sie sich sofort um eine Kappung der ideologischen Verbindungen ihrer Partei zum historischen Rechtsextremismus, dem der FN seit seiner Gründung 1972 zweifellos zuzurechnen war.

Hierbei handelt es sich nicht um Polemik, sondern um historische Fakten: Der FN war bis zu Beginn der 1980er Jahre ein Konglomerat zahlreicher Splittergruppen, von der antigaullistischen nationalistischen Rechten bis hin zu Neonazis. Davon zeugen etwa die Aktivitäten der Strömung um das maßgeblich von ehemaligen Freiwilligen der Waffen-SS verfasste Blatt "Militant" innerhalb der Partei sowie die Kandidatur mehrerer Funktionäre der dem nationalsozialistischen Spektrum zugehörigen Föderation für Nationale und Europäische Aktion für den FN bei den Parlamentswahlen 1978. Dass all diese rechtsextremen Gruppen in den Reihen des FN vertreten waren, war der Notwendigkeit geschuldet, Mitstreiter und Kandidaten zu finden, um jenes politische Lager wieder aufzubauen, das 1945 durch die épuration (politische Säuberung) und später durch die Marginalisierung der Anhänger einer Algérie française geschwächt war.

Wenngleich die Vergangenheit einiger FN-Kader für Jean-Marie Le Pen kein Problem darstellte – war er doch davon überzeugt, dass es die im Zweiten Weltkrieg zutage getretene Zersplitterung zu überwinden galt –, bedeutete ihre Präsenz nicht, dass er mit seiner Partei einen Zusammenschluss von Zeitzeugen schaffen wollte. Dass der FN von Beginn an und über einen Zeitraum von 40 Jahren auf allen politischen Ebenen zu allen Wahlen angetreten ist, beweist per definitionem den Willen zur Macht.

Zum Zeitpunkt von Jean-Marie Le Pens Rückzug aus der Parteispitze 2011 zählte der FN schon nicht mehr zum politischen Rand, hatte er doch bei der Europawahl 1984 mit zehn Prozent die Sperrklausel übersprungen und bei den Präsidentschaftswahlen 1988 und 1995 rund 14 beziehungsweise 15 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang erhalten. Nun ging es darum, die Partei sowohl in den Augen der Wählerinnen und Wähler als auch in der Wahrnehmung möglicher Koalitionspartner auf nationaler und kommunaler Ebene zu "normalisieren". Dies trieb Marine Le Pen nach ihrer Wahl zur Parteivorsitzenden sogleich voran, beispielsweise durch den Parteiausschluss von Kräften mit einer Doppelmitgliedschaft in neofaschistischen Splittergruppen, den Verzicht auf das provozierende Vokabular ihres Vaters in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg oder das Judentum sowie durch die Glättung von als zu radikal erachteten Formulierungen im Parteiprogramm: "Umkehr des Migrationsstroms" wurde zu "Null Zuwanderung", "nationale Bevorzugung" zu "nationaler Priorität".

Das Ergebnis dieser "Entdämonisierung" ist durchwachsen: Während 73 Prozent der Französinnen und 68 Prozent der Franzosen den FN 2002 als "demokratiegefährdend" einstuften, sind 2016 noch 56 Prozent der Bürgerinnen und Bürger dieser Meinung. 54 Prozent betrachten den FN weiterhin als "eine Partei, die nur dazu bestimmt ist, die Stimmen der Opposition zu versammeln", wohingegen 36 Prozent den FN für "regierungsfähig" halten; diese Zahlen sind seit 2013 weitgehend unverändert geblieben. 63 Prozent der Befragten sagen von sich, dass sie "mit den vom FN vertretenen Ideen nicht übereinstimmen", während 31 Prozent "einverstanden" oder "eher einverstanden" sind. Der FN bleibt mithin eine Partei, die spaltet. Sein radikales Image scheint er nicht vollständig abgestreift zu haben.

Dabei ist der FN nach den Maßstäben des Historikers und Faschismusforschers Emilio Gentile nicht dem (neo)faschistischen Spektrum zuzuordnen: Weder handelt es sich beim FN um eine Miliz, noch zielt er auf die Einführung eines staatlichen Korporatismus und verfolgt er nach außen gerichtete Eroberungspläne; er will weniger eine "neue Ordnung" schaffen, als vielmehr zu einer mystifizierten Vergangenheit zurückkehren; ferner fehlt ihm die revolutionäre Dimension, einen "neuen Menschen" schaffen zu wollen.

Auch hat sich der FN keinem totalitären Projekt verschrieben, wie Gentile es definiert: Er fordert kein "Experiment politischer Herrschaft, das von einer revolutionären Bewegung umgesetzt und von einer Partei mit militärischer Disziplin organisiert wird". Vor dem Hintergrund, dass der Totalitarismus "sich durch ein integralistisches Verständnis von Politik auszeichnet und ein Machtmonopol anstrebt", und die Partei, "nachdem [sie] dieses auf legalem oder illegalem Wege erreicht hat, darauf zielt, die vorherige Regierungsform zu zerstören oder umzuwandeln und einen neuen Staat zu errichten, beruhend auf der Herrschaft einer einzigen Partei", ist derzeit schwer zu sagen, wie ein Staat aussehen und funktionieren würde, in dem der FN die Exekutive und/oder die Legislative kontrolliert. Über diesen Staat wissen wir nur eines: Er muss "stark" sein. Aus dem Parteiprogramm des FN ist zu schließen, dass Frankreich eine Republik bliebe, deren Verfassung ihren Vorrang vor internationalen – auch europäischen – Verträgen wiedererlangen würde. Die Volksherrschaft wird darin als "heiliges Gut" bekräftigt, und es gelte, insbesondere durch den Rückgriff auf Referenden eine "echte Demokratie" wiederherzustellen.

Dieser letzte Punkt ist zentral. Denn die Aufwertung der direkten Demokratie, die das Versagen des repräsentativen Systems ausgleichen soll, ist neben der Ablehnung der multikulturellen Gesellschaft und der Überbetonung einer mystifizierten nationalen Identität eines der Charakteristika des sogenannten Nationalpopulismus, wie ihn der Politikwissenschaftler Pierre-André Taguieff bereits Mitte der 1980er Jahre beschrieben hat.

In der Tat steht der FN für einen identitären Populismus, der sich antiparlamentarischer Allgemeinplätze bedient, indem er den "gesunden Menschenverstand" des als organische Einheit definierten Volkes der vermeintlichen Fehlentwicklung der Eliten entgegenstellt, die die Demokratie in Beschlag genommen hätten. Das Konzept des Rassismus, das eine Rangordnung der ethnischen Gruppen begründet, wird ersetzt durch einen anderen Gegensatz: jener zwischen "uns", den "Urfranzosen", die allein die historische Legitimation besitzen, sich auf französischem Boden aufzuhalten, und "ihnen", den Immigranten und Ausländern im Allgemeinen. Diese können allenfalls die französische Staatsbürgerschaft erlangen, wenn sie kulturell europäisch geprägt sind und sich assimilieren, was im Falle einer außereuropäischen Herkunft jedoch selbst durch einen Willensakt nicht gelingen kann. Hinzu kommen der ausgeprägte Souveränismus des FN, der sich im Bestreben äußert, Frankreich aus der Europäischen Union herauszuführen, um insbesondere die Kontrolle über die Staatsfinanzen und die Außenpolitik wiederzuerlangen, sodass das Konzept des Nationalpopulismus die Identität des FN heute am besten beschreibt.

Wer wählt FN?

Angesichts der jüngsten Wahlerfolge des FN ist immer wieder die Rede vom Entstehen eines neuen Tripartismus in Frankreich, mit drei großen politischen Blöcken mit jeweils rund 30 Prozent, die um die Linke, die "klassische" bürgerliche und die extreme Rechte angeordnet seien. Dem Soziologen Michel Wieviorka zufolge handelt es sich dabei um einen Übergangszustand, um ein Zeichen für die fortschreitende Auflösung des politischen Systems in Frankreich, um den Anfang einer Um- beziehungsweise Neuordnung. Diese werde sowohl die in Sozialdemokraten und Sozialliberale gespaltene sozialdemokratische Linke als auch die bürgerliche Rechte betreffen, die ihrerseits geteilt sei in Kräfte, die weiterhin mit den Mitte-Rechts-Parteien kooperieren wollen, und identitäre, populistische Konservative, die ein Bündnis mit dem FN reizen könnte.

Diese vermeintliche Dreiteilung des Parteienspektrums ist jedoch absolut unvollkommen. Denn das politische Gewicht des FN an den Wahlurnen wird im Grunde relativiert durch die Weigerung der beiden wichtigsten konservativen Parteien, die Republikaner und die Union der Demokraten und Unabhängigen, Wahlabsprachen auf kommunaler oder nationaler Ebene auch nur in Erwägung zu ziehen. Wie es der Politikwissenschaftler Piero Ignazi einmal über die Italienische Sozialbewegung sagte, bleibt der FN der "ausgeschlossene Pol" des politischen Systems. Dabei hatten sich die Wählerschaften der Konservativen und des FN nach den Präsidentschaftswahlen 2012 einander angenähert: Im Oktober 2013 wollten 53 Prozent der Sympathisanten der Republikaner, damals noch Union für eine Volksbewegung, Absprachen auf kommunaler Ebene, gegenüber rund 73 Prozent der FN-Anhänger. Zwei Jahre später sind es noch 37 Prozent – ein Hinweis darauf, dass sich die politischen Reihen schließen, je näher die Präsidentschaftswahlen rücken.

Wie setzt sich die Wählerschaft des FN genau zusammen? Die am 6. Dezember 2015 veröffentliche Studie "Régionales 2015: sociologie des électorats et profils des abstentionnistes" des Markt- und Meinungsforschungsinstituts IPSOS zeigt, dass der FN bei den Regionalwahlen 2015 vor allem die unteren Bevölkerungsschichten anzog: So stimmten im ersten Wahlgang 43 Prozent der Arbeiterschaft, 36 Prozent der Angestellten sowie 36 Prozent der Wähler ohne Abitur für den FN. Doch konnte die Partei auch einen großen Teil der Mittelschicht für sich gewinnen: Rund 30 Prozent der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes stimmten für den FN; darüber hinaus konnte er mit einem Stimmenanteil von 35 Prozent bei Selbstständigen und Landwirten die traditionelle Dominanz der Konservativen bei dieser Wählergruppe angreifen. Neu war auch die starke Zustimmung unter leitenden Angestellten (17 Prozent) und Absolventen eines "Bac+2" oder eines höheren Bildungsabschlusses (23 Prozent). Dies erschüttert den seit den 1980er Jahren gleichlautenden Befund einer negativen Korrelation zwischen der Wahlentscheidung für den FN und dem Bildungsabschluss.

Bestimmend für das Wahlverhalten waren die Probleme auf nationaler Ebene: Die FN-Wählerschaft ging überwiegend aus Sorge über die Themen Beschäftigung (18 Prozent), Sicherheit (17 Prozent) und Immigration (15 Prozent) zur Wahl – entsprechend dem nationalpopulistischen Dreiklang unter Jean-Marie Le Pen wie unter seiner Tochter. Steuerfragen beispielsweise, die der nationalliberale Flügel um Marine Le Pens Nichte Marion Maréchal-Le Pen in den Vordergrund rückt, waren nur für rund zehn Prozent der FN-Wählerschaft ausschlaggebend; allgemein zählten Wirtschaftsfragen nur für elf Prozent.

Aufschlussreich ist die IPSOS-Studie auch mit Blick auf die immer wiederkehrende Frage, ob es sich bei der Wahl des FN um ein zustimmendes Votum oder um eine Proteststimme handelt: Unter den befragten FN-Wählern gaben 37 Prozent an, aus Zustimmung zu den Ideen der Partei für den FN gestimmt zu haben. Nur 29 Prozent wollten mit ihrer Stimme gegen die Politik protestieren. Doch entzieht sich diese Frage einer binären Logik, da zugleich 74 Prozent der FN-Wähler von sich sagten, ihr Wahlverhalten solle ihre Ablehnung des Regierungshandelns zum Ausdruck bringen.

Zudem zeigen die Daten, dass sich die Wählerschaft des FN früher herausbildet als die anderer Listen: 47 Prozent der FN-Wählerschaft wussten nach eigenen Angaben von Anfang an, wen sie wählen würden, und 25 Prozent gaben an, sich mehr als einen Monat vor den Regionalwahlen entschieden zu haben. Dies widerlegt die Auffassung, dass die Attentate vom 13. November 2015 in Paris und Saint-Denis der Grund für den Wahlerfolg des FN bei den drei Wochen später stattfindenden Regionalwahlen gewesen seien. Damit stellt sich die Frage, ob die Zustimmung für den FN, die lange Zeit als vorübergehende Erscheinung betrachtet wurde, sich nicht inzwischen derart verfestigt hat, dass eine Rückkehr der FN-Wählerschaft zu den sogenannten republikanischen Parteien unmöglich oder zumindest immer unwahrscheinlicher geworden ist.

Gesellschaftliche Gruppen, bei denen die Zustimmung für eine Rechtsregierung noch höher ausfällt als für den FN, sind insbesondere die der über 65-Jährigen, Katholiken und sozioprofessionell Bessergestellten wie zum Beispiel Wohlhabende, hochrangige Führungskräfte und Firmenchefs. Vor allem letztere begegnen dem Konzept einer Renaissance des Staates als ökonomischer Akteur ausgesprochen zurückhaltend, für das Marine Le Pen unter dem Einfluss des stellvertretenden Parteivorsitzenden Florian Philippot eintritt. Ferner können sie ebenso wie die Senioren der destabilisierenden Vorstellung eines Austritts Frankreichs aus der Europäischen Union und einer Rückkehr zum Franc wenig abgewinnen. Diese beiden Punkte sind vielleicht der entscheidende Hemmschuh für einen wachsenden Erfolg des FN auch bei der Wählerschaft, die zwar bei Themen wie Identität, Sicherheit und Migration durchaus mit dem FN auf einer Wellenlänge sein mag, den großen Sprung ins Ungewisse aber doch ablehnt: 35 Prozent der Franzosen wünschen sich einen sogenannten Frexit, während diese Vorstellung 77 Prozent der FN-Anhänger mobilisiert.

Suche nach Verbündeten

Ob der FN künftig nun sein Rekordergebnis von 27,73 Prozent beim ersten Wahlgang der Regionalwahlen 2015 überholt oder nicht: Er wird weiterhin von der Regierung ausgeschlossen bleiben, solange er keine Verbündete findet. Der seit den 1980er Jahren von den anderen Parteien um den FN gezogene cordon sanitaire (Sperrgürtel) hat Wirkung gezeigt. Folglich muss der FN auf eine tief greifende Neuordnung der gesamten französischen Rechten zählen, um an die Macht zu gelangen. Seiner Hoffnung zufolge könnte ein Teil der Konservativen den cordon sanitaire aufgeben und erwägen, die Partei in eine breite Koalition einzubeziehen.

Ein solches Unterfangen, das eine historische Zäsur markieren würde, kann nur auf zwei Wegen erfolgen: von oben, also durch eine entsprechende Absprache der Führungspersönlichkeiten des rechten Parteienspektrums, oder von unten, auf Druck der Basis.

Mit Blick auf die erste Möglichkeit hat bisher ein einziger konservativer Vorwahlkandidat, der Vorsitzende der kleinen Christlich-Demokratischen Partei, Jean-Frédéric Poisson, seine Absicht offenbart, auf ein Bündnis mit dem FN hinzuarbeiten – übrigens eher mit einer von Marion Maréchal-Le Pen auf nationalliberalem Kurs geführten Partei als mit dem heutigen FN unter Marine Le Pen, der aus seiner Sicht zu etatistisch ausgerichtet ist und sich zu weit von den Werten des sozialkonservativen Katholizismus entfernt hat. Ein Zusammenschluss von oben ist umso unwahrscheinlicher, je stärker der noch zu bestimmende konservative Kandidat für einen Sieg im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen 2017 auf die Stimmen des Mitte-Rechts-Lagers angewiesen sein wird. Denkbar wäre ein solcher Zusammenschluss von oben noch, wenn die Linke eine realistische Chance hätte, die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen. In diesem Fall ließe sich ein derartiger Schritt als notwendige Vereinigung aller rechten Kräfte rechtfertigen, um eine sozialistische Regierung zu verhindern. Doch dieses Szenario wird allen aktuellen Prognosen zufolge wohl kaum eintreten.

Daher wird eine Neuordnung der Rechten wenn überhaupt nur von unten zustande kommen – etwa, wenn Marine Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen wider Erwarten ein schlechtes Wahlergebnis erzielt, sich möglicherweise sogar nicht für den zweiten Wahlgang qualifiziert und ihr politischer Kurs daraufhin so stark infrage gestellt wird, dass es auf dem FN-Parteikongress nach den Wahlen zu einem von Marion Maréchal-Le Pen verkörperten Strategiewechsel kommt, der eine neue Basis für die Zusammenarbeit mit den Konservativen schafft; oder wenn Alain Juppé zum Präsidenten gewählt wird und während seiner Amtszeit einen beträchtlichen Teil seiner Wählerschaft und seiner Partei enttäuscht, weil er bei Fragen der Zuwanderung und der Identität sowie beim politischen Personal eher auf Kontinuität setzt als auf eine Zäsur, und diese weiter nach rechts blickt; oder wenn sich im Falle eines Sieges von Nicolas Sarkozy die Einschätzung seines ehemaligen Beraters Patrick Buisson bestätigt, dass der frühere Präsident zwar einen Bruch mit dem "System" verspreche, aber keinerlei Absicht hege, diesen auch zu vollziehen. Eine Neuordnung wird sich also erst mit den Präsidentschaftswahlen 2022 abzeichnen.

Es besteht allerdings noch eine ganz andere Möglichkeit: Der FN könnte sich als bedeutende politische Kraft mit einem Stimmenanteil zwischen 20 und 30 Prozent halten und in einigen Kommunen den Bürgermeister stellen, ohne aber jemals die Rolle des politischen Unruhestifters ablegen zu können. Es sei denn, der FN kann bei den Parlamentswahlen im Juni 2017 erstmals einen Erfolg zu Lasten der Konservativen erzielen, wie es eine am 22. Juni 2016 veröffentlichte Studie von OpinionWay prognostiziert. Demnach könnte der FN mit 58 bis 64 gewählten Abgeordneten in der Nationalversammlung rechnen – um dann endlich wieder eine Fraktion im Parlament zu bilden und auf den Gesetzgebungsprozess Einfluss zu nehmen.

Übersetzung aus dem Französischen: Nicole Maschler, Berlin.

ist Politik- und Sozialwissenschaftler. Er leitet das Observatoire des radicalités politiques der Fondation Jean Jaurès und ist assoziierter Forscher am Institut des Relations Internationales et Stratégiques in Paris. E-Mail Link: camus@iris-france.org