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Kleine Geschichte der baltischen Staaten | Estland, Lettland, Litauen | bpb.de

Estland, Lettland, Litauen Editorial Was ist und wo liegt das Baltikum? Ein Blick auf die politische Geografie der Ostseeregion Kleine Geschichte der baltischen Staaten Drei Länder, drei Wege in die Demokratie Minderheitenintegration in den baltischen Staaten. Eine Frage der Sprache? Erinnerungsdiskurse und Geschichtspolitik in den baltischen Staaten Die baltischen Staaten und ihr schwieriges Verhältnis zu Russland Baltische Wege aus der Finanzkrise. Musterbeispiele für erfolgreiche Austeritätspolitik?

Kleine Geschichte der baltischen Staaten

Karsten Brüggemann

/ 17 Minuten zu lesen

Ein kompakter Blick in die Geschichte der baltischen Staaten zeigt, dass sich Litauen ganz anders entwickelt hat als Estland und Lettland. Gemeinsam ist ihnen aber im 20. Jahrhundert das Schicksal von Kleinstaaten zwischen Ost und West.

Am Beginn der anhand von Schriftquellen nachvollziehbaren Geschichte steht auch im Falle der baltischen Staaten die Verbreitung des Christentums. So wird die Geschichte Litauens üblicherweise mit dem Hinweis eingeleitet, dass sich der Begriff Litua als Zielregion der katholischen Mission bereits 1009 in den Quedlinburger Annalen findet. Allerdings waren diese frühen Bemühungen erfolglos, galten doch die Litauer bis Ende des 14. Jahrhunderts als "letzte Heiden" Europas. Auch im Falle Livlands – so die mittelalterliche Bezeichnung der heutigen Gebiete Estlands und Lettlands – war die Christianisierung infolge der "baltischen Kreuzzüge" von wesentlicher Bedeutung. Die Gründung der Stadt Riga 1201 durch Bischof Albert, einem Ministerialen der Erzdiözese Bremen, gab den Startschuss für den von Missionaren und Kaufleuten getragenen Kolonialisierungsprozess, an dem neben Deutschen auch Dänen beteiligt waren. Mit dem Schwertbrüderorden, der später in den Deutschen Orden überging, schuf sich die Mission ihre Armee.

Zugleich stand die Region bereits seit dem 11. Jahrhundert in mehr oder weniger engem Kontakt mit der seit Ende des 10. Jahrhunderts christianisierten Kiewer Rus. Die russischen Chroniken zeugen von den engen Verbindungen vor allem mit den Litauern – in Krieg und Frieden. Auch im östlichen Livland führte diese Nachbarschaft bisweilen zu Tributzahlungen an russische Fürsten. Der Niedergang der Rus ab Mitte des 13. Jahrhunderts infolge der Expansion der Mongolen begünstigte die Konsolidierung der Vormacht des Deutschen Ordens in Livland. Zugleich stießen litauische Fürsten nun vermehrt in die slawisch (und damit orthodox) besiedelten Gebiete vor (Karte).

Das Baltikum in den Jahren 1260 und 1721 (© mr-kartographie. Gotha 2017)

Doch bleiben wir zunächst in Livland. Nordestland war während der Kreuzzüge in dänische Hand geraten. 1346 verkaufte Dänemark es an den Orden, den größten Landbesitzer Livlands. Allerdings gab es mit dem Erzbischof von Riga, den weiteren Bischöfen und den Städten Riga, Tartu (zu Deutsch Dorpat) und Tallinn (zu Deutsch Reval) weitere wichtige Machtzentren. Diese Städte mit deutschen Rechtsformen waren wichtige Mitglieder der Hanse, in deren Namen sie den lukrativen Russlandhandel kontrollierten und die Verantwortung für das Hansekontor in Nowgorod trugen. Dadurch wurde der Wohlstand dieser Städte gesichert, die zudem einen kontinuierlichen intellektuellen Austausch mit den Zentren Nord- und Westeuropas pflegten. So wurden sie zu potenziellen Gegenspielern des Ordens.

Interne Konflikte, vor allem aufgrund des Vormachtstrebens des Ordens, blieben nicht aus. Hiervon war vor allem Riga betroffen. Immer wieder wurden Papst und Kaiser als Vermittler eingeschaltet, was von den engen Verbindungen Livlands zu den zentralen Instanzen des mittelalterlichen Europa zeugt. So breitete sich in den Städten die Reformation, die nicht zuletzt die Position des Ordens und der Bischöfe infrage stellte, bereits zu Beginn der 1520er Jahre aus. Das Modell des in Königsberg residierenden Hochmeisters des Deutschen Ordens, Albrecht von Brandenburg-Ansbach, der 1525 evangelischer Herzog Preußens unter polnischer Lehnshoheit wurde, ließ sich kaum auf Livland übertragen, das eine viel sensiblere Machtbalance aufwies. Der livländische Ordensmeister Wolter von Plettenberg blieb Katholik, tolerierte aber den neuen Glauben, der in den Städten fest Fuß fasste.

In der Zwischenzeit entwickelte sich Litauen zu einer europäischen Großmacht. Großfürst Mindaugas, der aus Anlass seiner Krönung 1253 die katholische Taufe annahm, sie später jedoch wieder ablegte, gilt als Staatsgründer. Unter Großfürst Gediminas wurde 1321 Kiew erobert, und Vytautas der Große erreichte Ende des 15. Jahrhunderts das Schwarze Meer. Das litauische Heidentum provozierte ständige Konflikte mit dem Deutschen Orden, aber auch die vom Missionsgedanken inspirierten "Litauerreisen" des europäischen Adels, die eigentlich "ritterliche" Kriegszüge waren. Das Versprechen der Taufe ermöglichte aber immer wieder auch Bündnisse mit den christlichen Nachbarn, nicht zuletzt mit dem Orden. 1385 kam es schließlich zur polnisch-litauischen dynastischen Union von Krewo: Großfürst Jogaila bestieg als König Władysław II. Jagiełło den polnischen Thron, um durch den Statusgewinn seine Macht in Litauen abzusichern. Im Gegenzug ließ er sein Land katholisch taufen.

Der vom Moskauer Zaren Iwan IV. entfachte Livländische Krieg von 1558 bis 1582/83 veränderte die Machtbalance der Region. Das mittelalterliche Livland hatte diesem Angriff nichts entgegenzusetzten, es fiel auseinander und suchte sich neue Schutzmächte. Nord-Estland fiel an Schweden, die Insel Saaremaa, zu Deutsch Ösel, an Dänemark. Polen-Litauen, das sich mit der Realunion von Lublin 1569 zu einem Wahlkönigtum gewandelt hatte, sicherte sich Livland und Süd-Estland. Der letzte livländische Ordensmeister Gotthard Kettler begründete als polnischer Lehnsmann das Herzogtum Kurland. In weiteren Kriegen verlor Polen das Livland nördlich der Düna 1629 an Schweden.

In diese Zeit der Kriege fällt die Gründung von Universitäten. Im Zuge der Gegenreformation wurde 1579 ein Jesuitenkolleg in Vilnius, zu Deutsch Wilna, gegründet. Die daraus hervorgegangene Universität wurde zu einem bemerkenswerten kulturellen Zentrum in Polen-Litauen. Solange Livland polnisch war, waren die Jesuiten auch in Tartu und Riga tätig. Kurland und das westliche Livland blieben hingegen protestantisch. Nur im östlichen Teil Livlands, in Lettgallen, das weiterhin polnisch blieb, setzte sich der Katholizismus durch, der dort bis heute dominiert. Insgesamt war die polnisch-litauische Adelsrepublik multikonfessionell. So wurde Vilnius, das "Jerusalem des Nordens", zu einem kulturellen Mittelpunkt des osteuropäischen Judentums.

In Tartu gründete die protestantische Vormacht Schweden 1632 ebenfalls eine Universität. Deren Wirkung blieb zunächst jedoch begrenzt. Allerdings genießt die schwedische Zeit gerade in Hinblick auf die Initiativen in der Bildungspolitik eine hohe Wertschätzung im Geschichtsbild der Esten und Letten. Der Staat schuf im späten 17. Jahrhundert jedoch höchstens die ideologischen Rahmenbedingungen, denn auch die Bauern sollten ja die Bibel verstehen. So entstanden in dieser Zeit erste Bibelübersetzungen ins Lettische und Estnische. Insgesamt waren es aber meist lokale Bemühungen um Armen- oder Bauernschulen, die Früchte trugen, bis sie im Großen Nordischen Krieg von 1700 bis 1721 verebbten.

Dieser Krieg verheerte die gesamte Region, führte zu einem dramatischen Bevölkerungsrückgang und veränderte erneut die Machtverhältnisse. Schweden verlor Est- und Livland, die sich dem russischen Zaren Peter dem Großen unterwarfen (Karte). Die beiden Ostseeprovinzen blieben zunächst jedoch weitgehend autonom unter der Verwaltung der Ritterschaften, denen die Kapitulationen äußerst vorteilhafte Privilegien gewährt hatten, unter anderem in Bezug auf Religion und Sprache.

Im 18. Jahrhundert lähmte sich Polen-Litauen innenpolitisch zusehends durch das Vetorecht im Adelsparlament selbst und geriet außenpolitisch unter den Druck seiner Nachbarn. Im Zuge der Teilungen des Landes 1772, 1791 und 1795 verleibte sich Russland auch Kurland und weite Teile Litauens ein (Karte). Damit waren erstmals die Siedlungsgebiete der Esten, Letten und Litauer nahezu vollständig unter einer Herrschaft vereint, nur einige Litauer lebten weiterhin in Ostpreußen ("Kleinlitauen"). Für die Sankt Petersburger Politik handelte es sich jedoch weiterhin um deutlich voneinander geschiedene Gebiete: Während Est-, Liv- und Kurland als deutsch und protestantisch wahrgenommen wurden, galt in den litauischen Gebieten der polnische und katholische Einfluss als maßgeblich.

Unter dem Zepter der Zaren

Die Esten, Letten und Litauer blieben hinter ihren deutschen und polnischen Herren nahezu unsichtbar. Nur die Litauer hatten im Mittelalter einen Adel ausgebildet, der sich seit dem späten 16. Jahrhundert jedoch zunehmend kulturell polonisiert hatte. Der Verlust des Staates hinterließ bei ihm einen leicht entflammbaren Groll gegenüber Sankt Petersburg. Der aus den Ordensvasallen hervorgegangene deutsche Adel der Ostseeprovinzen Est-, Liv- und Kurland wiederum hatte sich seine lokale Vormachtstellung in den Kapitulationen konfirmieren lassen, weshalb seine grundsätzliche Loyalität bis in den Ersten Weltkrieg hinein vorhielt.

Die Herausbildung der Gutswirtschaft schränkte seit dem 16. Jahrhundert nahezu in der ganzen Region die Rechte der Bauern sukzessive ein. Da im Russischen Reich Leibeigenschaft herrschte, wurde die Situation nach 1710 nicht besser. Gerade in den Ostseeprovinzen stieg die Abgabenlast der Bauern. Erst die mit der Aufklärung auch nach Russland gelangten humanistischen Ideen und die von Adam Smith vertretene Auffassung der Unproduktivität von Sklavenarbeit änderten die Haltung des deutschen Adels den Bauern gegenüber. Unter dem Druck Zar Alexanders I. wurden in den Jahren 1816 bis 1819 die Bauern in Est-, Liv- und Kurland zumindest rechtlich befreit, ohne jedoch Freizügigkeit oder gar eigenes Land zu erhalten. So blieben sie wirtschaftlich zunächst abhängig von den Gutsherren. In zum Gouvernement Wizebsk gehörenden Lettgallen und den litauischen Gebieten des Zarenreiches wurden die Bauern hingegen erst durch die reichsweite Reform 1861 befreit.

Die napoleonischen Kriege suchten vor allem die litauischen Gebiete und Kurland heim; Napoleons verlustreicher Rückzug lief über Vilnius. Nach dem Wiener Kongress 1814/15 sicherte Alexander I. neben dem seit 1809 russischen Großfürstentum Finnland auch dem Königreich Polen – nicht aber Litauen – weitgehende Autonomie zu. Der polnische Drang nach Unabhängigkeit ließ sich dadurch jedoch nicht besänftigen. Ein 1830 ausgebrochener Aufstand fand auch in Litauen breite Unterstützung, doch brachte dessen Niederschlagung auch hier die administrative Stärkung des russischen Elements: Russisch wurde Amtssprache, Russen gelangten in die höchsten Ämter.

1832 wurde die 1803 wieder eröffnete Universität Vilnius geschlossen, da sie als Zentrum des polnischen Einflusses auf Litauen galt. Damit blieb Litauen ohne akademischen kulturellen Mittelpunkt. In den Ostseeprovinzen wiederum übernahm diese Rolle die 1801 gegründete Universität Tartu, die in den folgenden Jahrzehnten dank ihrer Reputation als Vermittlerin deutscher Gelehrsamkeit auch in das Russische Reich ausstrahlte.

In den litauischen Gebieten wurde damals unterbrochen, was sich in den nördlichen Provinzen seit den 1820er Jahren entwickelt hatte: Ein von aufklärerischen und romantischen Idealen inspiriertes Interesse der gebildeten Schichten – hier vor allem der Literati, der Universitätsabsolventen deutscher Herkunft – an lokaler Geschichte und bäuerlichen Traditionen. Zahlreiche gelehrte Gesellschaften beschäftigten sich intensiv mit Sprache und Kultur der Esten und Letten. Der ursprünglich archivarische Ehrgeiz hinter diesem Interesse, schließlich würden sich Esten und Letten früher oder später assimilieren, machte bald einem emanzipatorischen Impetus Platz, zumal sich mit der Zeit auch einige der wenigen estnischen und lettischen Gelehrten anschlossen. Als direktes Ergebnis dieser Zusammenarbeit darf Ende der 1850er Jahre die Schaffung des estnischen Epos "Kalevipoeg" durch Friedrich Reinhold Kreutzwald, einem Gelehrten estnischer Herkunft, gelten.

Zugleich leitete das Aufkommen einer lettischen und estnischen Tagespresse das "nationale Erwachen" ein. Zwar war dies keineswegs ein einheitlicher, linear verlaufender Prozess, wie ihn sich eine nationale Geschichtsschreibung nur allzu gerne vorstellt. Am Ende stand jedoch die unübersehbare Präsenz der Esten und Letten vor allem in kultureller Hinsicht: Neben der Presse entwickelten sich eine eigene Literatur, Musik und Kunst, die mit dem Bau von Theatern und Opernhäusern in den Hauptstädten das zuvor dominierende deutsche Kulturleben flankierten. Die nach deutschem Vorbild 1869 von den Esten und 1873 von den Letten erstmals organisierten nationalen Liederfeste wurden zu einer festen kulturpolitischen Institution, deren Tradition bis heute wachgehalten wird.

Eine Bevölkerungsexplosion führte dazu, dass die Bauern in die Städte zogen. Esten stellten in Tallinn bereits um 1870 mehr als die Hälfte der Einwohnerinnen und Einwohner, und die Letten machten in der baltischen Metropole Riga, die vor dem Ersten Weltkrieg über eine halbe Million Einwohner zählte, mehr als 40 Prozent aus. Die Industrialisierung der Städte, die dieses Wachstum partiell absorbierte, förderte auch die soziale und politische Diversifizierung der Bevölkerung. Zugleich wurden Bauern vermehrt zu Pächtern und Landbesitzern. Als die Esten 1904 in Tallinn erstmals die Lokalwahlen gewannen, war dies ein beunruhigendes Signal für all diejenigen, die an die Unveränderlichkeit der deutschen Dominanz glaubten.

Litauen war 1863/64 erneut in einen polnischen Aufstand gegen Russland verwickelt. Die auf dessen Niederschlagung folgenden Repressionen verhinderten eine ähnliche Entwicklung wie bei Esten und Letten. Das Verbot des Drucks litauischer Bücher in lateinischen Lettern, das bis 1904 in Kraft blieb, sollte zwar in erster Linie den polnischen Einfluss verringern, denn der Druck der Sprache in Kyrilliza blieb erlaubt; doch schwächte es das Potenzial einer kulturellen Renaissance. Dafür entwickelte sich ein umfangreicher Bücherschmuggel aus Kleinlitauen, der zumindest partiell die Bedürfnisse befriedigte. Zeitversetzt gelangte die Idee einer nationalen Wiedergeburt jedoch auch in die litauischen Gebiete. Von einer nahezu vollständigen Alphabetisierung, die unter den protestantischen Esten und Letten die Rezeption der neuen Ideen des Nationalismus und Sozialismus förderte, waren die katholischen Litauer mit knapp 50 Prozent 1897 jedoch weit entfernt.

Die Ostseeprovinzen hatten nie eine vergleichbare Erfahrung mit russischen Repressionen machen müssen. Als sie in den 1840er Jahren von der europaweiten Hungerkrise getroffen wurden, traten gut 100.000 Esten und Letten zum "Zarenglauben" über. Dies kam einer sozialen Revolution gleich, handelte es sich doch dabei um eine Flucht der Bauern aus der weiterhin bestehenden Abhängigkeit von deutschen Gütern und lutherischen Pastoraten. Selbst wenn weder Regierung noch Kirche auf die Konvertiten vorbereitet waren, war dies aus deutscher Sicht der Auftakt einer gezielten "Russifizierung". Russische Eingriffe kulminierten in den 1880er Jahren, als unter dem neuen Zaren Alexander III. neben einigen administrativen Reformen Russisch als Amts- und Unterrichtssprache eingeführt wurde. Zwar wurden weder die Rolle der Lutherischen Kirche noch die Ritterschaften angegriffen, doch verhieß dieser Zentralisierungsdruck aus dem Imperium für viele Deutsche nichts Gutes, zumal an deren traditioneller Dominanz ja nun auch Esten und Letten rührten.

Die russische Revolution von 1905 machte deutlich, wie sehr die sozialen und ethnischen Unterschiede in der Region zu politischen Faktoren geworden waren. Einer Schätzung zufolge wurden 40 Prozent der deutschen Gutshäuser in den Ostseeprovinzen von Letten und Esten beschädigt. In Litauen kam es in erster Linie zu Gewalt gegen Symbole der russischen Zentralmacht. Die Liberalisierung der Gesellschaft nach dem Oktobermanifest von Zar Nikolaus II. führte auch in den Ostseeprovinzen und Litauen zur nun legalen Gründung von Parteien. Somit traten bürgerlich-nationale Parteien neben die illegalen sozialdemokratischen. Auch baltische Abgeordnete aller Nationalitäten partizipierten nun an der Demokratieerfahrung in der Sankt Petersburger Staatsduma.

Nach Beginn des Ersten Weltkrieges verkündeten Esten, Letten und Litauer vor der Duma ihre Loyalität, doch forderten sie als Gegenleistung für ihren Einsatz im Krieg breite Autonomie. Die Deutschen der Ostseeprovinzen wiederum erlebten scharfe Einschnitte in ihren Alltag, nachdem der öffentliche Gebrauch ihrer Muttersprache und ihre Vereine und Druckerzeugnisse verboten worden waren. Zwar kam es hier nicht wie in Moskau zu antideutschen Ausschreitungen, doch wurde ihre traditionelle Loyalität zum Zarenhaus auf eine harte Probe gestellt – gleichwohl dienten zahlreiche deutschbaltische Offiziere in der russischen Armee.

Bereits 1915 wurden Litauen und Kurland von deutschen Truppen besetzt. Hunderttausende flohen in das Innere des Reiches, wo lettische und litauische Hilfskomitees entstanden, die heute als wichtige Schule der Selbstverwaltung angesehen werden. Die Idee der Eigenstaatlichkeit blieb jedoch vor 1917 utopisch. Noch nach dem Sturz des Zaren ging es um nationale Autonomie in einem demokratischen Russland; erst die Machtübernahme der Bolschewiki Anfang November, die sich auch in Tallinn wiederholte – Riga war seit September von den Deutschen besetzt – ließ keine andere Wahl.

Alle drei Völker erklärten sich 1918 für unabhängig: Litauer und Esten im Februar, Letten im November. Als der Weltkrieg beendet war, setzte jedoch die Rote Armee zum Angriff an: Sie sollte die Revolution über die baltischen Staaten nach Europa tragen.

Staatsgründung und Staatsverlust 1918–1940

Von den drei Staaten hatte das erst Anfang 1918 von den Deutschen besetzte Estland noch die günstigsten Startbedingungen. Der Angriff der Roten Armee, der in Riga zu einer bis Mai 1919 währenden sowjetlettischen Regierung führte, konnte bereits im Januar gestoppt werden. Im Mai trat in Tallinn eine demokratisch gewählte Nationalversammlung zusammen, die schon im Dezember ein Grundgesetz verabschiedete. Im Frieden von Tartu wurde im Februar 1920 der Krieg mit Sowjetrussland beendet. Lettland gelang dies im Frieden von Riga im August 1920.

Litauens Bürde war die Vilnius-Frage. Mit ihrer überwiegend polnischen und jüdischen Bevölkerung wurde die historische Hauptstadt zum Zankapfel mit Polen, das von der Wiederherstellung des einstigen Großstaates träumte. Moskau hingegen erkannte in dem im Juli 1920 abgeschlossenen litauisch-sowjetischen Frieden Vilnius als litauische Hauptstadt an. Trotz eines Anfang Oktober vom Völkerbund vermittelten polnisch-litauischen Waffenstillstands marschierten am 9. Oktober polnische Truppen in Vilnius ein. Die litauische Regierung zog sich nach Kaunas zurück. Der diplomatische Konflikt mit Warschau lähmte die litauische Außenpolitik die gesamte Zwischenkriegszeit hindurch. Die litauische Besetzung des Memellandes 1923, das damals französisches Mandatsgebiet war, wurde zwar international als Kompensation für Vilnius hingenommen. Dass Kaunas seine Beziehungen zum Vatikan abbrach, nachdem dieser 1925 die polnische Jurisdiktion über die Diözese Vilnius anerkannt hatte, machte die litauische Isolation deutlich.

Alle drei Staaten gaben sich demokratische Verfassungen; Estland verzichtete gar auf ein Staatsoberhaupt und gab sich einen "Staatsältesten" als Primus inter Pares in der Regierung. Während Estland und Lettland zunächst eher sozialdemokratisch wählten, dominierten im weniger industrialisierten Litauen die Christdemokraten. Die wirtschaftliche Umorientierung auf den europäischen Markt war nicht leicht. Durch zum Teil radikale Agrarreformen war bäuerlicher Kleinbesitz anstelle des Großgrundbesitzes geschaffen worden, der wirtschaftlich gestützt werden musste. Der Fokus auf landwirtschaftliche Qualitätsprodukte machte die drei Staaten jedoch zu Konkurrenten auf dem Markt.

Im Hinblick auf die Etablierung der nationalen Kulturen war die Unabhängigkeitszeit von unschätzbarem Wert: Estnisch, Lettisch und Litauisch wurden zu Sprachen der Bildung und der nationalen Politik. Ein eigenständiges Kulturleben entwickelte sich und fand internationale Anerkennung. Estland schrieb mit dem 1925 verabschiedeten Gesetz über die Kulturautonomie der Minderheiten Geschichte, da es jenen unter anderem ermöglichte, ein Schulwesen aus eigenen Mitteln aufzubauen.

Der antidemokratische Trend in Europa machte jedoch auch vor den baltischen Staaten nicht Halt. In Litauen kam es bereits 1926 nach einem Linksruck bei den Parlamentswahlen zu einem nationalistischen Putsch. In Estland und Lettland geschah dies erst 1934 und hing zumindest mittelbar mit den Folgen der Weltwirtschaftskrise zusammen. Die autoritären Regime, die in den drei Staaten errichtet wurden, waren keine totalitären Diktaturen, bedeuteten jedoch das Ende des Parlamentarismus und der bürgerlichen Freiheiten. Mit propagierter innenpolitischer Geschlossenheit wurde aber nur die außenpolitische Schwäche kaschiert.

Als sich die ideologischen Antipoden Hitler und Stalin im Herbst 1939 verbündeten, war das Schicksal der drei Staaten besiegelt, die nun zur "Interessenssphäre" des Kremls zählten. Ende September erpresste Moskau von Tallinn und Riga ultimativ die Erlaubnis zur Stationierung von Einheiten der Roten Armee (25.000 beziehungsweise 30.000 Mann). Den Litauern wurde für die Aufstellung von 20.000 Rotarmisten Vilnius überlassen, das den Sowjets im Zuge ihres Einmarsches in Ostpolen im September 1939 in die Hände gefallen war. Als Hitler im Juni 1940 in Paris einmarschierte, vollzog der Kreml die Annexion der drei Staaten. Flankiert von 400.000 einsatzbereiten Rotarmisten wurde ultimativ die Installation von moskaufreundlichen Regierungen verlangt. Sowjetische Emissäre inszenierten eine "sozialistische Revolution" in den Hauptstädten. Im Juli fanden Pseudowahlen statt, durch die sich die lokalen Kommunisten – in Estland gab es nur 140 – legitimieren ließen. Anfang August traten drei neue Republiken der UdSSR bei.

Sowjetisches Baltikum

Sofort begann der Kreml, die alten gesellschaftlichen Strukturen zu zerstören. Zahlreiche Personen aus Politik, Militär und Wirtschaft wurden ermordet, Privatbesitz enteignet und die Medien auf den Stalinkult ausgerichtet. Der Terror erreichte am 14. Juni 1941 seinen Höhepunkt, als in lange vorbereiteten Massendeportationen von meist urbanen Eliten 10.000 "Volksfeinde" aus Estland, gut 15.000 aus Lettland und 18.000 aus Litauen, darunter bis zu einem Drittel Kinder, in Arbeitsbataillone beziehungsweise nach Sibirien verbracht wurden. Ihre Überlebenschancen verschlechterten sich auch dadurch, dass sich das Land seit dem 22. Juni im Krieg mit NS-Deutschland befand.

Die Wehrmacht wurde angesichts des "schrecklichen" Jahres 1940/41 bei ihrem Einmarsch mancherorts als Befreier begrüßt. Bis Ende August 1941 war das Gebiet der drei Sowjetrepubliken besetzt. Zu den ersten Opfern gehörte die baltische Judenheit, die bis Ende 1941 großenteils ermordet wurde. Insgesamt geht man bis 1944 von 200.000 jüdischen Opfern in Litauen, 66.000 in Lettland und 950 in Estland aus. Dass 95 Prozent der litauischen Juden, in Estland hingegen ein Viertel getötet wurden, hing vom Vormarschtempo der Wehrmacht ab. Im Laufe des Krieges fanden zudem Zehntausende mittel- und westeuropäische Juden auf baltischem Boden den Tod.

Die Hoffnung der Baltinnen und Balten auf die Restitution ihrer Unabhängigkeit erfüllte sich nicht. Ihre Länder wurden für den Krieg ausgeschlachtet und sie selbst für den Kriegseinsatz mobilisiert – wenn auch zunächst nicht an der Waffe. Erst ab 1943 wurden sie auch in Einheiten der Waffen-SS eingezogen ("Nichtgermanen" durften nicht in der Wehrmacht kämpfen). Erste Werbekampagnen hatten jedoch wenig Erfolg. Erst 1944, als die Rote Armee die Grenzen überschritt, erhielten die deutschen Verbände größeren Zulauf. Insgesamt kämpften gut 50.000 Esten und über 100.000 Letten in der Waffen-SS, oft genug gegen ihre Landsleute, die 1941 in die Rote Armee zwangsmobilisiert worden waren. Die Rekrutierung von Litauern gaben die Deutschen indes bereits 1943 auf, nachdem der nationale Widerstand dort zum Boykott aufgerufen hatte.

Bis September 1944 wurden die baltischen Hauptstädte von der Roten Armee wieder eingenommen. Während der "Großen Flucht" gelangten Hunderttausende über die Ostsee oder den Landweg nach Westen. Die Länder hatten zudem auch ihre nationalen Minderheiten verloren: Die Juden, Russen, Polen und Roma waren vernichtet, die Deutschen 1939/40 umgesiedelt und die Estlandschweden repatriiert worden. Kaum je in ihrer Geschichte waren die baltischen Staaten ethnisch so homogen wie zu diesem Zeitpunkt. Wer in der Heimat geblieben war, geriet jedoch im Stalinismus von vorneherein unter den Verdacht der Kollaboration.

Nach der Rückeroberung setzte sich der Prozess der Sowjetisierung fort. Der bewaffnete Widerstand der "Waldbrüder" währte vor allem in Litauen bis in die frühen 1950er Jahre. Da die Sowjetmacht auf dem Lande schwach war, schon weil es an sprachkundigen Kadern fehlte, wurde die Kollektivierung der Landwirtschaft erst ab 1947 forciert. Zu deren Unterstützung kam es im März 1949 zu einer zweiten Massendeportation, von der 21.000 Menschen aus der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik (SSR), 42.000 aus der Lettischen SSR und 33.000 aus der Litauischen SSR erfasst wurden. Ende des Jahres war die Kollektivierung in Estland und Lettland nahezu abgeschlossen – nach weiteren Deportationen 1952 auch in Litauen.

Beim Tod Stalins 1953 waren die drei Republiken befriedet, aber kaum loyal. Unter Nikita Chruschtschow, bis 1964 Vorsitzender der KPdSU, kehrten die Deportierten aus dem Gulag zurück, und es kam zu einer weitgehenden Entspannung. Wohnungsbauprogramme und Investitionen in die Konsumgüterindustrie führten zu einem bescheidenen Anstieg des Lebensstandards, es entstanden auch mehr Freiräume für die nationalen Kulturen. Der "Eiserne Vorhang" wurde durchlässiger, sowohl für Touristen und Schmuggelgut als auch für westliche Radiostationen beziehungsweise in Nordestland das finnische Fernsehen.

In den 1970er Jahren hatten sich Esten, Letten und Litauer so gut es ging eingerichtet. Der Protest auf der Alltagsebene, zum Beispiel das Zeigen der nationalen Farben, erreichte keine regimegefährdenden Dimensionen. Politischer Protest blieb die Ausnahme: 1979 wandte sich ein kleines interbaltisches Netzwerk aus Anlass des 40. Jahrestages des Hitler-Stalin-Paktes an die Vereinten Nationen; es wurde bald darauf vom KGB zerschlagen.

Besorgniserregend war der Zustrom von Bürgerinnen und Bürgern aus dem Inneren der UdSSR vor allem in die industrialisierten Regionen der Estnischen und der Lettischen SSR, wodurch der Anteil der Titularbevölkerungen bis 1989 auf gut 61 beziehungsweise 52 Prozent sank. Auf lange Sicht drohte daher der Verlust des Republikstatus, der der eigenen Sprache und Kultur einen gewissen Schutz garantierte. Demgegenüber konnte in Litauen der Arbeitskräftebedarf der Industrialisierung durch die eigene Bevölkerung gedeckt werden; bis 1989 blieb der Anteil der Litauer in ihrer Republik bei knapp 80 Prozent.

Unter Michail Gorbatschow als KPdSU-Chef änderte sich ab 1985 das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie. Nun begannen baltische Aktivisten, den Kreml mit ihrer eigenen Agenda zu konfrontieren. 1987 konnten durch öffentliche Proteste gigantische Industrieprojekte in Estland und Lettland verhindert werden. Bald schon gingen die Teilnehmerzahlen bei Demonstrationen zu bestimmten historischen Daten (Staatsgründung, Hitler-Stalin-Pakt, Deportationen) in die Tausende. Die von Estland ausgehende "Singende Revolution" brachte 1988 Hunderttausende zum Singen von Protest- und patriotischen Liedern zusammen, wodurch ganz generell die Furcht überwunden wurde.

Um die Kritik politisch zu kanalisieren, gründeten sich 1988 nach estnischem Vorbild Volksfronten, die aus dem Stand lokale Wahlen gewannen und damit das politische Monopol der kommunistischen Parteien brachen. Estland preschte Ende 1988 vor und erklärte sich für souverän: Republikrecht stand nun über Unionsrecht. Da Moskau dies als Provokation ansah, blieb es für die folgenden fast drei Jahre beim politischen Patt. Während der Ostblock auseinanderfiel und Deutschland zusammenfand, war für Gorbatschow jegliche Änderung am innersowjetischen Status quo tabu. Um den Generalsekretär zu stützen, blieb eine offizielle westliche Unterstützung für die baltischen Staaten selbst nach der "Baltischen Kette" aus, als am 23. August 1989 aus Anlass des 50. Jahrestages des Hitler-Stalin-Paktes eine Menschenkette Tallinn mit Riga und Vilnius verband. Als Litauen sich im März 1990 für unabhängig erklärte, reagierte der Kreml mit einer Wirtschaftsblockade. Die nun lancierte Idee eines neuen Unionsvertrags wurde von den drei Republiken abgelehnt.

Erst blutige Auseinandersetzungen auf den Straßen von Vilnius und Riga im Januar 1991, als sowjetische Einheiten die Telekommunikationszentren und Regierungsgebäude stürmten, ließen die westliche Strategie bröckeln. Die Entscheidung musste aber in Moskau fallen. So bot erst der Putsch in Moskau im August 1991 den drei Republiken die Chance für den Absprung. Die internationale Anerkennung der Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens folgte nun auf dem Fuß. Da zahlreiche Staaten, allen voran die USA, die Annexion durch die UdSSR nie anerkannt hatten, handelte es sich dabei um die Wiederherstellung diplomatischer Beziehungen. Zu Recht haben sich daher baltische Diplomaten Anfang 2017 öffentlich dagegen ausgesprochen, dass die drei baltischen Staaten in deutschen Medien als Nachfolgestaaten der UdSSR bezeichnet werden, da sie dieser nie freiwillig beigetreten seien. Andererseits waren sie faktisch natürlich Teil der Sowjetunion – und haben trotz dieses Erbes nur 13 Jahre gebraucht, um von NATO und EU aufgenommen zu werden. Dieser rasche Erfolg war 1991 keineswegs abzusehen.

ist Professor für Estnische und Allgemeine Geschichte an der Universität Tallinn sowie zweiter Vorsitzender der Baltischen Historischen Kommission. E-Mail Link: karsten.bruggemann@tlu.ee