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Die Gülen-Bewegung. Entstehung und Entwicklung eines muslimischen Netzwerks | Türkei | bpb.de

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Die Gülen-Bewegung. Entstehung und Entwicklung eines muslimischen Netzwerks

Kristina Dohrn

/ 16 Minuten zu lesen

Die Allianz zwischen der AKP und Gülen-Bewegung war eine der bedeutendsten und einflussreichsten der jüngeren türkischen Geschichte. Der gescheiterte Militärputsch hat dem gesellschaftlichen Wirken der Bewegung in der Türkei nunmehr ein Ende gesetzt.

Wohl kaum eine Person ist in der Türkei so umstritten wie Fethullah Gülen, ein muslimischer Prediger und als solcher charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war. Von seinen Anhängerinnen und Anhängern respektvoll hocaefendi (verehrter Lehrer) genannt, von seinen Gegnern als Bedrohung der staatlichen Ordnung der Republik Türkei bezeichnet, inspiriert Gülen eine Vielzahl an Personen, die danach streben, seine Ideen in rund 160 Ländern in den Bereichen Bildung, Medien, Wirtschaft und Wohltätigkeit umzusetzen.

Dieses globale Netzwerk, das als Gülen-Bewegung oder hizmet (Dienst) bezeichnet wird, prägt sowohl die Türkei und ihre transnationalen Beziehungen als auch die Bildungslandschaften zahlreicher anderer Länder. Gleichzeitig könnte die Bewegung unterschiedlicher nicht bewertet werden: In Publikationen seiner Sympathisanten wird Gülen als leidenschaftlicher Befürworter des interreligiösen und interkulturellen Austauschs dargestellt. Die von ihm ausgehende Bewegung wird dabei häufig als eine lose und unkoordinierte Gruppe von Freiwilligen präsentiert, die sich weltweit für Dialog und Toleranz engagiert. Kritiker beschreiben Gülen hingegen als islamistischen Ideologen, der über ein strikt organisiertes Wirtschafts- und Medienimperium regiert und dessen Bewegung den Sturz der säkularen Ordnung der Türkei anstrebt.

Seit Jahrzehnten bietet die Gülen-Bewegung ihren Anhängerinnen und Anhängern eine feste Verankerung in muslimischer Frömmigkeit sowie soziale und ökonomische Mobilität. Sie entwickelte sich in den 1980er Jahren zu einer der einflussreichsten muslimischen Bewegungen der Türkei. In der konservativen Demokratie der seit 2002 regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) spielte die Gülen-Bewegung eine zentrale Rolle im Machtkampf zwischen neuen muslimisch-konservativen und den alten kemalistischen Eliten: In der Bewegung fließen muslimische Frömmigkeit und Nationalismus, sozialer Konservatismus und globaler ökonomischer Einfluss zusammen. Die Allianz zwischen der AKP Recep Tayyip Erdoğans und der Gülen-Bewegung begann 2013 zu bröckeln, und es entfaltete sich ein politischer und sozialer Machtkampf. Insbesondere seit dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli 2016, für den die AKP-Regierung Fethullah Gülen und die Gülen-Bewegung verantwortlich macht, wurden zahlreiche Gülen-nahe Institutionen in der Türkei geschlossen. Anhängerinnen und Anhänger sehen sich seither mit einer regelrechten Hetzjagd konfrontiert.

Die politische Situation beeinflusst auch die Bundesrepublik Deutschland, das Land, in dem nach der Türkei die meisten Türkinnen und Türken leben. Der türkische Staat versucht sein Ziel, der Gülen-Bewegung ein Ende zu setzen, auch hierzulande voranzutreiben, und die türkische Community ist gespalten: Eltern melden ihre Kinder von Schulen ab, die von Gülen inspiriert sind, und es wird zum Boykott von Geschäften aufgerufen, deren Besitzer sich zu Gülens Anhängerschaft zählen. Die politisch aufgeladene Situation sowie widersprüchliche mediale Berichterstattungen und Bilder machen eine nuancierte Auseinandersetzung mit den Ursprüngen der Bewegung, ihrer Entwicklung, Organisationsstruktur sowie mit dem Konflikt zwischen der Gülen-Bewegung und der AKP erforderlich.

Fethullah Gülen und die Entstehung der Gülen-Bewegung

Fethullah Gülen wurde 1941 in der ostanatolischen Provinz Erzurum geboren. Sein religiöses Wirken nahm in den 1960er Jahren seinen Anfang, als er sein Amt als staatlicher Imam und Prediger des türkischen Präsidiums für Religionsangelegenheiten und später als Lehrer einer Koranschule in der westtürkischen Stadt Edirne antrat. In einem ihm befremdlichen republikanisch-laizistischen Umfeld begann Gülen neben seinen Predigten in der lokalen Moschee islamische Ideen und Grundsätze durch Verteilen von islamischer Literatur zu verbreiten. Eine große Rolle spielten hierbei die Werke des kurdischen Gelehrten Said Nursi (1877–1960), die einen starken Einfluss auf Gülens Denken hatten und bis heute in der Bewegung gelesen und studiert werden.

Der eigentliche Wendepunkt zu einer eigenen Bewegung vollzog sich in Izmir, wohin Gülen 1966 versetzt wurde und wo er die Tätigkeiten als Imam und Koranlehrer fortführte. Inspiriert von seiner alltagsnahen Lesart der Schriften Said Nursis bildete sich um Gülen ein Netzwerk von jungen Männern; später kamen auch Frauen dazu. Durch die Ernennung zum Imam für die gesamte türkische Ägäisregion – ein Amt, das mit ausgedehnten Predigt- und Vortragsreisen verbunden war – hielt Gülen bald emotionale Predigten in der gesamten Region vor einem zunehmend größeren Publikum. Darin thematisierte er die Herausforderungen einer sich modernisierenden Türkei, was er mit dem Aufruf zu muslimischer Frömmigkeit verband.

Häufig stand auch sein Bildungsideal im Mittelpunkt der Predigten und Ansprachen. Angesichts aktueller gesellschaftlicher Umbrüche sieht er in Anlehnung an Said Nursi die Menschheit, insbesondere die Jugend, von einem Werteverfall bedroht, weshalb er dafür warb, islamische Ethik mit modernen Naturwissenschaften in Einklang zu bringen. Hizmet impliziert für Gülen das Streben, ein idealer Mensch zu werden, der Spiritualität und intellektuelles Wissen, Vernunft und Offenbarung verbindet. Somit bot Gülen eine Alternative zum kemalistischen Diskurs der noch jungen türkischen Republik, in dem Religion und Moderne als Gegensätze postuliert wurden. Vor dem Hintergrund dieses Bildungsideals gründeten Gülens Anhänger Ende der 1960er Jahre die ersten Sommercamps für Jugendliche sowie Wohngemeinschaften für Studenten, ışık evleri (Lichthäuser) genannt; zunächst in Izmir und dann in weiteren größeren Städten der Türkei. Hier sollte den neuen Generationen islamische Bildung, Spiritualität und Disziplin vermittelt werden.

Ende der 1970er Jahre festigte sich die Bewegung: Neben sohbets (religiöse Gesprächsgruppen), Predigten in Moscheen und Sommercamps hielt Gülen nun auch öffentliche Vorträge vor Tausenden Menschen in vielen anderen Städten der Türkei. Die Großveranstaltungen, mit denen er ein nunmehr breites gesellschaftliches Publikum erreichte, wurden als Audio- und Videokassetten aufgezeichnet und im gesamten Land verbreitet und später verschriftlicht. Hierdurch entwickelten sich ein eigenes Netzwerk und eine eigene religiös-soziale Lehrpraxis.

Ab Ende der 1970er Jahre ermutigte Gülen seine nun gefestigte Anhängerschaft zum Engagement im privaten säkularen Bildungssektor. Die neugegründete Stiftung Akyazılı etablierte 1978 in Izmir das erste dersane. Hierbei handelt es sich um Nachhilfe-Institute, die auf den zentralen Aufnahmetest türkischer Universitäten vorbereiten. Mit diesen Instituten wurde die Bewegung erstmals in säkularen Bereichen der Gesellschaft aktiv.

Aufbau von Strukturen in Medien, Wirtschaft und Bildung

Dank der türkischen Liberalisierungspolitik der 1980er Jahre entstanden neue gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Freiräume, welche die Bewegung für die Ausweitung ihrer Aktivitäten nutzte. Gülen-Anhänger gründeten zahlreiche säkulare Schulen, die durch ihre Erfolge in landesweiten Bildungswettbewerben stark nachgefragt waren. Zudem wurden Massenmedien und freie Marktwirtschaft zu neuen Bereichen des hizmet: Ab Ende der 1980er Jahre gründeten Gülens Anhänger Zeitungen, Fernseh- und Radiosender sowie Nachrichtenagenturen. Einige dieser Medien richteten sich explizit an eine religiöse Leserschaft – andere gingen weit darüber hinaus, wie etwa die Zeitung "Zaman", die bis zu ihrer Schließung infolge des gescheiterten Militärputsches 2016 zu den größten Tageszeitungen des Landes gehörte.

Die Aktivitäten der Bewegung stützten sich insbesondere bei der Finanzierung auf ein Netzwerk sozial-konservativer Unternehmer, die von den ökonomischen und sozialen Transformationsprozessen und neugewonnenen Freiräumen profitierten. Bei dieser neuen und in Anatolien verwurzelten wirtschaftlichen Elite liefen traditionell-islamische Moralvorstellungen und ein Streben nach Erfolg in der globalen Marktwirtschaft zusammen, was sich ideal mit Gülens Rhetorik und den internationalen Zielen der Bewegung vereinbaren ließ. Viele dieser Unternehmer organisierten sich unter dem Dach der Türkischen Konföderation Industrieller und Unternehmer (TUSKON), die sich zum größten Verband privater Unternehmer in der Türkei entwickelte und inzwischen Ableger in vielen Ländern hat, in denen die Gülen-Bewegung aktiv ist. Nach dem Putschversuch 2016 wurde die TUSKON von der türkischen Regierung geschlossen und der politische Druck auf die Ableger im Ausland erhöht.

In den 1980er und 1990er Jahren stand Gülen im Mittelpunkt der türkischen Öffentlichkeit: Mit Unterstützung des Erziehungsministeriums entstanden die ersten ausländischen Bildungseinrichtungen – zunächst auf dem Balkan und in Zentralasien und später weltweit. Dabei gingen die Aktivitäten der Bewegung häufig Hand in Hand mit außenpolitischen Bestrebungen des türkischen Staates. Politiker suchten Gülens Nähe, um sich Legitimation in islamischen Kreisen zu verschaffen. Gleichzeitig waren Gülen und seine Bewegung immer wieder Gegenstand von Kritik und Verfolgung, allen voran paradoxerweise auch seitens der Staatsmacht: Ihnen wurde vorgeworfen, die säkulare Ordnung der Türkei unterwandern zu wollen. Insbesondere im Kontext der drei Militärputsche in der Türkei (1960, 1971, 1980), kam es immer wieder zu Entlassungen und Festnahmen – auch von Gülen persönlich, der 1971 sieben Monate im Gefängnis verbrachte. Die gleichzeitige Förderung und Verfolgung von Gülen und seiner Anhängerschaft kann als Zeichen konkurrierender religionsfeindlicher und proislamischer Politiken innerhalb des türkischen Staates angesehen werden.

1999 erreichte der politische Druck gegen Gülen einen Höhepunkt: Ein Fernsehsender strahlte ihm zugespielte Aufzeichnungen einer Gülen-Rede aus, die seine "wahren" politischen Absichten enttarnen sollten: Er wurde beschuldigt, mithilfe seiner Anhänger die Republik Türkei durch die Hintertür islamisieren zu wollen. Fast alle Medienhäuser der Türkei sowie Personen aus Politik und Öffentlichkeit, die Gülen zuvor noch unterstützt hatten, wandten sich nun gegen ihn. Gülen befand sich zu dieser Zeit aus – nach eigenen Angaben – medizinischen Gründen in den USA. Damit entging er 2000 nur knapp seiner Verhaftung. Die Anklage wurde 2006 fallengelassen. Dennoch lebt er bis zum heutigen Tag in Pennsylvania, wo er sich von seinem Wohnsitz aus mittels Video- und Audiobotschaften sowie schriftlich an seine weltweite Anhängerschaft wendet.

Netzwerkstruktur und Zugehörigkeit

Heute ist die Gülen-Bewegung in fast 160 Ländern aktiv: Es gibt über 1000 säkulare Schulen, Universitäten, Nachhilfe-Einrichtungen, Dialogzentren und Vereine im Bereich der wohltätigen Arbeit ebenso ein Netzwerk von Unternehmern, Medien, religiösen Gesprächsgruppen und Wohngemeinschaften. Dabei passt sich die Gülen-Bewegung flexibel an lokale Gegebenheiten an. Die transnationale Vernetzung der Akteurinnen und Akteure, die Autoritätspersonen der Bewegung sowie die Predigten und Schriften Gülens garantieren den Zusammenhalt und vermitteln das Gefühl, Teil der cemaat (Gemeinschaft) zu sein.

Dabei gibt es, was die Zusammensetzung der cemaat und die genaue Ausgestaltung der Aktivitäten anbelangt, durchaus Unterschiede in den verschiedenen Regionen der Welt: In der Bundesrepublik wird die Gülen-Bewegung etwa in erster Linie durch Personen vorangetrieben, die in Deutschland geboren beziehungsweise sozialisiert wurden – anders als in anderen Ländern, in denen sich das Netzwerk vor allem durch Personen aus der Türkei trägt. Zudem sind die Schulen der Gülen-Bewegung in Deutschland vor allem unter türkisch-migrantischen Bevölkerungsgruppen nachgefragt. Gesellschaftlich konnten sie sich noch nicht breit entfalten, was auch auf etablierte Vorurteile gegen "die Gastarbeiter", "die Türken" oder "die Muslime" zurückzuführen ist. In anderen Ländern wie zum Beispiel in Tansania, gehören die Schulen zu den besten und teuersten des Landes. Die türkische Community vor Ort ist klein, und die Schulen werden in erster Linie von tansanischen Schülerinnen und Schülern besucht, sowohl von christlichen als auch muslimischen.

Die verschiedenen von Gülen inspirierten Einrichtungen sprechen eine Vielzahl von Personen mit unterschiedlichen Motivationen an, und ihre Reichweite geht dabei weit über die Kernanhängerschaft Gülens hinaus. Sie werden zwar von Anhängerinnen und Anhängern initiiert und getragen, die von den Ideen Gülens überzeugt sind, sie binden jedoch ebenso Menschen ein, für die Gülens Ideen keine vorrangige Rolle spielen. Teils gibt es etwa Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Gülen-nahen Institutionen, denen Fethullah Gülen und die Bewegung gänzlich unbekannt sind.

Der Soziologe Joshua Hendrick spricht deshalb von einer "strategischen Ambiguität": Mit ihr sei es der Gülen-Bewegung gelungen, sich in vielen säkularen Bereichen als nicht explizit islamische Gruppe zu verorten. In der Öffentlichkeit bleibt häufig offen, wie die einzelnen Institutionen genau zur Person und zu den Ideen Gülens stehen. So können wichtige Vertreter ein und derselben Institution ihr Haus als Teil der Gülen-Bewegung beschreiben oder die Rolle Fethullah Gülens auf eine bloße Inspirationsquelle reduzieren und dabei die finanzielle, ideelle und soziale Verzahnung mit anderen Institutionen der Bewegung außen vor lassen. Ebenso kann es vorkommen, dass eine Verbindung zu Gülen und der Bewegung völlig abgestritten wird. Diese Intransparenz war wesentlich für die Verbreitung der Bewegung in dem politisch aufgeladenen Umfeld der Türkei und hat dazu beigetragen, dass sie sich in verschiedenen sozialen, kulturellen und religiösen Kontexten erfolgreich verorten konnte.

Die flexible Organisationsstruktur der Gülen-Bewegung ermöglicht unterschiedliche Formen und Grade der Zugehörigkeit, deren Übergänge dynamisch und fließend sind. Der Kern der Organisation besteht aus Gülens Schülerinnen und Schülern, aus Personen, die in Institutionen der Gülen-Bewegung zentrale Positionen einnehmen, sowie aus weiteren Anhängerinnen und Anhängern, die von den Ideen Gülens inspiriert sind und deren Umsetzung die Maxime in der eigenen Lebensgestaltung ist. Personen, die diesem inneren Kreis der cemaat angehören, nehmen an der religiös-sozialen Praxis der Bewegung – Gesprächsgruppen in denen hauptsächlich Gülens Werke gelesen und erörtert werden (sohbets) – teil und sind durch enge soziale Beziehungen sowie durch Autoritätspersonen, den ablas (älteren Schwestern) und ağabeys (älteren Brüdern), miteinander verbunden. Auch die ışık evleri, die studentischen Wohngemeinschaften der Bewegung, sowie verschiedene Formen des Moralunterrichts, die rund um von Gülen inspirierte Bildungsinstitutionen organisiert werden und insbesondere für den Nachwuchs der Bewegung relevant sind, gehören zum inneren Kreis.

Işık evleri und Moralunterricht bilden gleichzeitig wichtige Schnittstellen zum nächsten Kreis der Bewegung, zu dem Personen gehören, die gelegentlich an den sohbet teilnehmen und von den sozialen und ökonomischen Netzwerken und Bildungsangeboten der Bewegung profitieren und häufig auch in diese eingebunden sind. Diese Personen sind meist aus einem muslimischen und/oder türkischen Umfeld, und sie unterstützen die Bewegung zum Teil durch Spenden. Allerdings sind das soziale Umfeld und die Lebensgestaltung dieses Kreises nicht maßgeblich durch die cemaat und Gülens Ideen bestimmt.

Einen weiteren Kreis bilden Personen mit diversen, nicht ausschließlich muslimischen Hintergründen, die mit den Einrichtungen und Initiativen der Gülen-Bewegung sympathisieren. Sie stehen den Idealen und Aktivitäten der Bewegung zwar positiv gegenüber und unterstützen diese gelegentlich symbolisch oder durch Spenden. Sie sind aber weniger eng in das Netzwerk integriert und nehmen nicht an der religiös-sozialen Praxis der Bewegung teil.

Der nächste äußere Kreis fasst letztendlich Personen, welche die verschiedenen Angebote in den Bereichen Bildung, Dialog, Wohltätigkeit, Medien und Wirtschaft nutzen und in diese teils eingebunden sind – sie wissen jedoch nichts von deren Verbindung zu Fethullah Gülen und der Bewegung. Gerade dadurch, dass die islamische Motivation, die den Einrichtungen zugrunde liegt, meist nicht nach außen getragen wird, sprechen sie eine Vielzahl von Akteurinnen und Akteuren mit unterschiedlichsten Beweggründen an.

Die diversen Personen, Aktivitäten und Institutionen der Gülen-Bewegung sind in Form eines losen Netzwerks organisiert. Für die Koordination von Aktivitäten und Personen ist die Autoritätsstruktur von ablas und ağabeys wichtig. Sie sind für unterschiedliche Bereiche verantwortlich und üben ihre Autorität auf verschiedenen Ebenen aus. So gibt es etwa ablas, die in Wohngemeinschaften der Gülen-Bewegung für das soziale Zusammenleben und die religiös-moralische Bildung der Bewohnerinnen verantwortlich sind. Entscheidungen können dabei verschiedene Autoritätsebenen durchlaufen. Neben diesen eng gefassten sozialen Bereichen innerhalb der Wohngemeinschaften gibt es jedoch ebenso ağabeys, deren Koordinations- und Verantwortungsbereich ein ganzes Land umfasst und die sich wiederum mit ağabeys anderer Länder koordinieren. Hierarchisch höhere Positionen werden dabei ausschließlich von Männern besetzt.

Wichtige ağabeys innerhalb der Gülen-Bewegung reisen gelegentlich zu Fethullah Gülen in die USA und nehmen an sohbets teil. Auch Frauen haben die Möglichkeit in Pennsylvania, räumlich getrennt von den Männern, einem sohbet von Fetullah Gülen zu folgen. Lange Zeit war jedoch die Türkei das organisatorische Zentrum der Gülen-Bewegung. Hier traf man sich regelmäßig, tauschte sich über die Aktivitäten der Bewegung weltweit aus und koordinierte diese: etwa bei Fragen zur Finanzierung oder zur Rekrutierung und Vorbereitung von Lehrerinnen und Lehrern, die in unterschiedlichen Ländern an von Gülen inspirierten Schulen eingesetzt werden. Dies änderte sich durch den Bruch mit der Regierungspartei unter Erdoğan und der Verfolgung der Gülen-Bewegung nach dem gescheiterten Militärputsch im Juli 2016.

Die Gülen-Bewegung und die AKP: Von Alliierten zu Feinden

Die AKP-Regierung kam unter Erdoğan 2002 an die Macht, und das Netzwerk der Gülen-Bewegung konnte sich zunächst weiter ausbreiten. Die AKP verortete sich in der Tradition einer konservativen Demokratie, die religiöse Frömmigkeit, Marktorientierung und eine demokratische Ordnung zu verbinden suchte. Viele Teile des aufstrebenden Unternehmertums fanden sich hier mit ihren politischen und sozialen Ansichten wieder. Die Schnittstellen mit der sozioökonomischen Basis der Gülen-Bewegung waren evident: AKP und Gülen-Bewegung brachten das Entstehen einer neuen muslimischen Mittel- und Oberschicht voran, die Staat, Wirtschaft und Gesellschaft der Türkei in Zukunft stark prägen sollte. Gleichzeitig zielten AKP und die Bewegung darauf ab, ihren Einfluss nicht nur in der Türkei zu zementieren, sondern sich auch auf globaler Ebene auszubreiten. Sie unterstützen sich in diesem Vorhaben gegenseitig. Die unterschiedlichen Wurzeln sowie die ideologischen und politischen Differenzen ließ man bald hinter sich, und die Allianz zwischen der AKP und Gülen-Bewegung wurde zu einer der bedeutendsten und einflussreichsten der jüngeren türkischen Geschichte.

Im Machtkampf zwischen der neuen muslimisch-konservativen und der alten kemalistischen Elite spielte die Allianz eine zentrale Rolle. Mit Unterstützung der AKP konnte die Gülen-Bewegung ihren bereits bestehenden Einfluss in der türkischen Bürokratie, vor allem im Bereich der Polizei, Justiz und des Militärs, ausbauen. Die Allianz gewann insbesondere mit dem Ergenekon-Prozess zwischen 2007 und 2012 an Bedeutung, der den Machtkampf zwischen neuer und alter Elite versinnbildlicht. Der Begriff "Ergenekon" steht für ein klandestines Netzwerk aus pensionierten und aktiven Militärs, Journalisten, Akademikern und Politikern, denen unter anderem vorgeworfen wurde, die islamisch-konservative AKP-Regierung unter Erdoğan stürzen zu wollen, um die Macht der alten Staatselite aufrechtzuerhalten. In den öffentlich zur Schau gestellten Verfahren standen mehrere Hundert Verdächtige vor Gericht. Seitens der Opposition wurden gravierende Unregelmäßigkeiten in der Beweisführung sowie fehlende Anklageschriften geltend gemacht, und schon bald stand der Vorwurf im Raum, die Prozesse dienten in erster Linie der Entledigung von Kritikern der neuen politischen Elite, zu der auch die Gülen-Bewegung noch gehörte.

Nachdem die AKP und die Gülen-Bewegung gemeinsam die Macht der alten kemalistischen Staatselite zurückgedrängt hatten, traten ihre ideologischen und politischen Unterschiede in den Vordergrund. Erste Spannungen zeigten sich spätestens 2012 während der Zeit erster Annäherungen zwischen der AKP-Regierung und kurdischen Gruppen, allen voran der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Hakan Fidan, Leiter des türkischen Inlandgeheimdienstes, der geheime Gespräche mit der PKK führte, wurde im Februar 2012 von einem Istanbuler Staatsanwalt des "Geheimnisverrats" beschuldigt. Die AKP-Regierung sah darin eine politische Aktion, die von Gülen-Anhängern innerhalb der Justiz ausging. Die AKP reagierte mit einem Gesetzesentwurf im März desselben Jahres, der die Nachhilfe-Institute der Gülen-Bewegung verbieten sollte.

Die Spannungen zwischen AKP und Gülen-Bewegung gelangten mit den Korruptionsskandalen vom Dezember 2013 schließlich an ihren Höhepunkt: Insgesamt 53 Personen, darunter hohe Staatsbeamte und Minister, von denen viele zu Erdoğans engsten Verbündeten gehörten, wurden unter dem Vorwurf der Korruption festgenommen. Auch Erdoğans Sohn wurde verhaftet. Die AKP sah darin einen orchestrierten Putsch durch Gülen-Anhänger, die Polizei und Justiz unterwandert hätten. Die Allianz zwischen der Gülen-Bewegung und der AKP erreichte damit ihr Ende. Seitdem wächst der Druck auf Anhängerinnen und Anhänger der Bewegung sowie auf Gülen-nahe Institutionen stetig – insbesondere nachdem es der AKP und Erdoğan trotz der brutalen Niederschlagung der Gezi-Proteste im Sommer 2013 und dem Zerwürfnis mit der Gülen-Bewegung gelang, ihre Macht weiter auszubauen.

Der gescheiterte Militärputsch vom 15. Juli 2016, für den die AKP-Regierung Fethullah Gülen und die Gülen-Bewegung verantwortlich macht, setzte dem gesellschaftlichen Wirken der Bewegung in der Türkei endgültig ein Ende. Staatspräsident Erdoğan und Ministerpräsident Binali Yıldırım leiteten harte Maßnahmen ein, die mit massenhaften Verhaftungen und Suspendierungen sowie Enteignungen einhergingen. Sämtliche Einrichtungen der Gülen-Bewegung wurden nach und nach geschlossen, um der Bewegung die Grundlage in der Türkei gänzlich zu entziehen. Heute kann bereits eine Übernachtung in einem ışık evi zur Verhaftung führen.

Schluss

Säuberungswellen, bei denen Personen zu Tausenden aus dem staatlichen Dienst entlassen wurden, richteten sich allerdings nicht nur gegen Anhängerinnen und Anhänger der Gülen-Bewegung, welche die Regierung nun als "Fethullahistische Terrororganisation", kurz FETÖ, bezeichnet. Vielmehr wurden in diesem Zuge viele weitere Kritikerinnen und Kritiker der AKP aus dem Verkehr gezogen. Auch außerhalb der Türkei geht die Erdoğan-Regierung gegen die Gülen-Bewegung vor und versucht von Gülen inspirierte Schulen und andere Institutionen auf der gesamten Welt schließen zu lassen – mit unterschiedlichem Erfolg.

Die Entwicklungen seit dem 15. Juli 2016 haben die Gülen-Bewegung maßgeblich verändert: Sie befindet sich derzeit in einem Transformationsprozess, um sich mit den neuen Umständen zu arrangieren. Seit ihrem Entstehen passte sich die Gülen-Bewegung flexibel an politische und soziale Bedingungen an – die heutige Situation stellt allerdings die historisch größte Herausforderung dar.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vereinzelt wird auch 1938 als Geburtsjahr angegeben.

  2. Zur Biografie und zum Wirken Said Nursis vgl. Şükran Vahide, Islam in Modern Turkey: An Intellectual Biography of Bediuzzaman Said Nursi, Albany 2005.

  3. Siehe hierzu auch den Beitrag von Markus Dreßler in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  4. Vgl. Joshua Hendrick, Gülen: The Ambiguous Politics of Market Islam in Turkey and the World, New York–London 2013, S. 3; Hakan Yavuz, Toward an Islamic Enlightenment: The Gülen Movement, New York 2013, S. 35f.

  5. Vgl. Bekim Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs. Das Bildungsnetzwerk um Fethullah Gülen (geb. 1938): Die flexible Umsetzung modernen islamischen Gedankenguts, Schenefeld 2004, S. 147f.

  6. Vgl. Kristina Dohrn, Translocal Ethics: Hizmet Teachers and the Formation of Gülen-Inspired Schools in Urban Tanzania, in: Sociology of Islam 1/2014, S. 233–256.

  7. Die erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit, die der Gülen-Bewegung spätestens seit dem Putschversuch 2016 entgegengebracht wird, wird dies sicherlich ändern.

  8. Siehe Hendrick (Anm. 4.).

  9. Vgl. ebd.

  10. Zur Organisationsstruktur der Gülen-Bewegung siehe ebd., S. 120ff. sowie Agai (Anm. 5), S. 361.

  11. Vgl. Günter Seufert, Überdehnt sich die Bewegung von Fethullah Gülen? Eine türkische Religionsgemeinde als nationaler und internationaler Akteur, Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Studie 23/2013, S. 15f.

  12. Vgl. Hendrick (Anm. 4), S. 176ff.

  13. Siehe Michael Martens, Kampf gegen die Soldaten des Lichts, 18.12.2013, Externer Link: http://www.faz.net/-12715816.html.

  14. Zum Zerwürfnis der Allianz zwischen Gülen-Bewegung und AKP siehe Sarah El-Kazaz, The AKP and the Gülen: The End of a Historic Alliance, Crown Center for Middle East Studies, Middle East Brief 94/2015.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Kristina Dohrn für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der Freien Universität Berlin. E-Mail Link: kristina.dohrn@fu-berlin.de