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Die Sozial- und Gesundheitspolitik der Clinton-Administration | U.S.A. | bpb.de

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Die Sozial- und Gesundheitspolitik der Clinton-Administration

Söhnke Schreyer

/ 19 Minuten zu lesen

Die Sozial- und Gesundheitspolitik Präsident Clintons hat ebenso die anfänglich hohen Erwartungen wie in zentralen Einzelpunkten die selbstgesteckten Ziele verfehlt.

I. Zwischen liberalem Neubeginn und konservativer Wende

Präsident Clinton reklamiert für seine Administration ein breites Spektrum wirtschafts- und sozialpolitischer Erfolge, die zusammen eine Durchbrechung der seit den achtziger Jahren zu beobachtenden Trends der Erosion des Lebensstandards der unteren und mittleren Einkommensschichten andeuten. Die Regierung verweist vor allem auf das anhaltende Wirtschaftswachstum, die niedrige Arbeitslosigkeit, wachsende Einkommen, sinkende Sozialhilfeabhängigkeit und verminderte Armut. Diese eindrucksvolle Leistungsbilanz legt nahe, dass es gelungen ist, die problematischen sozialen Entwicklungen der achtziger und neunziger Jahre nicht nur zu stoppen, sondern eine Trendumkehr einzuleiten.

Im Unterschied zur Wirtschafts- und Fiskalpolitik begegnen die meisten Kommentatoren der Sozialpolitik der Clinton-Administration jedoch bestenfalls mit skeptischer Distanz. Von konservativer Seite wird vermutet, Clintons Rhetorik vom Ende der Ära des "Big Government" bedeute nicht mehr als die Bemäntelung der fortgesetzten Expansion des Staatsinterventionismus in einer Vielzahl von kleinen Schritten. Beobachter aus dem linken Spektrum diagnostizieren dagegen eine Weiterführung der (neo)konservativen Politik der Aushöhlung des Sozialstaats als Resultat der Clinton-Ära. Selbst wenn eine Entspannung der sozialen Situation infolge der überraschend starken Wirtschaftskonjunktur zugestanden wird, scheint "Sozialabbau trotz Wirtschaftswachstum" die Politik zu bestimmen. Diese Einschätzung reflektiert zunächst die Ernüchterung angesichts des Scheiterns der Clinton'schen Gesundheitsreform 1993/94, deren Ankündigung und hoffnungsvoller Auftakt einen neuen Schub des Ausbaus des "unvollendeten Sozialstaats USA" versprochen hatte. Die nur wenig später folgende Sozialhilfereform von 1995/96 unter den Vorzeichen der "republikanischen Revolution", dem Kongresswahlsieg der Republikanischen Partei von 1994, hat im Weiteren den Eindruck einer konservativen Wende unter demokratischer Ägide bestärkt.

Um die unterschiedlichen Einschätzungen einordnen zu können, ist es zunächst hilfreich, die sozialpolitische Programmatik Clintons zu rekonstruieren. Wenngleich taktische Wendungen kaum zu übersehen sind, lassen sich die Reforminitiativen auf eine relativ konsistente Grundlinie zurückführen. Der Anspruch Clintons, als "New Democrat" eine Alternative zu den überkommenen linken und rechten Ideologien - in den USA reformliberalen und neokonservativen Politikvorstellungen - zu bieten, hat selbst nicht wenig zu den Schwierigkeiten der Einordnung in das gängige Links-Rechts-Schema beigetragen. Darüber hinaus ist es für das Verständnis der Entwicklungen unabdingbar, nicht nur die ökonomischen, sondern auch die politischen Kontexte zu berücksichtigen. Dazu gehören zum einen kurz- und mittelfristig bedeutsame Faktoren wie die Macht(ver)teilung zwischen den Parteien ("divided government"), die institutionelle Konkurrenz zwischen Präsident und Kongress ("checks und balances"), die fiskalischen Restriktionen durch die Rekordverschuldung der achtziger Jahre und die zumindest bis Mitte der neunziger Jahre verbreitete Parteien- und Politikverdrossenheit. Zum anderen sind die langfristig stabilen Strukturen und Entwicklungstendenzen des US-Sozial- und Interventionsstaats als Maßstab wie als Rahmenvorgaben der Clinton'schen Politik von Bedeutung.

II. Auf der Suche nach dem "Dritten Weg"

Bill Clinton hat seinen Wahlkampf 1992 primär an wirtschaftspolitischen Fragen ausgerichtet. Doch es ging nicht nur darum, die Achillesferse des populären Außenpolitikers George Bush (1989-1993) zu treffen und die Wirtschaftsrezession der frühen neunziger Jahre für den eigenen Wahlkampf zu nutzen. Vielmehr bildete die Wirtschaftspolitik im Sinne der Sicherung bzw. Steigerung des Lebensstandards der unteren und mittleren Einkommensschichten den Schlüssel zu einer Strategie, die Demokratische Partei nach den republikanischen Erfolgen der Reagan-Bush-Ära wieder mehrheitsfähig zu machen.

Inhaltlich orientierte sich Clintons Programm an politischen Leitvorstellungen, die in Europa seit den Wahlerfolgen Tony Blairs und Gerhard Schröders unter dem Begriff des "Third Way", eines "Dritten Wegs" diskutiert werden. Clintons Versuch, sich zwischen den herkömmlichen Lagern neu zu positionieren, demokratische Politik- und Zielvorstellungen gegebenenfalls mit republikanischen Ideen und Konzepten anzureichern, sollte der Wahlkampfslogan eines "New Covenant", eines neuen Sozialvertrags zwischen Bürgern und Staat, auf den Punkt bringen. Die kommunitaristisch eingefärbte Rhetorik des "New Covenant" hob die Verbindung von Rechten ("Rights") und Pflichten ("Responsibilities") der Bürger hervor und versprach im Gegenzug stärker auf die Interessen der Allgemeinheit zugeschnittene und effektivere staatliche Leistungen. Diese Revision der demokratischen Politikvorstellungen zieht sich als roter Faden durch die Wirtschafts- und Fiskalpolitik, die Sozial- und Gesundheitspolitik sowie die Rechts- und Innenpolitik. So sollte die Reform der Sozialhilfe neben neuen Anforderungen an die Bereitschaft der Leistungsempfänger zur aktiven Reintegration in den Arbeitsmarkt umfangreiche neue staatliche Unterstützungen bieten. Die Restrukturierung der Sozialhilfe, zumal des Familien-Programms AFDC ("Aid to Families with Dependent Children"), zielte darauf, die breite Kritik an den als zu großzügig angesehenen Standards und der Ineffektivität der Sozialprogramme aufzugreifen, den Leistungsempfängern den Weg zurück in den Arbeitsmarkt zu ebnen und einen "living wage", einen Lebensstandard oberhalb der Armutsgrenze, zu sichern. Analog stellte das Konzept zur Gesundheitsreform die universelle Krankenversicherungsgarantie neben scharfe Kostenkontrollmaßnahmen, die staatliche Durchorganisation des Gesundheitssektors neben die Einführung marktwirtschaftlicher Wettbewerbselemente.

III. Reformpolitik zwischen Interessen und Institutionen

Clintons Politik- und Programmvorschläge trafen 1992 die Stimmungslage breiter Wählerschichten und verhalfen ihm zum Sieg über Präsident Bush, der gerade in der Wirtschafts- und Sozialpolitik als uninteressiert galt. Den unerwarteten Erfolg interpretierten die Demokraten als "Mandat" für einen Politikwechsel, das aufgrund der vergleichsweise detaillierten Vorstellung der einzelnen Programmpunkte auch auf die Clinton'schen Reformpläne bezogen wurde. Darüber hinaus verteidigten die Demokraten ihre Mehrheiten im Kongress, so dass sich erstmals nach zwölf Jahren "divided government", der parteipolitischen Teilung der Kontrolle von Exekutive und Legislative, wieder eine Rückkehr zu "unified government" ankündigte. Beides ließ die Erwartungen an die Sozial- und Gesundheitspolitik erheblich ansteigen. Einige Kommentatoren prognostizierten sogar den Anbruch einer neuen Reform-Ära.

Doch nicht nur die Beanspruchung eines programmatischen Mandats hat sich als überzogen erwiesen. Clinton selbst hatte nicht mehr als eine relative Mehrheit der Wählerstimmen erhalten. Die Hürden für ein straffes Parteienregiment sind in den USA auch unter besseren elektoralen Vorgaben hoch. Schon die institutionelle Unabhängigkeit von Präsidentschaft und Kongress, deren Wahlperioden und Wählerschaften durch das komplexe System der "checks and balances", der Gewaltenteilung und -kontrolle, ausdifferenziert sind, bringt neben dem Zwang zur Kooperation ein starkes Konkurrenzelement ins Spiel. Zudem fehlen angesichts der lockeren, netzwerkartigen Struktur der US-Parteien durchgreifende Sanktionsmöglichkeiten, und die parteiinterne Zusammenarbeit bleibt auf politisch-ideologische Konvergenz und gemeinsame Interessenlagen angewiesen. Die demokratische Kongressführung wie die neugewählte Administration proklamierten zwar ihre Kooperationsbereitschaft, aber die beiderseitigen Beteuerungen konnten bestenfalls vorübergehend überdecken, dass die von Clinton scharf attackierten "Old Democrats" im Kongress die Mehrheit in den Fraktionen stellten.

Das Konfliktpotential innerhalb der Demokratischen Partei blieb aber gegenüber der zwischenparteilichen Polarisierung noch relativ gering. Der ideologische Schwerpunkt der Republikanischen Partei hat sich in den 1980er Jahren merklich auf die konservative Seite des Spektrums verlagert, wobei die Kritik an staatlichen Interventionen durch eine zunehmend kulturell-moralische Aufladung schärfer geworden ist. Der sich in den frühen neunziger Jahren abzeichnende Führungswechsel an der republikanischen Führungsspitze im Repräsentantenhaus von dem kollegial-pragmatischen Robert Michel (R-Ill.) zu dem polemisch-konfrontativen Newton Gingrich (R-Ga.) signalisierte zusätzlich einen Strategiewechsel, der eine weitere Intensivierung der Konflikte versprach. Die machtpolitischen Auseinandersetzungen gingen dabei über die Debatte in Sachfragen und die Mobilisierung von Interessengruppen und Öffentlichkeit hinaus und reichten bis zur gezielten "Skandalisierung" des politischen Gegners, die zuletzt in einer Untersuchung des Ethik-Ausschusses des Repräsentantenhauses gegen Speaker Gingrich und in dem gescheiterten Impeachment gegen Präsident Clinton kulminierten.

Neben den parteipolitischen und systemischen Faktoren engen auch die Strukturen des Sozial- und Interventionsstaats in den USA die konkreten Handlungs- und Gestaltungsspielräume der Akteure ein. Die Ausgaben allein für staatliche Sozialprogramme stiegen von ca. 18-18,5 Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP) in den achtziger auf ca. 21 Prozent in den neunziger Jahren. Die offiziellen Statistiken unterschätzen dabei wie internationale Vergleichsdaten die Sozialausgaben der USA noch erheblich. Sichtbar und wirksam wurde das "Kostenproblem" in der ersten Amtszeit Clintons vor allem durch die scheinbar unkontrollierbaren Budgetdefizite des Bundes, die zum Symbol der verbreiteten Politik- und Parteienverdrossenheit der Wähler wurden. Während Ausweitungen staatlicher Leistungen bis in die zweite Hälfte der neunziger Jahren unmittelbar steuer- und haushaltspolitische Probleme aufwarfen, drohten Kürzungen in nennenswertem Umfang wichtige Interessen- und Bevölkerungsgruppen gegen mögliche Reformen zu mobilisieren.

IV. Das Scheitern der Gesundheitsreform 1993/94

Angesichts der vielfältigen Hindernisse und Probleme mag es im Rückblick wenig plausibel erscheinen, dass die Clinton-Administration überhaupt den Versuch einer Strukturreform des Gesundheitswesens gewagt hat. Unmittelbar nach dem Amtsantritt des Präsidenten stellte sich die Situation für die beteiligten Akteure jedoch ganz anders dar. Der durch die krisenhaften Entwicklungen im Gesundheitssystem erzeugte Druck ebenso wie die Reformbereitschaft der Öffentlichkeit und die politischen Mehrheitsverhältnisse setzten positive Vorzeichen. Obwohl die USA Anfang der neunziger Jahre mit ca. 13-14 Prozent des BSP mehr für die Gesundheitsversorgung aufwendete als jede andere Nation, war die Zahl der nichtversicherten Bürger auf 35 Millionen angestiegen. Darüber hinaus drohten ungeachtet der ohnehin hohen Ausgaben weitere Kostensteigerungen, die für Privathaushalte, Unternehmen sowie Bund, Einzelstaaten und Kommunen kaum mehr zu tragende Belastungen erwarten ließen. Angesichts der Entwicklungen signalisierten Teile der Industrie, insbesondere die Verbände der Großunternehmen wie Ärzteschaft, die traditionell eine staatliche Organisation des Gesundheitssystems ablehnten, Kompromissbereitschaft. Selbst auf republikanischer Seite schien die Ablehnungsfront aufgebrochen. Robert Dole, der konservativ-pragmatische Parteiführer der Republikaner im Senat, prognostizierte einen Reformkompromiss, wenngleich er Clintons Pläne als zu etatistisch ablehnte.

Der von einer "health care task force" unter Leitung von Hillary Clinton ausgearbeitete Reformentwurf wurde erst mit erheblicher Verspätung im Herbst 1993 vorgelegt, doch aus dem Blickwinkel von Clintons "Third Way"-Programmatik konnte er in mehrfacher Hinsicht als konzeptionelle Meisterleistung gelten. Er verband die weitgehende Erhaltung des bestehenden Systems mit neuen Strukturelementen, eine Ausweitung der Leistungen mit durchgreifender Kostenkontrolle, administrative Steuerung mit ökonomischem Wettbewerb, regional dezentralisierte Organisation mit zentraler Aufsicht durch den Bund. Die Grundlage bildete eine universelle Krankenversicherungsgarantie, die eine Pflichtversicherung von Arbeitnehmern durch die Arbeitgeber sowie eine individuelle Versicherungspflicht absicherte. Kleinen und mittleren Unternehmen sowie Privatpersonen ohne ausreichende Mittel wurden umfangreiche Subventionen in Aussicht gestellt. In Anlehnung an ein von konservativen Ökonomen konzipiertes System eines "organisierten Wettbewerbs" sah der Reformentwurf vor, dass regionale Kooperativen ("health alliances"), ausnahmsweise auch einzelne Großunternehmen, den Versicherungsnehmern die Policen der privaten Versicherungsträger in nach Leistungen preislich gestaffelten Varianten anbieten. Die Grundalternative sollte dabei die Auswahl zwischen einer Basisversicherung durch "Managed Care Organizations" (MCOs) mit eingeschränkter Wahlfreiheit ("low cost plan") und einer freie Arztwahl bietenden konventionellen Versicherung ("high cost plan") bilden, um einen Leistungs- und Qualitätswettbewerb mit Anreizen zu Kosteneinsparungen zu gewährleisten. Als Sicherungsmechanismus, der neben der Qualität der Versorgung vor allem die Einhaltung nationaler Ausgabenobergrenzen sichern sollte, fungierte eine Bundesaufsichtsbehörde ("National Health Board").

Die raffinierte Verwebung reformliberaler und -konservativer Zielvorgaben und Methoden resultierte aber nicht in breiter Zustimmung, sondern in Kritik von allen Seiten und einer von der Administration kaum einzudämmenden Konfusion der Öffentlichkeit über das komplexe Hybridsystem. Schon die Reaktionen aus der Demokratischen Partei blieben verhalten. Eine Mehrheit der demokratischen Kongressmitglieder favorisierte eine Reform nach kanadischem Muster, die mit universeller Krankenversicherung durch den Staat und eine straffe administrative Planung des Leistungsangebots eine vergleichsweise einfache und effektive Alternative zu bieten schien. Den gemäßigten "New Democrats" wie dem konservativen Flügel der Partei gingen dagegen die Clintonschen Vorstellungen im Hinblick auf die Kosten wie das staatliche Engagement zu weit. Der entscheidende Widerstand gegen die Gesundheitsreform kam allerdings von der Seite der Republikanischen Partei. Die Verzögerungen in den Beratungen über die Reform boten den Republikanern ausreichend Zeit für einen grundlegenden Strategiewechsel. Mit der Übernahme der Führung durch Newton Gingrich, den designierten Anwärter auf die Parteispitze im Repräsentantenhaus, gaben die Republikaner ihre Bereitschaft zu einem Kompromiss auf und zielten statt dessen auf eine vollständige Blockade, um so den Demokraten in den anstehenden Kongress- wie den folgenden Präsidentschaftswahlen die Mehrheit streitig machen zu können. Allianzpartner fand die neue republikanische Führungsriege um Gingrich zunächst in den Verbänden, die primär die Interessen der kleinen und mittleren Unternehmen und Versicherungen vertraten, die sich durch Clintons Reformpläne am stärksten bedroht sahen. Massiver Druck wurde von dieser Basis auf die von Großunternehmen dominierten Lobbygruppen wie den größten Ärzteverband, die American Medical Association (AMA) ausgeübt, ihre Kompromissbereitschaft gegenüber der Administration zugunsten einer dilatorischen Strategie zurückzustellen.

Die Öffentlichkeit erwartete auch in dieser Phase der Auseinandersetzungen noch eine durchgreifende Reform, doch der Opposition gelang es, durch ihr Sperrfeuer kritischer Einwände tiefer gehende Zweifel am Konzept der Administration zu stärken. Vor allem die drohenden Einschränkungen der Wahlfreiheit der Versicherten wie die möglichen Abstriche an der Qualität der medizinischen Versorgung ließen die Mehrheit der Wähler auf die Position einer gründlichen Überarbeitung und eine zeitliche Verschiebung der Reform umschwenken. Dieser Stimmungsumschwung erlaubte der Republikanischen Partei, die eigenen Reihen zu schließen und mit Blick auf die notwendigen Abstimmungen im Senat, die mit 60 von 100 Stimmen eine qualifizierte Mehrheit für die Verabschiedung einer Vorlage und damit zwischenparteiliche Kooperation erfordern, ihre Obstruktionstaktik glaubwürdig zu vertreten. Angesichts der veränderten Konstellation wurden die Reformbestrebungen im Herbst 1994 abrupt aufgegeben. Die Niederlage in der Frage der Gesundheitsreform besiegelte auch das Schicksal der demokratischen Kongressmehrheiten. Das republikanische Kalkül ging auf. Die meisten Wähler machten nicht sie, sondern die Demokraten für den Reformstau verantwortlich. Die Republikaner errangen 1994 nicht nur die Mehrheit der Sitze im Senat, sondern seit mehr als 40 Jahren zum ersten Mal auch wieder im Repräsentantenhaus.

V. Die Verabschiedung der Sozialhilfereform 1995/96

Vor dem Hintergrund des Scheiterns des "Health Security Act" und der Wahlniederlage der Demokraten waren die Aussichten für Clintons zweites Großprojekt, die Reform der Sozialhilfe, ebenfalls alles andere als günstig. Die Administration hatte, bedingt durch zeitraubende Auseinandersetzungen um das wirtschaftspolitische Programm und die Gesundheitsreform sowie aufgrund des Widerstands aus der Demokratischen Partei, die Reorganisation des Sozialhilfesystems, 1993 zurückgestellt. Im Juni 1994 legte Clinton erstmals in detaillierter Form seine Vorstellungen vor. Sein Vorschlag sah eine Kombination von Verschärfungen wie die Einführung von Zeitlimits für den Bezug von Sozialhilfe mit einem Ausbau der Hilfsleistungen vor. Für die nächsten fünf Jahre schlug der Präsident zusätzliche Ausgaben von 9,3 Mrd. US-Dollar vor, die insbesondere dem Ausbildungs- und Arbeitsbeschaffungsprogramm JOBS zugute kommen sollten. Doch der Vorstoß kam zu spät für eine ernsthafte Behandlung im 103. Kongress. Nach ihrem historischen Wahlsieg im November 1994 beanspruchten nun die Republikaner ein Führungsmandat für die Bundespolitik, und die Sozialhilfe, die sie im Wahlkampf zu einem zentralen Punkt ihres Programms ("Contract with America") gemacht hatten, stand weit oben auf der republikanischen Agenda.

Präsident Clintons Reformvorstoß hatte den Republikanern die Gelegenheit geboten, ihre eigenen Vorstellungen weiter zu verschärfen, ohne im Vergleich zu den Demokraten allzu extrem zu erscheinen. Bereits im Februar 1995 brachten sie einen Gesetzesentwurf ein, der neben einem zweijährigen Bezugslimit ein fünfjähriges Lebenszeitlimit für Anspruchsberechtigte vorsah, die Beihilfe an Familien mit minderjährigen Eltern sowie bei ungeklärten Vaterschaftsverhältnissen untersagte und den Einzelstaaten die Option anbot, AFDC zusammen mit anderen Sozialhilfeprogrammen in Eigenregie zu übernehmen und dafür vom Bund eine Pauschalsubvention ("block grant") ohne die bisherigen Verwaltungsauflagen zu erhalten. Über den fünfjährigen Planungszeitraum des Bundeshaushalts sollte die Reform Einsparungen von ca. 67 Mrd. US-Dollar erbringen. Selbst den republikanischen Gouverneuren gingen die Kürzungen zu weit. Clinton kritisierte die Gesetzesvorlage und verweigerte seine Unterstützung. Die republikanische Mehrheit im Senat milderte in Reaktion auf den Widerstand die Reform ab, hielt jedoch in wesentlichen Punkten an ihren Vorgaben fest. Clinton begrüßte zwar die Kompromissbereitschaft der Republikaner unter Führung von Senator Dole, und der "Welfare Reform Act" wurde Mitte September mit breiter demokratischer Zustimmung mit 87 zu 12 Stimmen im Senat verabschiedet. Dennoch legte der Präsident gegen die Kompromissvorlage, die im November als Teil des Haushalts und im Dezember erneut als eigenständiges Gesetz verabschiedet wurde, ein Veto ein und forderte weitergehende Zugeständnisse.

Einer Verhärtung der Fronten wirkte zunächst ein von demokratischen und republikanischen Gouverneuren einstimmig unterstützter Vorschlag entgegen. Darüber hinaus hatte Präsident Clinton in den sich um den Jahreswechsel 1995/96 dramatisch zuspitzenden Auseinandersetzungen um den Bundeshaushalt politisch die Oberhand gewonnen. Obwohl er sich in der Frage des Defizitabbaus zum Nachgeben gezwungen sah, gelang es ihm vor allem, die Forderung drastischer Kürzungen von Medicare und Medicaid öffentlichkeitswirksam gegen den republikanischen Kongress zu instrumentalisieren. Angesichts des haushaltspolitischen Desasters und der näherrückenden Wahlen entschieden sich die Republikaner für neue Verhandlungen. Nachdem sie mit der Ausklammerung von Medicaid aus ihrem Reformentwurf einer weiteren Forderung Clintons genügt hatten, kündigte dieser an, er werde den "Personal Responsibility and Work Opportunity Act" unterzeichnen. Ende Juli nahm das Repräsentantenhaus die Vorlage mit 328 gegen 101 Stimmen und breiter demokratischer Unterstützung an, Anfang August folgte der Senat mit 78 gegen 21 Stimmen.

Das gleichermaßen hoch gelobte wie scharf kritisierte Gesetz sah im Einzelnen vor, dass

- die Programme AFDC, JOBS und Energy Assistance (EA) zu einem Programm, der Temporary Assistance for Needy Families (TANF), zusammengefasst werden,

- der Bund den Einzelstaaten anstelle der bisherigen Zuschüsse auf der Basis der Anzahl der Leistungsbezieher einen Pauschal-Subventionsbetrag zuweist,

- die Einzelstaaten dafür über die Anspruchsberechtigung weitgehend selbst entscheiden,

- dabei allerdings ein zweijähriges Bezugslimit und ein fünfjähriges Lebenszeitlimit für Beihilfe beachten müssen und

- nach einer Übergangsphase mindestens 50 Prozent der Anspruchsberechtigten in Arbeitsverhältnissen mit 30 Stunden pro Woche oder mehr beschäftigt werden, Eltern mit jungen Kindern ausgenommen.

Die über die Laufzeit des Gesetzes bis 2002 vorgesehenen Ausgabenkürzungen von ca. 57 Mrd. US-Dollar treffen jeweils ungefähr zur Hälfte die Beihilfeansprüche aufenthaltsberechtigter Ausländer sowie arbeitsfähiger Erwachsener ohne Kinder (Food Stamps). Demgegenüber sollten die Ausgaben für die Familienbeihilfe vor allem aufgrund erhöhter Aufwendungen für Kinderbetreuung um ca. 3,7 Mrd. US-Dollar wachsen. Die Berechnung der Subventionen ging mit dem Basisjahr 1994 von einem historisch hohen Ausgabenniveau aus und stellte Staaten mit einem starken Bevölkerungswachstum zusätzliche Mittel in Aussicht. Für den Fall einer Wirtschaftsrezession wurde ein Reservefonds eingerichtet. Zudem wurde den Einzelstaaten vorgeschrieben, mindestens 75-80 Prozent ihres Ausgabenniveaus zu halten.

Selbst zum Zeitpunkt der Verabschiedung konnte TANF damit kaum als Sparprogramm angesehen werden. Auch bei Ausklammerung der flankierenden Maßnahmen erwies es sich angesichts steigender Beschäftigung als Mechanismus zur Stabilisierung der Ausgaben weit oberhalb des Niveaus, das AFDC, JOBS und EA gewährleistet hätten. Nicht zu übersehen ist jedoch, dass der Präsident den Republikanern substantielle Zugeständnisse hatte machen müssen. Die Verschärfungen der Kontrollen und Verhaltensauflagen gingen merklich über die noch zwei Jahre zuvor für möglich gehaltenen Änderungen hinaus. Nicht beachtet wird allerdings häufig, dass die "harten Zeitlimits" eine Ausnahme von 20 Prozent der Anspruchsberechtigten erlauben und nur für die aus Bundesmitteln finanzierte Sozialhilfe gelten; vor dem Hintergrund historischer Erfahrungswerte sind sie somit eher als symbolische Vorgaben zu bewerten. Schwerwiegender ist aus der Perspektive der Clinton'schen Programmatik, dass die Komponente der staatlichen Beschäftigungsmaßnahmen nur als Anforderung an die Einzelstaaten Aufnahme in die Reform fand.

VI. Politik der kleinen Schritte 1997-2000

Die Präsidentschafts- und Kongresswahlen von 1996 froren mit dem Sieg Clintons und der gleichzeitigen Behauptung der republikanischen Kongressmehrheiten den parteipolitischen Status quo auf absehbare Zeit ein und führten nach den spektakulären Kurswechseln von 1992 und 1994 zu einer Rückkehr zur Normalität des "divided government". Die aus den heftigen Konflikten und Enttäuschungen der Vorjahre resultierenden Spannungen prägten zwar unverändert die Atmosphäre und entluden sich noch einmal in der Amtsanklage gegen den Präsidenten 1999. Aber in der praktischen Gesetzgebungsarbeit kam es zu einer langsamen Wiederaufnahme der Ausarbeitung inkrementeller Reformkompromisse.

Schrittweise Reformen hatten schon in der ersten Amtsperiode als flankierende Maßnahmen eine keineswegs unbedeutende Rolle gespielt. Vor allem der Ausbau des "Earned Income Tax Credit" (EITC), der Steuervergünstigungen und Einkommensbeihilfen für Geringverdiener, hatte schon 1993 eine Entwicklung eingeleitet, die den zuerst unter Präsident Ford (1974-1977) eingeführten EITC zum größten Sozialhilfeprogramm des Bundes anwachsen ließ. Zudem blieben nach 1996 Ansätze zu strukturellen Reformen nicht gänzlich aus. Vor allem in der Debatte um die Reform der Sozialversicherungen (Social Security, Medicaid) erreichten Clinton und der republikanische Kongress eine Annäherung in der Frage einer teilweisen "Privatisierung" (oder präziser "Individualisierung") der Beiträge und Leistungen, die vor dem Hintergrund der heftigen zwischenparteilichen Konflikte als überraschender Durchbruch gelten kann. Aufgrund der Auseinandersetzungen um das Impeachment gegen den Präsidenten und der sich beständig verbessernden Finanzprognosen für die Sozialversicherungen einigten sich beide Seiten aber auf eine Vertagung der Reformen bis nach den Präsidentschaftswahlen 2000.

In der Gesundheitspolitik kamen neue Initiativen zwischenparteilicher Kooperation zunächst aus dem Kongress selbst. Mit der Unterstützung des Präsidenten führten sie zu einer Serie klein(st)er Reformschritte von nur geringer Bedeutung. Doch vor dem Hintergrund der wieder auflebenden Kooperationsbereitschaft gelang es der Administration, wenigstens in einem Teilaspekt zu einem signifikanten Erfolg zu kommen. Mit einem Vorschlag zur Ausweitung des Versicherungsangebots für Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien griff Clinton eine Strategie wieder auf, die bereits unter Präsident Bush den Ausbau staatlicher Sicherungsmechanismen erlaubt hatte und Unterstützung aus beiden Parteien genoss. Das "State Children's Health Insurance Program" (S-CHIP) stellt zunächst für die Einführungsphase von 1998 bis 2002 den Einzelstaaten Finanzzuschüsse ("matching funds") in Höhe von ca. 20 Mrd. US-Dollar zur Verfügung. Diese Zuschüsse sollen es den Einzelstaaten ermöglichen, Kinder und Jugendliche aus Familien mit Einkommen bis zu 200 Prozent der offiziellen Armutsgrenze unter Medicaid oder neuen Programmen zu versichern. Nach diesem Durchbruch legte die Clinton-Administration eine Reihe weiterer Reformvorschläge vor, von denen insbesondere die Medikamenten-Zusatzversicherung für Senioren unter Medicare ("Prescription Drug Benefit") Chancen hat, im laufenden oder im kommenden Kongress verabschiedet zu werden.

In ähnlicher Weise bestimmte eine Politik der kleinen Schritte den Sozialhilfebereich, in dem die Administration zwar mehr erreicht hatte, aufgrund der Zugeständnisse im Zuge der bisherigen Reformen aber nun einen erheblichen Korrekturbedarf sah. 1997 gelang es Clinton, nicht nur die Kürzungen der Leistungen für Immigranten teilweise rückgängig zu machen. Wichtiger noch waren aus der Sicht der "New Democrats" die Erfolge im Hinblick auf die Unterstützung der vielzitierten "working families". Für 1998 und 1999 bewilligte der Kongress beispielsweise ca. drei Mrd. US-Dollar für ein "Welfare-to-Work Grant Program", das den Einzelstaaten Zuschüsse für Maßnahmen zur Reintegration von Sozialhilfeempfängern in den Arbeitsmarkt bot. Zusätzliche Steuervergünstigungen für Unternehmen für Neueinstellungen flankierten die auf freiwilliger Basis organisierten Beschäftigungsinitiativen von Administration und Unternehmen zugunsten von Sozialhilfeempfängern. Von großer Bedeutung war zudem die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns von 4,25 US-Dollar pro Stunde auf 5,15 in zwei Schritten 1996/97. Für die von der Administration wie den Demokraten im Kongress angestrebte weitere Erhöhung auf 6,15 US-Dollar haben die Republikaner bereits Zustimmung signalisiert; strittig ist allerdings noch der Umfang der Steuererleichterungen, die die republikanische Kongressmehrheit im Gegenzug durchsetzen will.

VII. Die sozialpolitische Bilanz der Clinton-Ära

Die Entwicklung der sozialen Lage der US-Bevölkerung in den neunziger Jahren, gemessen an den wichtigsten Indikatoren, korrespondiert in erstaunlich direkter Form mit den Erfolgen und Misserfolgen der Clinton-Administration. Sowohl die Verbesserungen der materiellen Bedingungen wie auch die Erfolge der durchgesetzten Reformen bleiben jedoch wesentlich von der Wirtschaftsentwicklung abhängig.

Die markantesten Defizite weist die Clinton-Bilanz in der Gesundheitspolitik auf. Das Scheitern der Gesundheitsreform bedeutete nicht nur einen kurzfristigen Rückschlag, sondern hat für die gesamte Clinton-Ära eine mögliche Strukturreform blockiert. Unterdessen ist der Anteil der Bevölkerung ohne Krankenversicherung nach Schätzungen auf ein neues Rekordniveau von über 40 Mio. angestiegen. Privatwirtschaftliche Kostenkontrollen haben in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre durchgreifende Effekte gezeitigt. Allerdings haben sie, ebenso wie staatliche Einsparungen, insbesondere unter Medicare, die Schmerzgrenze bereits überschritten. Der populäre Ruf nach staatlichem Schutz der Rechte von Patienten und Ärzten vor den Sparinstrumenten der Versicherungen wie der zwischenparteiliche Konsens einer Wiederanhebung der Zahlungen unter Medicare verdeutlicht dies nachhaltig. Ein noch nicht ausgeschöpftes Leistungspotenzial bietet demgegenüber das neue Children's Health Insurance Program; nach Schätzungen haben zusätzlich über fünf Mio. Kinder und Jugendliche einen Anspruch auf Versicherung unter S-CHIP oder Medicaid.

Unter positiveren Vorzeichen steht die Entwicklung der Einkommenssituation. Mit der hohen Beschäftigung und den wieder steigenden Löhnen ist die Armutsquote bereits 1998 mit ca. 12,7 % auf den niedrigsten Stand seit 1979 gesunken. Für die schwarze Bevölkerung sowie für Haushalte, die von alleinstehenden Frauen geführt werden, liegt das Armutsrisiko mit ca. 24,7 % bzw. 19,9 % deutlich über dem Durchschnitt, doch beide Quoten haben einen neuen Tiefststand erreicht. Die seit 1995 merklich wachsenden Stundenlöhne haben, wie Kritiker hervorheben, das Niveau der siebziger Jahre bisher nicht wieder erreichen können. In Kombination mit einer wachsenden Zahl der geleisteten Arbeitsstunden erzielen aber die Haushalte aller Bevölkerungsschichten wachsende Einkommen. Selbst für das Fünftel der Haushalte mit den geringsten Einkommen liegt der Durchschnittswert für 1998 knapp über den Höchstmarken der "Goldenen siebziger Jahre". Bemerkenswert ist, dass mit dieser Entwicklung die zunehmende Ungleichverteilung der Einkommen in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre gestoppt scheint, wenngleich eine Umkehrung des Trends nicht abzusehen ist. Die Clinton-Administration hat im Gegensatz zu den Reagan-Bush-Administrationen mit der Absenkung der Steuerlast für untere und mittlere Einkommen und einer Erhöhung für die oberen Gruppen hierzu einen direkten Beitrag geleistet.

Ihre größten sozialpolitischen Erfolge reklamiert die Administration allerdings unter Verweis auf die dramatisch gesunkene Zahl der Sozialhilfeempfänger. Der Rückgang von 1993 ca. 14 Mio. auf 1999 ca. sieben Mio. Leistungsbezieher kann insofern als Erfolg gelten, als ein Großteil davon auf die Aufnahme von Arbeitsverhältnissen zurückzuführen ist. Kritiker wenden jedoch ein, dass die "Jobs" häufig schlecht bezahlt und keine Dauerbeschäftigungsverhältnisse sind. Aufgrund der günstigen Arbeitsmarktbedingungen sei zudem anzunehmen, dass die "einfachen Fälle" mittlerweile Arbeit gefunden haben, die verbleibenden dagegen die Sozialbehörden mit größeren Problemen konfrontieren. Die entscheidende Frage ist aber, wie sich das neue System bei wieder ansteigender Arbeitslosigkeit bewährt. Mit der Reform ist es gelungen, die Sozialhilfe aus der politischen Schusslinie zu nehmen und mittelfristig zusätzliche Unterstützung für einkommensschwache Familien zu mobilisieren. Ohne die ursprünglich vorgesehene Beschäftigungskomponente bleibt aber die Abhängigkeit von der Entwicklung des Arbeitsmarktes eine offene Flanke.

Vor dem skizzierten Hintergrund ist die These einer "konservativen Wende" oder einer Fortsetzung der "neoliberalen Politik des Sozialstaatsabbaus" unter der Clinton-Administration kaum zu begründen. Die Entwicklung der Zusammensetzung des Bundesbudgets seit 1960 zeigt, dass die Sozialausgaben in den neunziger Jahren nicht nur absolut, sondern auch als Prozentanteil des Bruttosozialprodukts auf neue Höchststände gestiegen sind. Angesichts des rasanten Wachstums des Sozialprodukts und der sinkenden Nachfrage nach Sozialleistungen sind seit Mitte der neunziger Jahre die Einkommenstransfers leicht rückläufig, während die Gesundheitsausgaben auf dem erhöhten Niveau stabil geblieben sind. Doch mit dem Rückgang der Verteidigungsausgaben und des Schuldendienstes hat der Anteil der Sozialausgaben am Bundeshaushalt von 1992 ca. 56 Prozent bis 2000 auf ca. 63 Prozent zugenommen. Die Clinton-Administration hat selbst in dem antagonistischen Zusammenspiel mit dem republikanischen Kongress den langfristigen Trend eines über weite Strecken inkrementellen Ausbaus des US-Sozialstaats fortgesetzt.

VIII. Die "Clinton legacy" und die Zukunft der US-Sozialpolitik

Die Sozial- und Gesundheitspolitik Präsident Clintons hat ebenso die anfänglich hohen Erwartungen wie in zentralen Einzelpunkten die selbstgesteckten Ziele verfehlt. Doch im Vergleich der Präsidenten der zweiten Reihe ist die Amtszeit Clintons die sozialpolitisch produktivste Phase seit dem Ende der sechziger Jahre gewesen. Wie immer Clintons Amtsführung in politischer wie persönlicher Hinsicht eingeschätzt wird, im Bereich sozialer Gerechtigkeit werden seine Leistungen auch von der Bevölkerung gewürdigt. In einer längerfristigen Perspektive sind allerdings die entscheidenden Aspekte der "Clinton legacy" weniger in den einzelnen sozial- und gesundheitspolitischen Erfolgen oder Fehlschlägen zu sehen als vielmehr in den Veränderungen der Rahmenbedingungen und der Eröffnung neuer Gestaltungsspielräume. Dies meint zum einen das Überbrücken ideologischer Gräben in der Diskussion um die Reform der Sozialhilfe wie die Modernisierung der Sozialversicherungen, zum anderen die Umkehrung des Trends einer strukturell wachsenden Staatsverschuldung. Stand die Sozialpolitik bis Mitte der neunziger Jahre unter den Vorzeichen enormer Budgetdefizite, lässt die erreichte Haushaltskonsolidierung mittelfristig wachsende Überschüsse erwarten.

Der gegenwärtige Wahlkampf zwischen Vizepräsident Al Gore und seinem republikanischen Gegenkandidaten, Gouverneur George W. Bush aus Texas, lässt mit der hohen Bedeutung sozialpolitischer Themen erkennen, wie nachhaltig die unter Clinton eingeleitete Trendwende in der Haushaltspolitik die Dynamik der Auseinandersetzung verändert hat. Während Gore an die Agenda der Clinton-Administration anknüpft, versucht Bush in der Bildungs- und Gesundheitspolitik wie der Reform der Sozialversicherungen attraktive republikanische Alternativen zu formulieren. Darüber hinaus folgen Gore und Bush mit der Hinwendung zur Wählermitte und einer Strategie der "kleinen Schritte" auch politisch dem Vorbild Clintons.