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Erinnerung an die Russische Revolution im heutigen Russland

Ekaterina Makhotina

/ 15 Minuten zu lesen

Wie wird Russland die historische Zäsur von 1917 feiern? Zum hundertsten Jubiläum erscheint die Russische Revolution vor allem als ein geschichtspolitisches Instrument, mit dem Putin und seine Administration nationalen Konsens beschwören wollen.

Im August 2007 prophezeite der liberale Oppositionelle Wladimir Ryschkow den Ausbruch einer Revolution im Jahre des hundertsten Jubiläums der Russischen Revolution. Seine Vision begründete er mit der Schwäche der demokratischen Institutionen und mit der anhaltenden wirtschaftlichen Krise. Diese beiden Faktoren würden das Vertrauen des Volkes in den "Autokraten", Präsident Wladimir Putin, schwächen und zum Umsturz führen. Steht die Revolution also kurz bevor? Tatsächlich verdeutlichten die Demonstrationen Ende März und am 12. Juni 2017, zu denen der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny aufgerufen hatte, die Unzufriedenheit Vieler mit der Führung des Landes, und sie offenbarten ein großes Protestpotenzial. Ähnlich wie im Februar 1917, als Rufe wie "Weg mit dem Zaren" erklangen und die Marseillaise gesungen wurde, riefen die Demonstranten 2017 "Weg mit Putin" und stimmten die Nationalhymne Russlands an.

Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied: Der Protest 2017 stellte sich bewusst nicht als revolutionäre Bewegung dar. Ist der Grund hierfür die Revolutionsmüdigkeit der Menschen? Oder ist das geschichtspolitische Mantra der russischen Führung, "Nie wieder Revolution", so wirkungsmächtig? Im Folgenden soll den Fragen nachgegangen werden, welche Rolle die Revolutionserinnerung in der heutigen Geschichtspolitik Russlands spielt und welche gesellschaftlichen Diskurse die Diskussion um das Jahr 1917 prägen.

Revolution als unbequeme Erinnerung

Es ist bemerkenswert, dass das hundertste Jubiläum der Russischen Revolution, ihr Erbe und die "historischen Lehren" sehr spät zum Gegenstand der offiziellen Geschichtspolitik wurden. Erst im Dezember 2016, in einer Rede vor der Föderalversammlung, formulierte Wladimir Putin die Hauptlinie des Erinnerungsdiskurses für das Gedenkjahr 2017 – elf Monate vor dem Jahrestag der Oktoberrevolution und nur zwei Monate vor dem der Februarrevolution. Der Vergleich mit den langfristigen Vorbereitungen für andere Feierlichkeiten, etwa zu denen des "Tags des Sieges" am 9. Mai, macht die marginale Bedeutung der Revolutionsfeiern deutlich.

Die historische Lehre der Revolution besteht in der "Versöhnung" und der "nationalen Eintracht", so Putin. Die Hauptbotschaft des Gedenkjahres ist: Die Revolution darf sich nicht wiederholen – eine Botschaft, die über unterschiedliche Ausstellungen, Vortragsreihen und Reenactments vermittelt werden soll. Mit der Umsetzung betraute Putin die Russländische Historische Gesellschaft – eine semistaatliche Institution unter dem Vorsitz seines Vertrauten Sergej Naryschkin.

Das Motiv "Versöhnung" soll auch in Denkmalform verfestigt werden: Für den 4. November 2017 ist die Eröffnung eines Versöhnungsdenkmals in Sewastopol auf der Krim geplant. Laut dem Kulturminister Wladimir Medinski soll dieses Denkmal an die Opfer beider Bürgerkriegsparteien, der "Roten" und der "Weißen", erinnern und die Tragik der nationalen Spaltung 1917 verdeutlichen. Der Ort für die Denkmalerrichtung ist symbolträchtig: Er verweist einerseits auf den historischen Ort des Bürgerkriegsendes im europäischen Teil Russlands – von der Krim verließen die Reste der geschlagenen Weißen Armee 1920 Russland. Andererseits wird die "Versöhnungsfrage" in die Gegenwart projiziert und damit ein nationaler Konsens in der aktuellen Frage der Zugehörigkeit der Krim beschwört.

Die "Versöhnung" als sinngebende Logik der Revolutionserinnerung ist nicht minder bemerkenswert als der späte Zeitpunkt der Rede zu den Jubiläumsplänen. Wird doch "die Heilkraft des Vergessens" meistens sofort nach der Beendigung eines Bürgerkriegs, als innere Befriedung, verordnet. In Russland liegen hundert Jahre dazwischen, und doch ist das Motiv der Versöhnung für die aktuelle politische Führung sehr wichtig. Dies äußert sich in den politischen Reden, der kollektiven Erinnerung und der offiziellen Geschichtspolitik.

Politische Reden

In den Reden vor der Duma und im Kreml wird der Begriff der Revolution negativ besetzt. Mit Verweis auf die sogenannten Farbrevolutionen – Massenproteste, die die Machtverhältnisse in vielen der ehemaligen Sowjetrepubliken infrage stellten – sollen Schreckensszenarien von Chaos, Bürgerkrieg und Blutvergießen im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert werden. Das Schreckgespenst des drohenden Zerfalls und des Bürgerkriegs dient als Begründung für eine verordnete Eintracht und Versöhnung als nationale Aufgabe. Teil dieses Bedrohungsszenarios ist auch das Gespenst des destabilisierenden Einflusses des Auslands, was zusätzlich eine Konfliktprojektion nach außen ermöglicht: Jene Kräfte, die zu Veränderung und Machtwechsel aufrufen, werden als "Verräter der Nation" oder ausländische Agenten diffamiert. Deutlich verstärkt hat sich die Revolutionsphobie der politischen Eliten in Russland mit der Majdan-Revolution in Kiew.

Kollektive Erinnerung

Das Motiv der Versöhnung wird verwendet, um eine gesellschaftliche Diskussion über die Revolution zu vermeiden. In der Tat gilt die Russische Revolution 1917 als polarisierendes Element der russischen und sowjetischen Geschichte. Kaum ein anderes Ereignis trennt die heutige russische Gesellschaft so sehr und löst so starke Emotionen aus wie der Oktoberumsturz in Petrograd. Damit unterscheidet sich die Erinnerung an 1917 von der an den Zweiten Weltkrieg, die ein unumstrittenes, zentrales Element des nationalen Stolzes ist. Sie unterscheidet sich auch von der faktisch nichtpräsenten Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Da es sich bei der Oktoberrevolution um den Gründungsmythos des Sowjetstaates handelt, steht die Revolutionserinnerung in Verbindung mit der Wahrnehmung der Sowjetzeit und des Stalinismus. So offenbart sich, dass Russland auch ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Sowjetunion in der Frage tief gespalten ist, wie an diese Zeit zu erinnern ist.

Offizielle Geschichtspolitik

Russlands Geschichtspolitik besteht aus dem gezielten und selektiven Rückgriff auf die stolzen und glorreichen Ereignisse einer tausendjährigen Geschichte. Bindeglied dieses Rückgriffs ist die militärische Ruhmesgeschichte Russlands, die anhand von siegreichen Schlachten und Kriegsherren erzählt wird. Im Zentrum des Narrativs steht die Erinnerung an den "Großen Vaterländischen Krieg" zwischen 1941 und 1945. Da die Kriegserinnerung auch im biografischen und alltäglichen Gedächtnis der Russen den wichtigsten Platz einnimmt, können sich viele Menschen mit diesem Narrativ identifizieren. Beachtenswert ist, dass die russische Führung das Revolutionsgedenken an das Weltkriegsgedenken gekoppelt hat. So ist seit 2005 der Tag der Oktoberrevolution, laut gregorianischem Kalender der 7. November, ein "Tag des militärischen Ruhmes" – in Erinnerung an die Revolutionsparade am 7. November 1941 während der Schlacht um Moskau.

Das Jahr 1917 selbst verschließt sich einer sinnstiftenden Ruhmesgeschichte – das Motiv der Versöhnung stellt in diesem Zusammenhang lediglich eine Notlösung dar. Im hundertsten Jubiläumsjahr konnten die russischen Machthaber die Revolution nicht ignorieren. Ebenso wenig konnte sie den kommunistischen Parteien überlassen werden. Das Motiv der Versöhnung soll von den Ereignissen 1917 wegführen und den Blick auf den Bürgerkrieg und auf die Bedeutung der nationalen Einheit lenken.

Historischer Kontext der Revolutionserinnerung

Historische Jubiläen erinnern nicht nur an vergangene Ereignisse. Im Zeitverlauf offenbaren sie auch, wie sich die Perspektive auf die jeweiligen Ereignisse wandelt und diese entsprechend politisch instrumentalisiert werden. Das wird auch an der Entwicklung der Revolutionserinnerung in Russland deutlich. 1987, zum siebzigsten Jahrestag der Revolution und in der Zeit der Perestroika, knüpfte Michail Gorbatschow noch an die positive Assoziation an, die mit dem Revolutionsbegriff verbunden war. Er bezeichnete die Perestroika nicht als "Reform", sondern als "Revolution". In seiner Kreml-Rede 1987, "Oktober und Perestroika: Die Revolution geht weiter", machte er deutlich, dass die Stalinzeit eine tragische Verirrung der sowjetischen Geschichte war. Ähnlich wie Nikita Chruschtschow vor ihm schlug er den Kurs "zurück zu Lenin" vor. Er löste die Februarrevolution aus dem Schatten der Oktoberrevolution und bezeichnete sie als "die erste Erfahrung der realen Demokratie".

Doch die sowjetische Deutung der Revolution konnte sich nicht bis heute halten. Die rasante, gesellschaftlich vorgetragene, radikale Umwertung der Sowjetepoche stieß den "Großen Oktober" von seinem Podest. Mit dem Bedeutungsverlust Gorbatschows und dem Triumph Boris Jelzins 1991 begann die Abwertung des sowjetischen Gründungsmythos. Die traditionelle Bezeichnung, "Große Sozialistische Oktoberrevolution", wurde als Symbol historischer Lügen dem Spott preisgegeben: In einer weit verbreiteten Redensart hieß es, "weder groß, noch sozialistisch, noch Revolution, noch kalendarisch im Oktober". Vor allem nach der Abwehr des Augustputsches 1991, als eine Gruppe von Funktionären der KPdSU versuchte, Gorbatschow abzusetzen, stand die Oktoberrevolution für den "Weg in die Katastrophe". Mit dieser Deutung legitimierten sich die neuen Machthaber um Jelzin. Das ehemalige Schlüsselereignis der Weltgeschichte bekam Bezeichnungen wie "Putsch", Umsturz", "Staatsstreich" oder "Machtergreifung". Die Revolution – wie auch generell alles Sowjetische – blieb während der gesamten Ära Jelzin negativ konnotiert. Zudem verlagerte das neue Deutungsparadigma die Verantwortung nach außen: Schuld hatte der "ausländische" Marxismus, der dem russischen Geist "wesensfremd" gewesen sei.

Zwar hob Jelzin anfangs noch die Februarrevolution positiv hervor, aber eine viel wichtigere Rolle spielte in den 1990er Jahren die Herrschaft der Romanow-Dynastie und die Gegner der Bolschewiki im Bürgerkrieg, die Weiße Armee. Eine breite Rezeption fanden die Memoiren der Weißen Armeeführer wie Anton Denikin sowie von politischen Emigranten wie Iwan Iljin, Nikolaj Berdjaew und Sergej Bulgakow.

Die Ereignisse in Petrograd wurden als smuta, als Zeit der Wirren, beschrieben und das Jahr 1917 nicht mehr mit der Französischen Revolution verglichen, sondern stand für einen russkij bunt (russischen Aufstand), einem sinn- und gnadenlosen Aufbegehren des Volkes. Die Spontanität und Gewaltbereitschaft der Volksmassen, des Pöbels, der als ochlos bezeichnet wird, wurde zum gängigen Erklärungsmuster für die Oktoberrevolution. Dem ochlos fehlte es, so die Deutung, an Intelligenz und Geduld, um sich auf die liberalen Reformer zu verlassen. Die Bolschewiki hingegen hätten mit ihren volksbezogenen Parolen die Massen aufgehetzt und so die Macht an sich gerissen. Ochlos und ochlokratija wurden im Diskurs der 1990er Jahre zu populären Begriffen, um Kritik an Jelzins Reformkurs zurückzuweisen.

Aufgrund sozialer und wirtschaftlicher Probleme in Russland im Laufe der frühen 1990er Jahre sank Jelzins Popularität, und die Nöte lösten bei vielen Russen eine Sowjetnostalgie aus. Die Demonstrationen an den Jahrestagen der Oktoberrevolution, veranstaltet von der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation, erhielten wieder mehr Zulauf. Jelzin reagierte darauf, indem er den vorrevolutionären orthodoxen Feiertag zum Gedenken an die Befreiung Moskaus im Polnisch-Russischen Krieg 1612 wieder einführte und ihn auf den Tag der Oktoberrevolution legte. Ab 1996 versuchte er, eine Umdeutung vorzunehmen: Der 7. November sollte zukünftig als "Tag der Eintracht und Versöhnung" begangen werden, als Mahnung zu Einigkeit und gegen Zerwürfnisse. Somit bemühte bereits Jelzin das Motiv der Versöhnung, wenn auch ohne größere Wirkung.

"Evolution statt Revolution"

Mit der Amtseinführung Putins wurde Geschichtspolitik noch bedeutsamer, um Herrschaft zu legitimieren. Von Anfang an lautete die Devise: Evolution statt Revolution. Dies illustriert auch ein Zitat aus Putins Rede vor der Föderalversammlung 2001: "Der Zyklus der Revolutionen ist zu Ende, es wird weder Revolutionen noch Konterrevolutionen geben." Putin versprach Stabilität und die Entwicklung in kleinen Schritten – ein Ansatz, der nach den wirtschaftlichen und politischen Turbulenzen der 1990er Jahre in der russischen Gesellschaft auf Zuspruch stieß.

Die auffälligste Abgrenzung zu Jelzin besteht in der verstärkten Hinwendung Putins zum sowjetischen Erbe. Dabei ging es Putin weder um eine Idealisierung noch um eine Dämonisierung des Sowjetischen, sondern um eine Hervorhebung historischer Momente, die in der Bevölkerung anschlussfähig sind. Dabei wird das Sowjetische nicht als politisch-ökonomische Alternative zum Kapitalismus wahrgenommen, sondern erscheint vollständig losgelöst von seiner sozialistischen Komponente.

Die Entwicklung der Jubiläen zur Oktoberrevolution ist charakteristisch für diese Politik: 2004 wurde der "Tag der Vertreibung der polnischen Besatzer" wieder auf sein korrektes Datum, den 4. November, zurückverlegt und bekam den Namen "Tag der Einheit des Volkes". Gleichzeitig wurde am 7. November ein neuer "Tag des militärischen Ruhmes" eingeführt: der "Tag der Parade auf dem Roten Platz anlässlich des 24. Jahrestages der Oktoberrevolution 1941". Hier offenbart sich deutlich die Taktik der neuen populistischen Geschichtspolitik: Die Revolutionserinnerung wird zwar formal erhalten, jedoch in das übergreifende Narrativ des Großen Vaterländischen Kriegs und der Schlacht um Moskau eingebettet. Die vom Staat gefürchtete "revolutionäre" Erinnerungsaura wird überblendet: Der 7. November bleibt für Kommunisten und Sowjetnostalgiker erhalten und wird zudem für die nichtkommunistisch orientierte Bevölkerung anschlussfähig gemacht.

Anlässlich des Revolutionsjubiläums war es eine besondere Herausforderung für die russische Führung, die Begrifflichkeit zu vereinheitlichen – variierte doch die begriffliche Spannbreite zwischen einem "Putsch" und der "Großen Sozialistischen Oktoberrevolution". Für die Konzeption der vereinheitlichten Schulbücher für das Fach Geschichte, die es in Russland seit 2013 gibt, hatten sich die beteiligten Historiker und Mitarbeiter des Bildungsministeriums auf den Kompromiss "Große Russländische Revolution" geeinigt. Durch diesen Begriff wurden die Februarrevolution, die Oktoberrevolution und die Zeit dazwischen zusammengefasst. Diese "Große Russländische Revolution" wird zusammen mit dem Ersten Weltkrieg und dem Bürgerkrieg im Kapitel "Zeit der großen Erschütterungen" abgehandelt. Diese Rahmung – Krieg, Entbehrung und Leid – verstärkt die Tragik in der Perspektive auf das Revolutionsjahr.

Drei Deutungen der Revolution

Abseits der Bestrebungen, die Russische Revolution als tragische, zur Versöhnung mahnende Geschichte zu erzählen, gibt es heute eine Vielzahl unterschiedlicher Deutungen der Ereignisse von 1917, die anhand von drei Modellen dargestellt werden können. Sie unterscheiden sich in der Bewertung der Februar- und der Oktoberrevolution und den ihnen zugrunde liegenden Idealen; der Charakteristika, die Lenin und Stalin zugeschrieben werden, und der Beziehung zwischen "Volk" und "Elite".

Imperial-konservative Deutung

In der konservativen Deutung sind die Größe und Stärke des Staates der Bewertungsmaßstab. Die Geschehnisse werden in einem Begriff als "Februar-Oktoberrevolution" zusammengefasst und ausschließlich negativ gedeutet: als Pogrom, als Zerstörung und Katastrophe, die den Zerfall des Imperiums verursachte. Diese Deutung der Revolution als "nationale Schande" entstand bereits 1917 und kehrte ab 1991 in den öffentlichen Diskurs zurück. Der Kommunismus erscheint als eine wesensfremde Ideologie, die dem russischen Volk von außen gewaltsam aufgedrückt wurde. In Anlehnung an die Slawophilen des 19. Jahrhunderts und die Eurasier der Gegenwart werden sowohl Marxismus als auch Liberalismus als andersartig verstanden. Das "Desaster 1917" war in diesem Modell das Werk von irrational handelnden Personen: bolschewistischen Fanatiker-Gruppen, Freimaurern, jüdischen Verschwörern oder ausländischen Agenten.

Während die Februarrevolution in die Reihe der Palastrevolten des 18. Jahrhunderts eingeordnet wird, folgten auf die Oktoberrevolution die "Herrschaft des Teufels" und das Ende des "traditionellen heiligen Russlands". In diesem Deutungsmuster werden sowohl die sozialen Gründe für den revolutionären Protest als auch das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber dem Zaren ignoriert – Schuld trägt vor allem die liberale Bürokratie, die sich illoyal verhielt.

Damit eng verbunden ist auch die unterschiedliche Deutung von Lenin und Stalin. Während Lenin für den fremdartigen, kosmopolitischen Kommunismus steht und ihm Verrat an der Nation vorgeworfen wird, erscheint Stalin weitaus positiver: Er steht für die Wiederherstellung des Imperiums, den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und allgemein für die Rückbesinnung auf patriotische Werte.

2007 brachte sich der bekannte nationalkonservative Autor Alexander Solschenizyn ("Archipel Gulag") mit dem vielbeachteten Text "Überlegungen zur Februarrevolution" in den Diskurs ein. Solschenizyn deutete die Februarrevolution als negatives Schlüsselereignis des 20. Jahrhunderts, als eigentliche "Katastrophe", und beklagte die Unfähigkeit des Zaren, den revolutionären Unruhen entgegenzutreten. Der schwache Zar habe keinen Widerstand gegen das "liberal-radikale Feld" geleistet und Russland so der "nationalen Ohnmacht" überlassen. Der Text Solschenizyns war für die politischen Eliten von hohem Wert: Er begründete die Notwendigkeit, den "Liberalen" entschlossen entgegenzutreten und legitimierte Gewalt gegen revolutionäre Bedrohungen.

Die imperial-konservative Deutung der Revolution wird von den politischen Eliten gestützt. Bereits 1999 sprach Putin über das Erfordernis einer Ideologie, in deren Mittelpunkt Patriotismus, Großstaatlichkeit und genuin russische Werte stehen müssen. Seit der Rückkehr Putins in den Kreml 2012 gehören Patriotismus und "traditionelle" Werte sowie Verweise auf konservative Denker zum Standardrepertoire seiner öffentlichen Auftritte.

Mit der imperial-konservativen Deutung lässt sich die Revolution auf zwei verschiedene Arten instrumentalisieren: zum einen gegen liberale und westliche Ideale, die als Schwäche dargestellt werden, und zum anderen gegen die heutige Kommunistische Partei Russlands, der man vorwirft, Machtgewinn über nationale Interessen zu stellen.

Sozialistische Deutung

Die sozialistische Deutung der Revolution bestimmte die Erinnerungskultur in der Sowjetunion bis zu ihrem Zerfall. Im Diskurs heutiger russischer Kommunisten hat die Oktoberrevolution ihren zentralen Platz behalten und wird nach wie vor als die Geburtsstunde der "Sowjetmacht der Arbeiter und Bauern" gefeiert. Auch die Februarrevolution als "bourgeoise Revolution der kapitalistischen Klasse" hat ihren Platz im Schatten des Oktobers behalten. Die offizielle Definition der Ereignisse von 1917 als "Große Russländische Revolution" wird von den Verfechtern dieses Modells zurückgewiesen.

Die Oktoberrevolution ist somit vor allem Sehnsuchtsort und weniger ein Symbol für den Aufbruch. Nicht Lenins Utopie der sozialen Gerechtigkeit steht im Zentrum, sondern die Sehnsucht nach der "siegreichen" Zeit unter Stalin und den "stabilen" Jahren unter Leonid Breschnew. So hat die Oktoberrevolution das Sowjetsystem gebracht, das sich im Zweiten Weltkrieg gegen das nationalsozialistische Deutschland behaupten konnte, und Stalin erscheint in dieser Deutung als "großer Führer" und "starke Hand".

Das sozialistische Modell zeichnet sich durch eine starke Ambivalenz aus: Auf der einen Seite wird die positive Deutung des "Großen Oktobers" beibehalten, auf der anderen Seite gibt es auch hier eine negative Konnotation des Revolutionsbegriffs. Die Majdan-Revolution in Kiew und die Demonstrationen nach den russischen Parlamentswahlen 2011, der sogenannte Bolotnaja-Protest, werden als Manipulationen amerikanischer Geheimdienste gedeutet. Die Februarrevolution wird in diesem Zusammenhang als erste Farbrevolution interpretiert und zur negativen Abgrenzung herangezogen.

Liberale Deutung

Auch das liberale Deutungsmodell gibt es seit der Russischen Revolution. Es wurde maßgeblich von Pawel Miljukow geprägt, Vorsitzender der Partei der Konstitutionellen Demokraten und wichtiger Akteur der Februarrevolution. Dieses Modell macht einen deutlichen Unterschied zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution: Während die Februarrevolution als Reaktion auf eine tiefe Systemkrise des Imperiums interpretiert und somit als folgerichtig und unumgänglich gedeutet wird, steht der Oktober für einen gewaltsamen Umsturz, der von einer Partei angeführt wurde, die es lediglich im richtigen Moment verstand, das Volk zu mobilisieren. Die Februarrevolution als Durchbruch der Demokratie scheiterte im Oktober 1917 – die Geschichte nahm ihren verhängnisvollen Lauf und führte zum verbrecherischen und totalitären Sowjetsystem. Nach dem liberalen Modell ist die individuelle Freiheit das höchste Gut, deren Einschränkung weder von einer Ideologie noch vom Streben nach staatlicher Größe gerechtfertigt werden kann. In den aktuellen Schulbüchern schlägt sich vor allem diese Deutung nieder: Die Februarrevolution wird als Chance und Aufbruch der russländischen Demokratie dargestellt, wohingegen die Oktoberrevolution für den Auftakt zum Totalitarismus steht.

Bemerkenswert sind die Unterschiede in den Positionen der Liberalen von damals und heute: Während die Liberalen 1917 die traditionellen Gewohnheiten des ungebildeten, "faulen" Volkes als Ursache für das Scheitern der Demokratie beschrieben und die Misserfolge der Intelligenzija mit der Gewaltbereitschaft der Volksmassen erklärten, führen die Liberalen von heute das Scheitern nicht mehr auf den Antagonismus zwischen "Volk" und "Elite" zurück, sondern auf das Handeln der Bolschewiki und den Repressionscharakter des Sowjetstaates.

Heutige Liberale sehen sich oft in einer Tradition der Konstitutionellen Demokraten oder der Menschewiki. Grigorij Jawlinski, der Vorsitzende der linksliberalen Partei Jabloko, deutet den Februar als Versuch russischer Eliten, das Land aus einem "Zustand des Verfalls" herauszuführen, verbunden mit der Hoffnung auf Modernisierung und einer Zukunft in Europa. Dieser Hoffnung hätten die Bolschewiki ein Ende gesetzt. Deutlich klingt hier die Analogie der autokratischen Herrschaft der Bolschewiki zu der von Putin durch.

Schluss

Alle drei Perspektiven knüpfen an aktuelle politische Kontexte an, wobei die imperial-konservative Deutung in der Öffentlichkeit am präsentesten ist. Für die russische Führung, Putin und seine Administration, ist das tragischste an der Revolution und ihren Folgen der Verlust des Imperiums. Putin bezeichnete Lenins sofortigen "Frieden ohne Annexionen und Kontributionen" als Verrat an den nationalen Interessen und dessen Beharren auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker als eine "Zeitbombe für den russischen Staat". Der Bewertungsmaßstab der Russischen Revolution ist in diesem Fall die imperiale Größe Russlands.

Auch die traditionelle sowjetische Perspektive auf die Russische Revolution ist nach wie vor verbreitet. Es handelt sich dabei meist um eine wehmütige Sichtweise, die von der älteren Bevölkerung eingenommen wird und mit einer Sowjetnostalgie einhergeht.

Der Ruf der Liberalen nach der Revolution, wie er noch vor zehn Jahren erklang, ist 2017 höchstens noch in leisen Tönen zu vernehmen. Putins Beschwören der Stabilität und die wahrgenommene oder auch nur erhoffte Besserung der Lebensverhältnisse schwächten den Drang nach radikalen Veränderungen.

Zum hundertsten Jubiläum erscheint die Russische Revolution vor allem als ein geschichtspolitisches Instrument, mit dem die gegenwärtige politische Führung die Sehnsucht nach tatsächlicher Veränderung befriedigen kann.

ist promovierte Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bonn. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Erinnerungskultur im östlichen Europa sowie die Geschichte der Gefängnisse im frühzeitlichen Russland.
E-Mail Link: emakhotina@uni-bonn.de