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Die Natur der Gesellschaft | Ethik -Gesellschaft - Globalisierung | bpb.de

Ethik -Gesellschaft - Globalisierung Editorial Ethik angesichts der Beschleunigung der Biotechnik "Globalisierung" - eine wirtschaftsethische Reflexion Die Natur der Gesellschaft Gerechter Frieden als Leitperspektive Demokratisierung als Aufgabe

Die Natur der Gesellschaft Bausteine einer Ökologischen Sozialethik

Hans-Joachim Höhn

/ 22 Minuten zu lesen

Welche dramatische Wirkung zeigte die ökologische Krise? Soziale Evolution darf nicht nur als Emanzipation von den naturwüchsigen Zwängen und Fesseln menschlichen Miteinanders verstanden werden.

I. Einführung

Die wichtigste Eigenschaft von Menschen und Maschinen ist heute, "zukunftsfähig" zu sein. Sich in der Gegenwart auf die Zukunft einzustellen bedeutet aber auch, unter Ungewissheitsbedingungen zu handeln. Unter solchen Umständen liegt es nahe, Vorkehrungen zu treffen, die das Risiko von Fehlentscheidungen reduzieren. Zu den Anbietern entsprechender Hilfestellungen zählt auch die Ethik. Sie handelt vom Glück und Unglück, das sich als Folge menschlichen Tuns und Lassens einstellt. Ihr geht es um das Schicksalhafte und Machbare und um ihr Verhältnis zueinander. Der Satz klingt trivial, solange das Schicksalhafte eine feste Größe ist. In der Moderne ändern sich jedoch alle zuvor festen Größen und klaren Verhältnisse. Die Moderne ist angetreten, alle schicksalhaften Größen und Verhältnisse zugunsten des Machbaren zu verändern.

Auf dem Weg einer technisch-wissenschaftlichen Beförderung des Glücks ist aber auch das Unglück dem Zufälligen und Schicksalhaften entrissen worden. Auch das Unglück ist heute machbar - weit über den Bereich des Privaten hinaus. Deutlichster Beleg hierfür sind jene kollektiven Gefährdungspotenziale, die unter dem Begriff "ökologische Krise" zusammengefasst werden. Da wiederum auch die Abwehr des Unglücks machbar geworden ist, stellt die dauerhafte Sicherung der ökologischen Lebensgrundlagen kein aussichtsloses Unterfangen dar. Entsprechende Anstrengungen werden jedoch immer wieder in Frage gestellt durch Hemmnisse, die man schon überwunden glaubte, und durch Rückschläge, mit denen niemand mehr rechnete. Enttäuschung macht sich breit über die Fehlschläge internationaler Konferenzen, die auf den mit vielen Hoffnungen begleiteten "Erdgipfel" von Rio de Janeiro (1992) folgten. Gerade weil es in den vergangenen Jahren bemerkenswerte Fortschritte in der Umweltpolitik und im Umweltrecht gegeben hat, die nicht verspielt werden dürfen , wäre es unverantwortlich, sich mit diesen gegenläufigen Entwicklungen abzufinden.

Zwar hat es Umweltzerstörungen auch in vorindustrieller Zeit gegeben . Die Brisanz und Dramatik der gegenwärtigen Situation besteht jedoch darin, dass diese Schäden eine Eingriffstiefe und ein Ausmaß erreicht haben, das zu einer dauerhaften, irreparablen und großräumigen Gefährdung der elementaren Lebensbedingungen des Menschen führen kann.

Vor diesem Hintergrund ist die Forderung zu verstehen, nicht mehr länger an einem Begriff von "Fortschritt" als Kultivierung der menschlichen Lebenswelt festzuhalten, wenn dabei keine Rücksicht auf die umfassenden Zusammenhänge der diese Lebenswelt tragenden Natur genommen wird. Auch die technisch-industrielle Kultur hat Regulative anzuerkennen, die die Natur selbst vorgibt. Gefordert wird daher die Einbindung der ökonomischen und technischen Funktionssysteme in das sie tragende Netzwerk der Natur und damit die dauerhafte Ausrichtung der sozialen Evolution an der sich verändernden Tragekapazität der ökologischen Systeme . Zur Klärung der hierbei notwendigen, vor der praktischen Vernunft verantwortbaren Zuordnung ökonomischer, sozio-kultureller und ökologischer Faktoren beizutragen, ist Anliegen einer "Ökologischen Sozialethik", die im Folgenden hinsichtlich ihres Ansatzes und leitenden Interesses zu skizzieren ist . Sie geht von der Annahme aus, dass mit der Moderne ein Stadium der Kulturgeschichte erreicht ist, in dem das Ausgeliefertsein des Menschen an die Natur verknüpft ist mit der Abhängigkeit vieler bisher "naturbelassener" Ökosysteme vom Menschen, auf deren Integrität wiederum der Mensch angewiesen ist.

II. Von der Sozialen zur Ökologischen Frage

Ein ökologischer Ansatz der Sozialethik trägt der Tatsache Rechnung, dass die "ökologische Risikogesellschaft" das Erbe der "klassischen" Industriegesellschaft angetreten hat . Sie hat den Problemkonstellationen und Herausforderungen der "Sozialen Frage" neue hinzugefügt. Bei der Sozialen Frage ging es letztlich um ein Partizipations- und Verteilungsproblem bzw. um die Schaffung rechtlicher Rahmenbedingungen, welche die Sozialverträglichkeit der ökonomischen Entwicklung herstellen sollten. Wegweisend für die Bestimmung einer sozialverträglichen Ökonomie waren ethische Impulse: der Gedanke der personalen Würde aller Menschen und das sich auf ihn gründende Bewusstsein der Solidarität als Bedingung zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit. Es ging und geht um die Humanisierung der Arbeitswelt, um Chancengleichheit und Beteiligungsgerechtigkeit sowie um eine auf sozialen Ausgleich ausgerichtete Marktwirtschaft. Bei der "Ökologischen Frage" handelt es sich es dagegen um eine Problemkonstellation, welche in ihren Herausforderungen und ihren Bewältigungsmöglichkeiten über die Soziale Frage hinausgeht bzw. diese umgreift. Die alten Spannungen, Gegensätze und Kämpfe zwischen Kapital und Arbeit werden überlagert von ökologischen Systemgefährdungen, die sowohl Polarisierungen als auch neue Koalitionen der Gefahrenabwehr quer zu den noch immer bestehenden industriegesellschaftlichen Antagonismen und Gruppenegoismen entstehen lassen.

Die Herausforderung der Ethik besteht nun darin, die umwelt- und sozialethische Problemstellung nicht länger als getrennte, bereichsspezifische Aufgaben zu verstehen. Denn gerade die Abkoppelung der sozio-ökonomischen Entwicklung von ihren sozial-ökologischen Entwicklungsbedingungen ist als eine zentrale Ursache der ökologischen Krise zu betrachten. Von einer "Ökologischen Sozialethik" ist daher nicht die Ausarbeitung einer neuen Sonder- oder Spezialethik, sondern ein Konzept zur Verknüpfung und Integration wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Entwicklungen unter dem Aspekt der "Zukunftsfähigkeit" zu erwarten.

Mit der Ökologischen Frage werden ethische Fragen und Ansprüche eigener Art sichtbar, die nicht mehr allein oder vorrangig auf der Linie des Umgangs des Menschen mit anderen Menschen, sozialen Strukturen oder Institutionen liegen und sich in die "klassischen" sozialethischen Kategorien - Menschenwürde, Gerechtigkeit, Solidarität, Gemeinwohl - bringen lassen. Bei der Neuformulierung dieser Kategorien ist zu berücksichtigen, dass die Soziale Frage in die Ökologische Frage eingelagert ist. Die sozialen und ökologischen Weltprobleme sind hinsichtlich ihrer Ursachen und Lösungsmöglichkeiten eng miteinander verwoben : Wo die Natur zerstört wird, folgt bald die soziale Erosion. Ohne sozialen Ausgleich ist kein dauerhafter Friede möglich. Wo Menschen in Armut und Unterdrückung gehalten werden, hat auch die Bewahrung der Umwelt keine Chance. Vermeintliche Auswege aus der Krise werden sogleich zu Sackgassen, wenn sie die umfassende wechselseitige Bedingtheit aller Strukturen und Prozesse in der sozialen Lebenswelt des Menschen und seiner natürlichen Umwelt außer Acht lassen. Daher dürfen auch bei dem Versuch, ethische Leitbilder einer zukunftsfähigen Entwicklung zu entwerfen, umwelt- und sozialethische Belange nicht mehr getrennt voneinander behandelt werden. Heißt dies nun, dass sozialethische Kategorien auszudehnen sind auf den Umgang mit der Natur, so dass Solidaritätspflichten nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen Menschen und allen übrigen Mitgeschöpfen zur Geltung zu bringen sind? Muss "Solidarität" qua "Mitmenschlichkeit" nun neu als "Mitgeschöpflichkeit" buchstabiert werden? Oder ist bei der Frage nach Existenzbedingungen moderner Gesellschaften an der Natur Maß zu nehmen - als jenem Bereich, über den hinaus keine größere existenzermöglichende Wirklichkeit in den Blick kommt?

Eine Ökologische Sozialethik versteht diese Anfragen zunächst als Ausdruck des Problems, dass gesellschaftliche "Binnenverhältnisse" nicht abgekoppelt von gesellschaftlichen Naturverhältnissen begriffen werden können. Es geht nun darum, soziale Verhältnisse und (Über-)Lebensfragen aus der Dynamik des modernen Natur/Gesellschaft-Verhältnisses heraus zu begreifen . Denn die Verwandlung unbeabsichtigter und lange Zeit unbemerkter Nebenfolgen industrieller Wohlstandsproduktion in globale ökologische Übelstände ist gerade kein Problem der außerhalb des Sozialen antreffbaren Umwelt, sondern markiert eine Krise, welche die Konstitutionsprinzipien moderner Sozialsysteme erfasst. In der Moderne lassen sich ökologische Gefahren nicht mehr auf eine "unbeherrschte" Natur zurückführen, sondern müssen als nichtbeabsichtigte Nebenfolgen der neuzeitlichen technisch-wissenschaftlichen Naturbeherrschung und ökonomischen Naturausbeutung verstanden werden. Die Erwärmung der Erdatmosphäre, der Schwund von Tier- und Pflanzenarten sind nicht bloß "Naturereignisse", sondern sie haben ihre Ursachen in gesellschaftlichen Prozessen, die sich nun in der Natur manifestieren, von wo aus sie als Risikolagen auf das Soziale zurückwirken. Sie provozieren die Frage, welche Maße und Grenzwerte "in" der Natur hierbei missachtet und überschritten wurden, dass sie zu gesellschaftlichen Selbstgefährdungen führen. Offensichtlich schlägt die Natur nun zurück, weil bestimmte Gesetzmäßigkeiten vom Menschen ignoriert wurden und er auf ein Fortschrittsmodell gesetzt hat, das von der Natur nicht mitgetragen wird.

Die für die Ethik entscheidende Frage ist jedoch, ob und in welcher Weise "die" Natur hier tatsächlich auf regulative und normative Vorgaben menschlichen Handelns befragt werden kann bzw. um "welche" Natur es geht, deren Tragekapazität menschlichem Handeln eine Grenze setzt. Ist es die "natürliche" Natur, mit der der Mensch in Harmonie leben soll? Ist dies aber für den Menschen überhaupt möglich, wenn er mangels passender ökologischer Nische darauf angewiesen ist, die Natur zu "kultivieren", um überhaupt überleben zu können? War es nicht seine eigene "natürliche Natur", die ihn genötigt hat, sich gegenüber seiner natürlichen Umwelt durchzusetzen? Ist es ihm daher nur möglich, mit einer "kultivierten" Natur in Einklang zu leben? Und schließlich: Gibt es überhaupt "die" Natur, die menschlichem Handeln ein Maß geben kann, oder sind diese Maße nicht kulturelle Setzungen ?

III. Auf der Suche nach einem sozial-ökologischen Moralprinzip

Die ökologische Forschung hat zahlreiche Rückkopplungsphänomene, wechselseitige Abhängigkeiten und Synergieeffekte ausgemacht, welche auf eine "Gesamtvernetzung" aller Strukturen und Prozesse in der sozialen Lebenswelt des Menschen und seiner Umwelt hinauslaufen. Der Versuch, innerhalb dieser Gesamtvernetzung einzelne "naturbedingte" Regulative sozialen und ethischen Handelns auszumachen, kann sich jedoch nicht auf die Natur als einen "für sich" bestehenden Wirklichkeitskomplex beziehen. Denn "die" Natur gibt es zum einen nur als eine evolutive Größe. Sie repräsentiert keine ein für allemal festgelegte statische Ordnung, sondern ist selbst durch immer neue Entwicklungsschübe und Veränderungen bestimmt. Was sich als "natürliches Gleichgewicht" präsentiert, resultiert aus konfliktträchtigen Evolutionsprozessen. Statische Gleichgewichtsverhältnisse zu Beginn der Evolution hätten nie eine Evolution möglich gemacht. Vielmehr verdankt sich diese der Tendenz, "jener unausweichlichen Dynamik des Zerfalls in Richtung stabiler Gleichgewichtszustände durch fortwährenden Neuaufbau geordneter Komplexität in lebendiger Substanz entgegenzuarbeiten" . Und was zum anderen heute noch als Produkt der "natürlichen Evolution" erscheint, ist in Wahrheit längst Bestandteil einer "vergesellschafteten" Natur .

Die "Vergesellschaftung" der Natur besteht im Wesentlichen darin, daß alles Natürliche mehr und mehr technisch reproduzierbar wird. Am Ende der Moderne ist es dem Menschen erstmals möglich, durch gezielte Eingriffe in den genetischen Code die biologische Evolution zu beeinflussen und somit die ursprünglichen Abhängigkeiten zwischen sozio-kultureller und genetisch-biologischer Evolution umzukehren. Natur ist immer weniger etwas von sich aus Bestehendes, sondern erkenntnismäßig und praktisch immer mehr das Ergebnis des Zugangs zu ihr. Kultur ist wiederum Teil jener Natur, der sie mitkonstituiert. Wie das Ozonloch über den Polkappen zeigt, bildet die biologisch-physikalische Umwelt (Biosphäre) kein Außerhalb der sozialen Lebenswelt (Soziosphäre) mehr. Im Zeitalter der Gentechnologie wird zudem die Unterscheidung zwischen der unabhängig vom Menschen gewordenen "natürlichen" Natur und der synthetischen, vom Menschen selbst hergestellten Natur hinfällig. Natur ist in vielen Bereichen nicht mehr Vorgabe, sondern Resultat menschlichen Handelns. Natur wird zum Kulturprodukt. Der Mensch stellt in biochemischen Labors Natur her, die Natürliches herstellt - zum Wohl des Menschen: Insulin steht endlich in den erforderlichen Mengen zur Verfügung. Menschliche Hautzellen können zu Transplantationszwecken bei schweren Verbrennungen rasch bereitgestellt werden, und Hautgewebe lässt sich daraus bald auf die erforderliche Größe heranzüchten. In der Gentechnologie hat man begonnen, produktiv in die Evolution einzugreifen, nicht bloß Varianten und Mutanten auszuwählen und dadurch die natürliche Reproduktion von Tieren und Pflanzen zu steuern. Vielmehr geht man daran, durch gezielten Eingriff in die Erbinformation bewusst Varianten zu produzieren und durch deren Reproduktion in letzter Konsequenz die genetisch-biologische Evolution erstmals zur abhängigen Größe der sozio-kulturellen Evolution zu machen. Am Ende ist das Natürliche vom Künstlichen nicht mehr unterscheidbar, wenn alles Künstliche zum "Naturidentischen" wird (worauf die Verpackungen mancher Lebensmittel noch hinweisen, wenn sie natürliche und naturidentische Aromastoffe auflisten). Sein und Schein ist auch dort nicht mehr unterscheidbar, wo die Erhaltung "ursprünglicher" Naturreservate vom Menschen ein immer größer werdendes Maß an äußeren Eingriffen zur Stimulierung der "Selbstheilungskräfte" der Natur oder zur Verhinderung von "selbstzerstörerischen" Naturprozessen (z. B. hypertrophes Algenwachstum in Gewässern) verlangt.

Reproduziert wird die Natur hier in dem Sinn, dass ihre Selbstregulationsmechanismen vom Menschen wiederhergestellt werden. Die Renaturierung von Bachläufen und die "Rekultivierung" von Industriebrachen sind hierfür einschlägige Beispiele. Sie sind zugleich Indizien einer prinzipiellen Veränderung in den Denkgewohnheiten und Plausibilitäten des Mensch-Natur-Verhältnisses. "Die Möglichkeit der technischen Reproduzierbarkeit von Natur bedeutet das Ende einer Vorstellung von Natur, die ihre Prägnanz gerade aus der Entgegensetzung zum Bereich menschlichen Herstellens erfuhr." Diese Entwicklung hat unmittelbare Konsequenzen für die Frage nach den "natürlichen" Regulativen einer human-, sozial- und umweltverträglichen Entwicklung moderner Gesellschaften. Es ist dabei von einem Naturverständnis auszugehen, das diese als sozio-kulturell mitkonstituiert verstehen lässt. Damit ist nicht nur gemeint, dass zunehmend und mit wachsender Eingriffstiefe natürliche Prozesse und Strukturen synthetisch reproduziert und ersetzt werden können, so dass die Natur die Funktion verliert, an ihr ablesen und unterscheiden zu können, was menschlichem Handeln einerseits unverfügbar und unbeeinflussbar ("schicksalhaft") gegenübersteht, somit vom Menschen nicht zu verantworten ist, und was andererseits in den Radius des Machbaren, Verfügbaren und Rechenschaftspflichtigen gehört. Was Natur ist, lässt sich auch weder eindeutig noch vollständig aus unserem (natur)wissenschaftlichen Wissen über die Natur zusammensetzen, sondern wird - wie erkenntnistheoretische und kulturökologische Studien belegen - stets nach Maßgabe kultureller Standards wahrgenommen. Die Natur sieht immer so aus, wie wir sie ansehen. In jeden Naturbegriff gehen Elemente des jeweiligen Selbst- und Weltverständnisses desjenigen ein, der Natur begreifen will. Es hängt von gesellschaftlichen Diskursen ab, ob und in welchem Umfang von bestimmten "Naturphänomenen" Handlungsaufforderungen ausgehen. Deutlich wurde dies z. B. in Deutschland an der Diskussion um die Ursachen des Waldsterbens. Nicht die forstwirtschaftliche Schadensmeldung, sondern der drohende Verlust der ästhetischen und mythologischen Aura des deutschen Waldes sorgte für öffentliche Aufmerksamkeit und Betroffenheit. Ein "Diskursprodukt" stellt auch die Festsetzung von Grenzwerten bei der höchstzulässigen Schadstoffbelastung von Wasser, Boden und Luft dar. Bei bodennahem Ozon, das ab einer bestimmten Konzentration zur Festsetzung von Geschwindigkeitsbeschränkungen oder Fahrverboten führen soll, lässt sich der gesuchte Wert nicht als objektiver Schwellenwert bestimmen, bei dessen Überschreitung morphologische Besonderheiten erkennbar werden (wie z. B. beim Herstellen von Butter oder Rahm aus Milch). Während der Schwellenwert ein Naturphänomen ist, stellt der Grenzwert eine sozial verabredete Handlungsbeschränkung dar, die zwar an Naturphänomenen Anhalt sucht, aber in ihnen per se keinen Handlungsimperativ erkennt. Grenzwerte sind also keine in die Natur selbst eingebauten Ordnungen, die ein Limit ausweisen, das die Belastbarkeit des Menschen und seiner Umwelt objektiv bestimmbar macht. Sie sind vielmehr Bewertungen, die in einer Gesellschaft an den Umgang mit der Natur angelegt werden. Soziale Normen und Werte sind keine Eigenschaften der Natur, sondern Resultate empirischer Erkenntnis, rationaler Urteilsbildung und diskursiv erzielter Willensübereinkunft. Anders formuliert: Nicht Normen oder Werte sind in die Natur eingelassen, sondern die ethische Vernunft des Menschen, die über jene Normen und Werte zu befinden hat, die menschliches Leben angesichts seiner naturalen Regulative glücken lassen.

Eine Ökologische Sozialethik würde ihr eigenes Anspruchsniveau unterbieten, ginge es ihr um die Orientierung sozio-ökonomischer Prozesse an einer ursprünglichen, von menschlichen Eingriffen unberührten Natur, in der selbsttätige Lebens- und Austauschprozesse ablaufen. Wenn am Ende der Moderne Natur nicht mehr ohne Gesellschaft und Gesellschaft nicht mehr ohne Natur begriffen werden kann, ist dies weder ein zeit- noch ein sachgemäßer Ansatz. Die entscheidende Frage lautet vielmehr, unter welcher Rücksicht es ein Gebot der praktischen Vernunft ist, die Natur als Norm für die Gestaltung des Sozialen anzuerkennen . Hierbei kann man sich auch nicht mehr auf eine metaphysisch konstituierte Natur berufen und unhintergehbare Bedingungen menschlichen Zusammenlebens jenseits von Geschichte und Empirie suchen . Vielmehr muss es darum gehen, den ethischen und politischen Diskurs auf jene Momente des Unbeliebigen, Unverfügbaren und Unverrechenbaren auszudehnen, die innerhalb einer vergesellschafteten Natur soziales Handeln unter einen ethischen Anspruch stellen.

Damit sind auch bereits Recht und Grenzen physiozentrischer und pathozentrischer Ansätze einer Umweltethik angedeutet. Beide machen auf ein entscheidendes Defizit der traditionellen "anthropozentrischen" Moral aufmerksam. Diese billigte nur Angehörigen der menschlichen Gattung den Anspruch zu, nie nur als Mittel, sondern stets auch als Zweck an sich selbst behandelt zu werden. Für Zivilisationskritiker ist dies zum ideologischen Treibriemen für die Ausbeutung der Natur geworden. Dem soll nun in der Weise gegengesteuert werden, dass auch der belebten und unbelebten nichtmenschlichen Natur "intrinsische" Werte und Eigenrechte zugesprochen werden. Fraglos erschöpft sich der Wert der Natur nicht im Aspekt der Nutzbarkeit für den Menschen. Sie bleibt dem Menschen in ihrem ebenso gewaltigen wie versehrbaren Potenzial nur in dem Maße verfügbar, wie er anerkennt, dass sie nicht darin aufgeht, allein für ihn da zu sein. Aber die ästhetische oder mystische Qualität, die für die Natur als solche reklamiert wird, ist nie aus ihrer Bezogenheit auf die spezifischen Erlebnis- und Wahrnehmungsformen des menschlichen Subjekts zu lösen. "Holistische" Entwürfe einer Umweltethik übersehen ebenfalls oft, dass die Beziehung zwischen Mensch und Natur strukturell asymmetrisch ist. Nur der Mensch ist Subjekt von Handlungen und Träger von Verantwortung in Bezug auf die Natur. Dass der Mensch ein Teil der Natur ist und ebenso wie Tier und Pflanze in ein System ökologischer Abhängigkeiten eingebunden ist, hebt die Differenz nicht auf, die Naturwesen mit der Fähigkeit zu Selbstbewusstsein und zur Reflexion dieses Bewusstseins von Naturwesen ohne diese Fähigkeiten unterscheidet. "Je mehr man den Menschen als Teil der Natur versteht, umso weniger kann man von ihm Rücksicht auf die Natur erwarten. Denn rein als Naturwesen fehlt ihm jede moralische Kompetenz, die man jedoch sinnvollerweise voraussetzen muss, um an seine Verantwortung für die Natur appellieren zu können." Aber gerade das menschliche Reflexionsvermögen ist ethik- konstituierend. Da andererseits die naturale Basis (z. B. neurale Systeme) dieser Fähigkeit nicht zu leugnen ist und ebenso wenig die kommunikative Verfassung der ethischen Vernunft außer Frage steht, kann Umweltethik nur in den Linien einer sozial-ökologisch aufgeklärten "Anthroporelationalität" betrieben werden. Sachgemäß erscheint daher allein ein ethischer Ansatz, der bei der Begründung von Handlungsnormen sowohl die naturale Dimension personal-sozialer Existenz im Blick hat als auch an der Undelegierbarkeit autonomer Normenfindung ("Selbstbestimmung", "Selbstgesetzgebung") durch die praktische Vernunft festhält. Andernfalls fällt eine Ökologische (Sozial-)Ethik in ein vormodernes Vernunft- oder Moralverständnis zurück, indem sie die Vernunft zu einem bloßen Ableseorgan von Normen macht, die in eine vermeintliche Naturordnung eingestiftet sind.

1. Moralität unter dem Anspruch sozial-ökologischer Vernetzung

Die naturale Dimension personal-sozialer Existenz auszublenden, ist sowohl anthropologisch als auch ethisch überaus fragwürdig, da ein konstitutives Wechselverhältnis zwischen der "Humanität" bzw. "Moralität" und der "Naturalität" des Menschen besteht: Der Mensch selbst "ist" Natur, was er buchstäblich am eigenen Leib erfahren kann. Seine moralische Integrität ist sogar auf die Integrität seiner physischen Natur angewiesen . Deutlich wird dies ex negativo in jenen Fällen, wo durch die Verletzung seiner physischen Integrität die Urteilsfähigkeit des Menschen, die Wahrnehmung fremden Leids, die Einsicht in eigene Verantwortung derart außer Kraft gesetzt ist, dass es fraglich ist, ob man die davon betroffenen Subjekte noch als moralfähige Individuen ansprechen kann. Als Bedingung der Moral hat die Natur selbst eine moralische bzw. ethische Qualität. Die Sorge um die Integrität des Menschen ist daher unablösbar von dem Bemühen um die Integrität seiner naturalen Lebenbedingungen. Insofern zielt der Anspruch des Ethischen, dessen prominenteste neuzeitliche Fassung Immanuel Kants kategorischer Imperativ darstellt, zwar primär auf den Menschen als den in seiner unverfügbaren Würde zu sichernden Adressaten dieses Anspruchs. Aber er macht ihn nicht gleichzeitig auch zum einzigen Inhalt der sich daraus ergebenden moralischen Forderungen.

Das Maß moralischer Verbindlichkeiten setzt nicht die Natur, sondern die praktische Vernunft. Der elementare Anspruch des Ethischen besteht in der Forderung, nur solchen Maximen zu folgen, die verallgemeinerbar sind. Vor diesem Hintergrund wird eine um die Sicherung der personal-sozialen Existenz des Menschen bemühte Ethik weder eine Desensibilisierung gegenüber außermenschlichem Leben noch eine Degradierung der Natur zum bloßen Rohstofflager betreiben können. Ressourcenschonung und Zukunftsverantwortung, die Achtung eines Eigenwertes der Natur, die Forderung nach Empathie angesichts leidender Lebewesen sind durchaus Inhalte, die mit einem solchermaßen "anthroporelationalen" Ansatz kompatibel sind. Die Ausblendung dieser "Anthroporelationalität" würde umgekehrt ethische Anliegen preisgeben (z. B. die Sicherung des moralischen Unverfügbarkeitsstatus des Menschen, seine Würde als Person), die seit der Aufklärung mühsam kulturell verankert wurden. Wenn es zutrifft, dass die Soziale Frage sozialethisch nur durch ein Konzept sozialer Gerechtigkeit zu bewältigen ist, das auf dem Respekt von Grund- und Menschenrechten und dem Bewusstsein der Solidarität basiert, dann wäre es kein Fortschritt, diese Basis zu verlassen. Wenn es ebenso zutrifft, dass die Gerechtigkeits- und sozialpolitische Verteilungsproblematik der Sozialen Frage heute eingelassen ist in die umfassendere umweltpolitische Vernetzungsproblematik, dann muss es allerdings auch darum gehen, der Beziehung "Mensch-Natur" bzw. "Gesellschaft-Natur" ethisch eigens Rechnung zu tragen.

Die zentrale Aufgabe besteht in der Rückbindung der menschlichen Kulturwelt in das sie tragende Netzwerk der Natur. Für ein dementsprechendes Denken und Handeln stehen die Kategorien der "Vernetzung" und der "Nachhaltigkeit". Der Mensch in seiner personal-sozialen Existenz kann seiner Verantwortung für die Natur nur gerecht werden, wenn er die Gesamtvernetzung all seiner zivilisatorischen Tätigkeiten und Erzeugnisse mit dieser ihn tragenden Natur zum Prinzip seines Handelns macht . Es gilt, ökonomische Prozesse, die hinsichtlich ihres Energiebedarfes und Ressourcenverbrauchs letztlich Teil ökologischer Systeme, ihrer Stoffkreisläufe und Zeitrhythmen sind, an den Erhaltungsbedingungen dieser ökologischen Voraussetzungen ökonomischen Handelns auszurichten und von dorther Fragen der sozial gerechten Partizipation am wirtschaftlichen Produktions- und Verteilungsprozess neu anzugehen.

Die Achtung dieses Prinzips stellt eine Grundbedingung für die Zukunftsfähigkeit moderner Gesellschaften dar. Eindimensionale Fortschrittszenarios können sich ökologische Risikogesellschaften nicht leisten. Hier sind nur Kriterien hilfreich, die nicht auf die einlinige Verwirklichung eines einzigen ökonomischen, sozialen oder ökologischen Handlungszwecks abzielen, sondern sich auf deren optimale Verknüpfung beziehen. Das Optimum dieser Verknüpfung ist wiederum nicht ohne Beachtung ethischer Kriterien bestimmbar. Ehe man hierbei Denkfiguren wie "Schicksalsgemeinschaft von Mensch und Natur" oder "Frieden mit der Natur" bemüht, für die "Gaia-Hypothese" wirbt oder nach fernöstlich-weisheitlichen Inspirationen verlangt, reicht es zunächst durchaus, sich auf die logisch-formalen Aspekte des moralischen Vernunftanspruchs (z. B. Widerspruchsfreiheit, Verallgemeinerbarkeit) zu konzentrieren. Hierbei ergeben sich für die Bestimmung der Kriterien "nachhaltig" und "umweltgerecht" folgende Anhaltspunkte:

Die regulativen Momente im Beziehungsgeflecht Mensch-Gesellschaft-Natur und das Prinzip der Vernetzung sind in dem Sinne ethisch normativ, wie ihre Beachtung die Einlösung des Imperativs praktischer Vernunft darstellt, nur jene Vollzüge als rational und verantwortbar gelten zu lassen, die nicht kontraproduktiv sind. Kontraproduktiv werden jene technisch-ökonomischen Maßnahmen, die bei vorgegebenen Handlungszielen bei der bestmöglichen Bestimmung der Zweck/Mittel-Relation sich nicht im Rahmen der Tragekapazität der Natur und ihrer Ökosysteme bewegen. Die Tragekapazität eines Ökosystems bemisst sich nach der maximalen Zahl von Individuen einer Spezies, die eine bestimmte Umwelt auf Dauer erhalten kann (maximale Populationsgröße) . Diese Basisregel ist jedoch "dynamisch" zu handhaben. Denn während die Tagekapazität ihrer Umwelt für Tiere und Pflanzen eine von ihnen weitestgehend unbeeinflussbare Größe darstellt, kann sie der Mensch durch Eingriffe in die Natur steigern oder reduzieren.

2. Gesellschaftliche Naturverhältnisse unter dem Anspruch der Nachhaltigkeit

Bezogen auf ökonomische und politische Gestaltungsaufgaben führt die Vernetzungs- und Nachhaltigkeitsthematik unmittelbar zur Frage nach der Ausarbeitung weiterer Kriterien zur Beurteilung der Human- bzw. Sozial- und Umweltverträglichkeit konkreter sozio-ökonomischer Zielsetzungen und Vorhaben. Die elementare Forderung, die Wirkungen menschlichen Handelns im Rahmen der Tragekapazität der Natur und ihrer Ökosysteme nur dann als "umweltverträglich" zu bezeichnen, wenn sie nicht kontraproduktiv werden, ist insofern zu präzisieren, dass hierbei die Nutzung einer Ressource ihre Regeneration nicht übertreffen darf, die Freisetzung von Schadstoffen nicht größer als ihre "neutralisierende" Resorption in der Umwelt sein darf und nichtnachwachsende Rohstoffe nicht verbraucht werden dürfen, ohne entsprechenden Ersatz bereitzustellen, der die Funktion des verbrauchten Rohstoffs übernimmt. Auch muss das Zeitmaß der von Mensch und Gesellschaft vorgenommenen Belastungen der Umwelt in ausgewogenem Verhältnis zum Zeitmaß der für die Regeneration der Umwelt relevanten natürlichen Prozesse stehen.

Im sozial-ökologischen Kontext meint das Kriterium bzw. Postulat der Umweltverträglichkeit noch weitere Verpflichtungen gegenüber Mensch und Natur: Zum einen geht es um die Bedingungen zur Sicherung der Eigenexistenz der Natur und um die Sicherung ihrer Regenerationsfähigkeit angesichts vom Menschen ausgehender Belastungen. Zum anderen gilt es jene Folgen und Nebenwirkungen abzuschätzen, die das Einwirken des Menschen auf die Natur für seine eigenen Lebensbedingungen nach sich zieht. Damit ist klar, dass die Forderungen nach umwelt- und sozialverträglichem Handeln nicht unabhängig voneinander erörtert werden können. Als im engeren Sinn "human-" bzw. "sozialverträglich" sind zunächst solche Maßnahmen einzustufen, die der Verwirklichung des ethisch-politischen Projektes der Moderne dienen: gesellschaftliche Sicherung individueller Freiheit (Emanzipation, Autonomie, Mündigkeit, Selbstverwirklichung), Überwindung von Gewalt und Ausbeutung, Herstellung sozialer Gerechtigkeit und internationaler Solidarität. Eingeschlossen in das Postulat der Sozialverträglichkeit ist sowohl die Verantwortung für die Lebens-chancen und -rechte gegenwärtiger wie künftiger Generationen als auch die Aufgabe, auf die "naturalen" Realisierungsbedingungen dieser Ziele zu achten. Kurzum: die Vereinbarkeit mit dem Leitbild der nachhaltigen umweltgerechten Entwicklung ("sustainable development") muss nachweisbar sein.

Das Paradigma "sustainable development" stellt im sozialethischen Diskurs über die Zukunftsfähigkeit moderner Gesellschaften dem Auseinanderdriften der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Entwicklungen, das sich als wesentliche Ursache der ökologischen Krise erwiesen hat, eine Zuordnungslogik entgegen, welche den Schutz der Umwelt zum Zielfaktor und nicht bloß zum Begrenzungsfaktor der gesellschaftlichen Entwicklung macht. Diese Zuordnung insistiert auf einer Ko-Evolution von Ökonomie und Ökologie. Das alte Leitbild "Wohlstand" ist vor diesem Hintergrund nur dann eine zukunftsfähige Zielbestimmung ökonomisch-sozialer Entwicklung, wenn Basis, Richtung und Ziel wirtschaftlichen Handelns ausgerichtet werden an den Erhaltungsbedingungen der ökologischen Voraussetzungen der Ökonomie und diese eingebettet wird in eine soziale Rahmenordnung, die sich dem ethisch-politischen Projekt der Moderne verpflichtet weiß. Soll die technisch-industrielle Zivilisation Zukunft haben, muss sie der Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen einen ebenso wichtigen Rang einräumen wie dem Streben nach wirtschaftlichem Wohlstand und nach sozialer Gerechtigkeit. Jedes dieser Teilziele ist nur erreichbar, wenn es bei allen gesellschaftlichen Zukunftsentscheidungen in seiner Unablösbarkeit von den beiden anderen Teilzielen gesehen und angestrebt wird.

3. Zukunftsfähigkeit: "Sustainable development" als Leitbild einer Ökologischen Sozialethik

Die Funktion des sozial-ökologischen Leitbildes der Nachhaltigkeit besteht darin, eine gesellschaftlich konsensfähige, kritische Vorstellung einer "anderen" Zukunft als handlungsleitendes Gegenbild zur gegebenen Situation zu formulieren. Das "Nachhaltigkeits-Konzept" steht quer zu kurzfristigen sozio-kulturellen Zieldefinitionen (z. B. in der Debatte um die Sicherung des Standortes Deutschland) und fordert dazu auf, Szenarios eines umfassenden sozial-ökologischen Wandels zu entwickeln. Sozialethisch ist das "Nachhaltigkeits-Konzept" fundiert über die Prinzipien inter- und intragenerationeller Gerechtigkeit sowie über die treuhänderische Wahrnehmung der unverzweckbaren Belange der Natur durch den Menschen. Verantwortbar ist in diesem Kontext nur eine solche sozio-ökonomische Entwicklung, welche die elementaren Bedürfnisse und verallgemeinerungsfähigen Interessen gegenwärtiger Generationen befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre ebenso berechtigten Bedürfnisse und Interessen nicht befriedigen können, und ohne zu verkennen, dass die Natur nicht darin aufgeht, nur für den Menschen da zu sein.

Das "Sustainability-Konzept" fordert, Ökonomie, Technik und Kultur sowohl miteinander zu "synchronisieren" als auch auf Dauer an der Tragekapazität der ökologischen Systeme auszurichten. Für die Operationalisierung der Größen "Tragekapazität", "Vernetzung" und "Nachhaltigkeit" stehen Abwägungsregeln zur Verfügung, die sowohl naturwissenschaftlich quantifizierbare, zeitlich-räumliche Parameter berücksichtigen müssen als auch sozialethisch qualifizierbare, sozio-kulturelle Postulate in Anschlag bringen. In deren Zentrum steht der Gedanke der "korrektiven Gerechtigkeit" : Insofern die Natur mit ihrer sozial-ökologischen Tragekapazität das Gemeineigentum, die "Allmende" der Menschheit darstellt, ergeben sich generationenübergreifende Nutzungsrechte und Erhaltungspflichten. Eine Generation, die sich das Recht nimmt, durch Bevölkerungswachstum und expansive Ökonomie die Tragekapazität der Natur zu belasten, hat die Pflicht, im Maße der eingetretenen Belastung für ökologische Entlastungen zu sorgen. Daraus lassen sich folgende elementare "Managementregeln" der Nachhaltigkeit ableiten:

1. Das Zeitmaß menschlicher Eingriffe in die Umwelt muss im ausgewogenen Verhältnis zum Zeitmaß der für das Reaktionsvermögen der Umwelt (d. h. Regeneration, Absorption, Neutralisierung) relevanten natürlichen Prozesse stehen. Im Idealfall bewegt sich z. B. der Schadstoffeintrag in ein Gewässer innerhalb der Kapazität des Gewässers zur Selbstreinigung. Diese Kapazität kann durch künstliche Eingriffe von außen stabilisiert oder erhöht werden, sofern diese Eingriffe wiederum hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und Nebenwirkungen umweltverträglich sind.

2. Die Nutzungsrate erneuerbarer Naturgüter darf auf Dauer nicht größer sein als ihre Regenerationsrate. Bei nichterneuerbaren Naturgütern (z. B. fossile Brennstoffe) ist frühzeitig gleichwertiger funktionaler Ersatz zu schaffen (z. B. Solarenergie). Ihre Nutzungsrate darf auf Dauer nicht größer sein als die Ersetzungsrate all ihrer Funktionen.

3. Nutzungschancen an global zugängliche Ressourcen sind gerecht zu verteilen. Kommenden Generationen darf keine Welt hinterlassen werden, die in einem solchen Ausmaß ökologisch belastet ist, das auch gegenwärtigen Generationen nicht zugemutet werden kann. Entscheidungen über Handlungen mit Fernwirkungen sind von den Entscheidungsträgern daraufhin zu prüfen, ob sie solche Entscheidungen auch dann fällen würden, wenn sie selbst unter ihren negativen Auswirkungen am meisten zu leiden hätten.

4. Von einer nachhaltigen Entwicklung kann dann gesprochen werden, wenn den künftigen Generationen bei der Wahl des ihnen gemäßen Lebensstils zumindest jene Möglichkeiten offen stehen, die sich die heute lebenden Menschen selbst als verantwortbaren Lebensstil zubilligen. Streng genommen darf hierbei nur der Lebensstil als Referenzgröße genommen werden, der sich bei Beachtung der Nachhaltigkeitsregeln 1-3 einstellen würde.

Natürlich dienen diese Managementregeln lediglich der "Peilung" sozial-ökologisch optimaler Positionen und Situationen. Sie bedürfen der weiteren Differenzierung und ständigen Fortschreibung über öffentliche deliberative Verfahren. Vor allem aber kommt es darauf an, sie über ihre kriteriologische Funktion hinaus anschlussfähig zu machen an die in den Teilsystemen Wirtschaft und Technik geltende Funktionslogik und gleichzeitig daran zu erinnern, dass sozialer Ausgleich, ökonomische Effizienz und ökologische Nachhaltigkeit in einem wechselseitigen Bedingungs- und Ermöglichungsverhältnis stehen .

Wenn eine Ökologische Sozialethik die mit ihrer Selbstbeschreibung verknüpften Erwartungen erfüllen will, muss sie sich sowohl auf der Ebene der Grundlagenreflexion als auch im Hinblick auf die Etablierung sozial-ökologischer Diskurse und der gesellschaftlichen Implementierung umweltethischer Normen vermehrt erheblichen Anstrengungen unterziehen. Ihre Kompetenz wird dabei vor allem darin liegen, die Entwicklung partizipativer Verfahren der öffentlichen Willensbildung und Entscheidungsfindung in ökologisch sensiblen Angelegenheiten voranzutreiben, sowie rational nachvollziehbare und politisch praktikable Kriterien zur Gestaltung gesellschaftlicher Naturverhältnisse unter dem Leitbild der Nachhaltigkeit zur Verfügung zu stellen .

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Martin Jänicke u. a., Lern- und Arbeitsbuch Umweltpolitik, Bonn 1999; Jörn Altmann, Umweltpolitik. Daten, Fakten, Konzepte für die Praxis, Stuttgart 1997, S. 215-375.

  2. Vgl. die Übersicht von Gottfried Zirnstein, Ökologie und Umwelt in der Geschichte, Marburg 1996².

  3. Vgl. Ernst Ulrich von Weizsächer, Erdpolitik. Ökologische Realpolitik als Antwort auf die Globalisierung, Darmstadt 19975.

  4. Vgl. Hans-Joachim Höhn, "Vergesellschaftete Natur". Reflexionsstufen einer Ökologischen Sozialethik, in: Helmut Reinalter (Hrsg.), Perspektiven der Ethik, Innsbruck - Wien - München 1999, S. 202-218; ders., Natur - Gesellschaft - Kultur. Auf dem Weg zu einer ökologischen Sozialethik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 20/1991, S. 28-35.

  5. Vgl. die Studien von Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986; ders., Weltrisikogesellschaft, Weltöffentlichkeit und globale Subpolitik. Ökologische Fragen im Bezugsrahmen fabrizierter Unsicherheiten, in: Andreas Diekmann/Carlo C. Jaeger (Hrsg.), Umweltsoziologie, Opladen 1996, S. 119-147.

  6. Vgl. Jürgen Scheffran/Wolfgang R. Vogt (Hrsg.), Kampf um die Natur. Umweltzerstörung und die Lösung ökologischer Konflikte, Darmstadt 1998.

  7. Vgl. Christoph Görg, Gesellschaftliche Naturverhältnisse, Münster 1999; Karl Werner Brand (Hrsg.), Soziologie und Natur. Theoretische Perspektiven, Opladen 1998; Bernd Hamm, Struktur moderner Gesellschaften (Ökologische Soziologie 1), Opladen 1996.

  8. Vgl. Ludger Honnefelder, Welche Natur sollen wir schützen?, in: Gaia, 2 (1993), S. 253-264.

  9. Hubert Markl, Natur als Kulturaufgabe, München 1991², S. 197.

  10. Zu diesem veränderten Naturverständnis vgl. Gernot Böhme, Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/M. 1992, S. 107-124.

  11. Ebd., S. 115.

  12. Vgl. Dieter J. Krieger/Christian J. Jäggi, Natur als Kulturprodukt. Kulturökologie und Umweltethik, Basel - Boston - Berlin 1997.

  13. Zu dieser Kernfrage ökologischer Ethik vgl. Dieter Birnbacher, "Natur" als Maßstab menschlichen Handelns, in: ZPhF, 45 (1991), S. 60-76; Ludger Honnefelder, Natur als Handlungsprinzip. Die Relevanz der Natur für die Ethik, in: ders. (Hrsg.), Natur als Gegenstand der Wissenschaften, Freiburg-München 1992, S. 151-190.

  14. Vgl. Hans-Joachim Höhn, Zwischen Naturrecht und Diskursethik. Überlegungen zur Begründungsproblematik der Christlichen Sozialethik, in: Anton Rauscher (Hrsg.), Christliche Soziallehre heute. Probleme, Aufgaben und Perspektiven, Köln 1999, S. 49-91.

  15. Manuel Schneider, Natur integrieren. Gedanken zu einer konvivialen Ethik, in: Integrative Therapie, (1994) 1-2, S. 44.

  16. Vgl. Wilhelm Vossenkuhl, Ökologische Ethik. Über den moralischen Charakter der Natur, in: Information Philosophie, 21 (1993) 1, S. 6-19.

  17. Vgl. Markus Vogt, Retinität: Vernetzung als ethisches Leitprinzip für das Handeln in komplexen Systemzusammenhängen, in: Forum für interdisziplinäre Forschung, 15 (1996), S. 159-197.

  18. Vgl. Hans Mohr, Qualitatives Wachstum. Losung für die Zukunft, Stuttgart 1995, S. 53.

  19. Vgl. Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, S. 419-421.

  20. Zahlreiche instruktive Beispiele bieten hierfür Anja Knaus/Ortwin Renn, Den Gipfel vor Augen. Unterwegs in eine nachhaltige Zukunft, Marburg 1998.

  21. Vgl. hierzu Hans-Joachim Höhn, Technik und Natur, in: ders. (Hrsg.), Christliche Sozialethik interdisziplinär, Paderborn u. a. 1997, S. 263-289.

Dr. theol. habil., geb. 1957; seit 1991 Professor für Systematische Theologie an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln.

Anschrift: Universität zu Köln, Philosophische Fakultät, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln.

Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Christliche Sozialethik interdisziplinär, Paderborn u. a. 1997; Zerstreuungen. Religion zwischen Sinnsuche und Erlebnismarkt, Düsseldorf 1998.