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Was entscheidet die Wahl? | Wählen gehen | bpb.de

Wählen gehen Editorial Was entscheidet die Wahl? Zu Themen und Wahlmotiven im Superwahljahr 2017 Warum wählen wir? Zur Etablierung und Attraktivität von Massenwahlen Garantieren Wahlen demokratische Legitimität? Für eine Wahlpflicht Gegen eine Wahlpflicht E-Voting in Estland: Vorbild für Deutschland?

Was entscheidet die Wahl? Zu Themen und Wahlmotiven im Superwahljahr 2017 - Essay

Karl-Rudolf Korte

/ 15 Minuten zu lesen

2017 ist gekennzeichnet von einer Repolitisierung der Mitte. Dabei sind die Wahlmotive abweichend von früheren Wahlen: Es stehen nicht nur Personen und Parteien zur Wahl, sondern in Zeiten des Populismus das Gesellschaftsmodell der Demokratie an sich.

Wählerinnen und Wähler legitimieren das politische System. Über die Wahl ihrer Repräsentantinnen und Repräsentanten steuern alle Wahlbeteiligten die Herstellung demokratischer Legitimität. Nur Parteien stellen sich regelmäßig diesen Wahlen. Sie haben damit einen Legitimationsvorsprung vor allen anderen politischen Organisationen. Parteien sichern gleichzeitig beteiligungsgerechte Partizipation. Für die demokratische Willensbildung sind sie unverzichtbar, für den Wahlakt unersetzbar, für die Regierungspraxis essenziell. Sie sind Machterwerbsorganisationen, Problemlösungsagenturen, Gesinnungsgemeinschaften oder auch Lebensstilbastionen – je nachdem, welcher konkrete Nutzen die Menschen jeweils als Mitglieder in die Parteien treibt.

Doch das sind abstrakte oder allgemeine Motive und Gründe, warum Wahlen über Parteien und deren Kandidatinnen und Kandidaten in einem freien System wichtig sind. Hinzu kommen spezifische Gründe für den Wahlakt, die sich in der Wahlkonstellation abbilden. Im Superwahljahr 2017 – mit vier Landtagswahlen, der Wahl zum Bundespräsidenten und der Bundestagswahl – lassen sich diese Kontexte über die Themen Sicherheit und Identität eingrenzen. Anders als die Euro-Krisen vor den zurückliegenden Bundestagswahlen spricht vor allem das komplexe Thema Sicherheit die Gefühle der Wähler an. Die Motive, zur Wahl zu gehen, sind somit 2017 vielschichtiger, weil nicht nur Rationalität und Irrationalität, sondern auch Emotionen die Entscheidungen in den Wahlkabinen leiten werden.

Insbesondere die folgenreiche Flüchtlingsentscheidung der Bundeskanzlerin vom 4. September 2015 – über die begrenzte Aufnahme syrischer Flüchtlinge aus Ungarn – ist zum Prägestempel der Großen Koalition geworden: Der Sommer 2015 war der Kipp-Punkt des Regierens, der auch für den Ausgang der Bundestagswahl 2017 von Bedeutung sein dürfte. Für die deutsche Einwanderungsgesellschaft wirkt der anhaltende Globalisierungsschub noch immer als externer Schock. Denn kaum ein Thema ist so lebensnah und emotional im Alltag der Bürgerinnen und Bürger verankert wie der Umgang mit neuen Fremden. Dabei geht um eine Mixtur aus Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen, um Identität und Sicherheit – letztlich um eine Übersetzung des sperrigen Globalisierungsbegriffs in die eigene Lebenswelt. Die damit verbundenen Themen prägen sowohl die interpersonale Kommunikation und die Richtung der wahlentscheidenden Anschlussgespräche als auch die Ausdifferenzierung des Parteienspektrums und die Regierungsbildungen.

So hat die Flüchtlingspolitik die jüngste Ausdifferenzierung des Parteienwettbewerbs klar befördert: Aufstieg und (möglicherweise) Fall der AfD sind eng mit ihr verknüpft. Durch die Konzentration auf die Themen Sicherheit und Identität und die damit einhergehende Repolitisierung der Gesellschaft verloren die kleinen Milieuparteien massiv an Zustimmung, vor allem die Grünen. Abweichend von den vorhergehenden beiden Bundestagswahljahren 2009 und 2013 hat der "emotionale Klimawandel" der Republik wieder zu einer polarisierenden Auseinandersetzung um Mobilisierungsthemen geführt. Privat wie öffentlich liefern die Herausforderungen der deutschen Einwanderungsgesellschaft den Stoff für laute, emotionale, rationale und irrationale Auseinandersetzungen. Die Repolitisierung ist somit ein starkes Motiv, wählen zu gehen.

Die Suchbewegungen sind dabei grundsätzlich an vier wichtigen Grundbedürfnissen ausgerichtet: Erstens kognitiv – ob die Wähler die Welt, in der sie leben und handeln, verstehen; zweitens emotional – ob sie das Gefühl für Sicherheit und Geborgenheit haben; drittens politisch – ob sie den Eindruck gewinnen, dass es fair, gerecht, sozial und demokratisch zugeht; und viertens schließlich partizipativ – ob sie sich einbringen und teilhaben können. Wählerinnen und Wähler erwarten von den Parteien Antworten auf entsprechende Fragen. Bleiben sie unbeantwortet oder unklar, erhöht dies die Anteile der Nichtwähler.

Mobilisierungsmuster im Kampf um die verunsicherte Mitte

Der Parteienmarkt kam in Deutschland selten polarisiert daher. Desintegration entwickelt sich, wenn extreme Parteien an Zuspruch gewinnen. Noch immer gruppiert sich das Parteiensystem in Deutschland um drei wichtige große gesellschaftspolitische Konfliktlinien: um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, um kulturelle Differenzen der politischen Partizipation (libertär oder autoritär) sowie um das relative Gewicht von Staat und Markt. Doch seit einiger Zeit kommt eine neue, vierte gesellschaftspolitische Konfliktlinie wirkmächtig hinzu. Es ist das ideologische Konfliktpotenzial zwischen kosmopolitischen und kommunitaristischen Werten. Gemeint ist das Spannungsfeld zwischen globalisierten Weltbürgern und nationalkonservativen Gemeinschaften.

Angesichts dieser vier Konfliktlinien ist der Parteienwettbewerb in der ersten Jahreshälfte 2017 deutlich ins ideologische Zentrum zurückgekehrt. Die politische Mitte meldet sich zurück. Das Parteiensystem hatte sich zwischen 2013 und 2016 – vor allem durch die Erfolge der AfD – nach rechts verschoben. Die Segmentierung und die Polarisierung des Parteienwettbewerbs steigerten sich mit der Ankunft und der Parlamentarisierung des Rechtspopulismus in Deutschland. Dieser Prozess scheint vorerst gestoppt oder zumindest eingehegt zu sein. Drei Ursachen können dafür benannt werden: erstens die deutlich nachlassenden Flüchtlingszahlen, zweitens die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und drittens die Nominierung von Martin Schulz als Kanzlerkandidat der SPD.

Alle drei Aspekte liefern Gründe für die Stärkung der traditionellen Volksparteien der Mitte. Es ist ein internationaler Begleitzug, der den Sog in die politische Mitte neu belebt hat. Dies ist vor allem seit den Präsidentschaftswahlen in den USA 2016 zu beobachten. Die öffentlichen Diskussionen – beginnend mit dem Brexit-Votum in Großbritannien, die Parlamentswahlen in den Niederlanden und die Wahlen in Frankreich im ersten Halbjahr 2017 – haben eine Stimmungslage erzeugt, die offenbar die schweigende Mehrheit nochmals besonders politisiert hat. Mit einer Art von Gegenmobilisierung gegen die Feinde der repräsentativ verfassten Demokratie brechen sich Bewegungen wie beispielsweise "Pulse of Europe" Bahn, um aktiv für die offene Gesellschaft und die europäische Integration zu werben.

Nach der Nominierung von Martin Schulz als Kanzlerkandidat und seiner Wahl zum Parteivorsitzenden der SPD entwickelte sich ein Strom aus Hoffnung und Euphorie. Nach vielen Jahren der degressiven Stagnation lagen die Sozialdemokraten im Februar und März 2017 in den Sonntagsfragen gleichauf mit der Union. Das waren zwar Momentaufnahmen, aber dennoch deuteten sie auf eine Veränderungsdynamik hin. Die Konsequenzen tragen die kleineren Parteien, die auf politische Eigenständigkeit pochen und somit in der Regel keine Koalitionsaussagen treffen. Der Abstand zwischen den beiden großen Volksparteien und den kleineren Parteien wird größer. Auch Protestparteien marginalisieren sich unter dem Druck, der aus dem Zentrum des Parteienwettbewerbs entsteht.

Seit der Bundestagswahl 2005 gibt es in Deutschland ein asymmetrisches, changierendes Fünf- beziehungsweise Sechs-Parteiensystem, was sowohl für die Regierungsbildung im Bund als auch in den Ländern weitreichende Konsequenzen hat. Entlang der tradierten parteipolitischen Lager sind jenseits der Großen Koalition keine mehrheitsfähigen Bündnisse mehr kalkulierbar, wie es jahrzehntelang der Fall war. Die Unübersichtlichkeit wurde dadurch noch vergrößert, dass das Potenzial der SPD als Multikoalitionspartei bis kurz nach der Bundestagswahl 2013 de facto auf Eis lag.

In den Bundesländern ist die "defekte Linke" inzwischen längst überwunden. Rechnerisch ergibt sich auch im Bundestag bereits jetzt eine linke, rot-rot-grüne Mehrheit. Das gilt auch für mehrere Landtage. Paradoxerweise erhält Rot-Rot-Grün rechnerisch aber gerade dann Mehrheiten, wenn die einzelnen Parteien nicht mit entsprechenden Koalitionsaussagen zur Wahl antreten. Steht dieses Bündnis als Option für die Wähler bereit, wie im März 2017 im Saarland, hat das eher abschreckende Wirkung. Für die SPD kann sich die Variante "Doppel-Rot" zudem auch aus der Dynamik des Parteiensystems als hinderlich erweisen: Denn ein eher linker Gerechtigkeitswahlkampf – mit signifikanten und symbolischen Änderungen an der Agenda 2010 – zieht Wähler und Nichtwähler von der Linken direkt zur SPD, was Mehrheiten unwahrscheinlicher macht.

Fast 30 Prozent der Wähler haben bei der Bundestagswahl 2013 ihre Stimme gesplittet, waren also rationale Koalitionswähler. Dieses Wahlmotiv setzt jedoch voraus, dass klar ist, welche Koalitionen eine Machtoption haben könnten. Im Moment gleicht der Wahlschein eher einem Lotterieschein, denn ohne die Große Koalition sind in der Koalitionsrepublik Deutschland (mit zahlreichen unterschiedlichen Koalitionsformaten in den Landesregierungen) viele Varianten denkbar, die ohne den Wähler im Prozess der Regierungsbildung zustande kommen könnten.

Ein weiterer Mobilisierungsbefund: Wahlkämpfe lohnen sich wieder, wenn man den Daten der Umfrageinstitute glaubt. Aufholjagden mobilisieren Parteimitglieder und Wähler. Dies war nicht zuletzt im Mai 2017 bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zu beobachten. Hier zahlte sich der Amtsbonus für die SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft nicht aus, stattdessen gewann der CDU-Kandidat Armin Laschet, dem lange Zeit deutlich geringere Chancen eingeräumt worden waren. Wähler lieben nicht nur Favoriten, sondern wollen auch gerne bei den Siegern sein. Wähler sind Fans des Erfolgs. Umfragen können insofern demobilisieren, wenn ein bestimmter Ausgang aussichtslos erscheint, aber auch mobilisieren, wenn es knapp werden könnte.

StilPluralität und politische Ereignisgewitter

Status-Quo-Wähler stärken immer das Bekannte. Die Vorstellungen darüber, wie politisches Spitzenpersonal zu agieren hat, waren über viele Jahre relativ konstant. Anders wären die Wiederwahlen von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit ihrem politischen Führungspersonal der bürgerlichen Mitte nur schwer zu erklären. In Zeiten von dramatischen Risikoentscheidungen kommt dieses Personal größtenteils unaufgeregt, geschäftsmäßig und unprätentiös daher. Kalkuliert unauffällig und mit erklärungsarmem Pragmatismus ausgestattet, arbeitet es viele Probleme effektiv und stellvertretend für die Bürger ab. Die Wähler wollen mit den Problemen möglichst nicht behelligt werden, erst recht, sobald der Wahltag vorbei ist. Weit und breit grassiert Risiko-Unlust.

Die deutschen Wählerinnen und Wähler favorisieren offenbar schon seit Längerem keine Power-Entscheider, die vor allem kraftstrotzend und selbstdarstellerisch vorgehen. Stattdessen bevorzugen sie vielmehr Politikerinnen und Politiker, die den Bescheidenheitsimperativ vorleben, die problemlösend dienen, statt sich in erster Linie selbst zu inszenieren – eher Amtsinhaber als Staatsmänner. In Zeiten der täglich medial vermittelten Krisendynamik goutieren die Deutschen mehrheitlich einen Politikstil, der auf Problemlotsen abzielt. Früher wurde für Führungspersönlichkeiten häufig das Bild des hierarchisch und mit Überblick navigierenden Steuermannes bemüht. Heute gilt es, sich postheroisch im Verbund mit vielen anderen permanent und gipfelbeseelt abzustimmen: Kleinteiliges Vielfaltsmanagement ist gefragt. Die politische Lage kann sich heute so rasch ändern, dass Risikokompetenz und Sensibilität für das Eintreten unerwarteter Ereignisse als Führungsressourcen unersetzbar geworden sind.

Der intelligente Umgang mit Nichtwissen wird dabei zur Auszeichnung für Spitzenpolitiker. Das politische Ereignisgewitter steigert für die Spitzenakteure in der Politik die Herausforderung, mit Ungewissheit umzugehen. Viele Krisen, wie etwa die Finanzmarktkrise oder die Flüchtlingsthematik, sind auch Wissenskrisen, bei denen uns wichtige Informationen und Erkenntnisse fehlen, um sie längerfristig lösen zu können. Politiker sind gut beraten, wenn sie pragmatisch im Modus des Abwartens, des Beruhigens, des Kümmerns, idealerweise sogar des substanziellen Verzögerns agieren. Innenpolitisch wirkt das fast immer präsidentiell, also überparteilich.

Doch auch dieser Stil ist auf dem Wählermarkt nicht konkurrenzlos. Denn die Neugierde der Bürger an anderen Führungstypen nimmt ebenso zu wie der Stellenwert von Emotionen im politischen Geschäft. Das ist zunächst ein international sichtbares Phänomen, was sich an der Renaissance von autokratischen, autoritären und populistischen Regimen zeigt, die mit identitärer Stärke und halbstarken Typen voller Rauflust und Eskalationsgehabe punkten – immer mit absichtsvoller Verletzung demokratischer Usancen. Charismatische Züge trägt aber auch der Typus der "muskulären Politik": Dieser Stil stellt emotionale Leidenschaft geräuschvoll, polarisierend und angriffsbereit ins Zentrum der eigenen Darstellungspolitik.

In Deutschland zeigen sich Varianten unterschiedlicher Führungsstile, die in der politischen Mitte demokratisch verortet sind. Mit Martin Schulz hat die SPD einen Kandidaten für das Bundeskanzleramt benannt, dessen Stil auf die Wähler kontrastierend zum Stil Merkels wirkt. Er kommt als vertrauter Nachbar daher; ihn hat sowohl das kommunale Basislager der Demokratie als auch seine Zeit im Europäischen Parlament geprägt. In der Berliner Republik hatte er bislang noch keinen öffentlich sichtbaren Job – mit Blick auf die Bundespolitik verfügt der Brüssel-Rückkehrer daher über den Charme des Anti-Etablierten. Er kann konfrontieren, muss nicht kooperieren. Schulz weckt in der SPD Hoffnungen, und er formuliert auch offensiv den Anspruch, Bundeskanzler zu werden. Innerhalb der SPD hat er damit nicht nur Erwartungen und Sehnsüchte geweckt, sondern auch leidenschaftliche Bekenntnisse ausgelöst. Den nüchternen, pragmatisch-kühlen Stil der Kanzlerin kontert er mit Ideologie, Emotion und lauter, zivilisierter Streitkultur. Die innerparteilichen und öffentlichen Zustimmungswerte für Schulz zu Beginn des Jahres 2017 dokumentierten die Mischung aus Autosuggestion der SPD und öffentlicher Neugierde. Ob die SPD mit einer gezielten Mobilisierungsstrategie im Endspurt zur Bundestagswahl wieder daran anknüpfen kann?

Im Superwahljahr 2017 ist somit eine Stilpluralität erkennbar, ohne jedoch vorhersagen zu können, ob das bewährte "Nüchtern-Abarbeitende-Deeskalierende" oder das "Leidenschaftlich-Gestaltende-Gerechtigkeitsgetriebene" am Ende vom Wähler stärker honoriert wird. Fest steht aber, dass die deutschen Wähler tendenziell eher Regierungschefs abwählen als neue Amtsinhaber zu inthronisieren.

Sicherheit schlägt Gerechtigkeit

Bislang galt für die zurückliegenden Wahlkämpfe: Nicht Gerechtigkeits- und Bürgerrechtsthemen dominierten die politische Auseinandersetzung, sondern Wohlfahrtsversprechen. (Soziale) Sicherheit ist in der Wahlarena wichtiger als (soziale) Gerechtigkeit. Seit 2005 wurden – links wie rechts – nicht diejenigen gewählt, die am meisten Veränderungen versprachen, sondern diejenigen, die am plausibelsten machen konnten, dass sie in der Lage seien, die Bürger vor den Unbilden der Zukunft zu schützen. Bürgerliche Wähler fordern Stabilitätsgarantien. Sie möchten, dass die Politik den Status quo sichert. Angesichts eines Wählerklientels, das mehrheitlich älter als 55 Jahre alt ist, wird dies auch bei der Bundestagswahl 2017 nachvollziehbar bleiben. Nicht direkte Verteilungsfragen sind besonders wichtig, sondern eher Ligaturen, die ein Minimum an sozialer Sicherheit und Planbarkeit der eigenen Biografie für das Familien- und Arbeitsleben garantieren und gleichzeitig den Charme von Modernität versprühen. Mit Schulz als Kanzlerkandidat änderten sich – zumindest im Frühjahr 2017 – sowohl das öffentliche Agenda-Setting als auch die Betroffenheitsszenarien. Das Navigieren dicht am Alltagsleben spielte in der Projektionsfläche des Schulz-Hypes eine große Rolle: "Es geht endlich mal wieder um mich – nicht mehr nur um international zu managende Krisen oder um Flüchtlinge", so schien zumindest kurzzeitig die Wahrnehmung vieler Menschen zu sein.

Das Primat der Sicherheit steht 2017 zwar nach wie vor im Zentrum, aber mit veränderten Ausprägungen. Innere und äußere Sicherheit sind den Bürgern extrem wichtig, ohne dabei angesichts drohender terroristischer Gewalttaten in eine Panikstimmung zu verfallen. Soziale Sicherheit als Absicherung des sozialen Status spielt eine viel größere Rolle als in zurückliegenden Wahlkämpfen. Der gesellschaftliche Deutungskonsens, in einer Abstiegsgesellschaft zu leben, hat die sogenannte Mittelschicht über Ungleichheitsdiskurse erreicht. Die Diskussionen über Ungerechtigkeiten und extreme Verzerrungen im Bereich von Einkommen und Vermögen prägen die öffentliche Arena als Narrativ "soziale Gerechtigkeit".

Neue Akzente setzt der Begriff der kulturellen Sicherheit. Hier werden Identitätsfragen mit Sicherheitsvariablen angereichert. Wer gehört zu uns? Solidarität und Zugehörigkeiten stehen auf dem Prüfstand. Wieviel Heterogenität verträgt eine globalisierte Nation? Wieviel Vielfalt ist dysfunktional? Diese Thematisierungen greifen die Impulse auf, die sich im Kontext der Einwanderungsgesellschaft stellen und seit dem Sommer 2015 die Diskussion um Flüchtlinge und Asyl in Deutschland öffentlich charakterisieren.

Eindeutig sind die Thematisierungsbefunde im Hinblick auf die Folgen für das öffentliche Klima. Es wird ganz offensichtlich wieder über die Rangfolge von Werten gerungen und gestritten: Was steht an oberster Stelle – Sicherheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität? In dem Maße, wie durch die Kandidatur von Martin Schulz über Themen von Gerechtigkeit und Sicherheit ein politischer Streit unter Wettbewerbern entstanden ist, verdrängt dieser inhaltliche Mitte-Diskurs alle anderen Themen, die über Monate von der Koalition der Empörten und Verängstigten gesetzt wurden. Nachrichtenwert haben ganz offensichtlich wieder Auseinandersetzungen um kontroverse Problemlösungen und nicht mehr vorrangig populistische Usancen. Die Mitte ist im Hinblick auf den Parteienwettbewerb zurückgekehrt, und sie prägt den öffentlichen Diskurs – auch jenen um Sicherheit und Identität. Der Zenit einer Protestpartei wie der AfD, die mit dem Thema "Flucht und Asyl" und "Anti-Islam" über Monate mobilisieren konnte, scheint überschritten, unter anderem auch, weil die Volksparteien das Drama der Differenzierung inhaltlich suchen.

Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten

Die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl wird steigen, darauf deuten die Landtagswahlen 2016 und 2017 mit teils drastisch zunehmender Wahlbeteiligung hin. Die Wahlarena 2017 ist gekennzeichnet von einer Repolitisierung der Mitte. Der Bundestagswahlkampf unterscheidet sich von den vorhergehenden bislang deutlich: Er lief spät an, ist dafür aber themenzentrierter, polarisierter, emotionaler und auch lauter. Nach Wechselstimmung sah es lange Zeit nicht aus – aber wenn über 16 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer das einzige TV-Duell zwischen der Kanzlerin und dem Herausforderer verfolgen, spricht das zumindest für das große Interesse an der Bundestagswahl. Die Jagdsaison der Wahlkämpfer auf die Spätentscheider ist damit traditionell eröffnet. Denn die immer größer werdende Teilung des Wählermarktes in Frühwähler (rund 30 Prozent Briefwähler) und Spätentschlossene, die sich erst 48 Stunden vor Schließung der Wahllokale festlegen, macht Wahlkämpfe immer anspruchsvoller für Strategen.

Die Kanzlerin polarisiert dabei nicht als Person. Deshalb wirkt sie auch immer wie eine moderierende "Kanzlerpräsidentin". Da ist es für jeden Kontrahenten extrem schwer, Wähler für sich zu mobilisieren, wenn Polarisierung nicht verfängt. Doch das größte Handicap für eine anhaltend heftige zivilisierte Streitkultur im Wahljahr liegt am Format der Großen Koalition. Warum wählen, wenn auch der Herausforderer möglicherweise einer künftigen Regierungskoalition angehört?

Offenbar treibt es viele Bürger an, nach mehreren Bundestagswahlen wieder eine wirkliche Wahl zu haben – jenseits der Berliner Macht-Monotonie. Zumindest ein wenig: Denn gerade in unsicheren Zeiten überzeugt das Bekannte eher als das Unbekannte. In dieser Ambivalenz liegt der Spielraum der Wahlkampagnen. Begrenzte Aggressivität, Sicherheitsbotschaften und Zukunftskompetenz bleiben die Variablen auf der Angebotsseite der Parteien.

Die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten wird zum Signum dieses multidimensionalen Wahljahres. Trends und Gegentrends gelten zeitgleich: Globalisierungsfurcht und Entgrenzungssorgen befeuern eine Diskussion um Identität und Sicherheit. Gleichzeitig wächst der Zuspruch für Europabefürworter und neue Fans des internationalen Freihandels. Nüchterne Weiter-so-Politiker ("Keine Experimente!") konkurrieren mit leidenschaftlichen Gestaltern. Protest- und Empörungspotenziale sowie eine diffuse antielitäre Wut bleiben in einer Einwanderungsgesellschaft virulent. Gleichzeitig erstarkt die politische Mitte mit traditionellen Volksparteien und Anwälten der offenen Gesellschaft. Internationale Ereignisse bestimmen wirkmächtig die öffentliche politische und mediale Agenda, gleichzeitig bleibt aber auch viel Raum für regionale Themen und Probleme.

Aus der Konsumforschung sind Käufer als multiple Persönlichkeiten bekannt. Die paradoxen Eigenschaften führen dazu, dass Kundinnen und Kunden verschiedene Konsummuster in einer Person vereinen. Das gilt heute auch für eine Vielzahl von Wählerinnen und Wählern mit inneren Widersprüchen, die über Wahrnehmungen, Einstellungen, Wünsche und Absichten verfügen, die nur schwer alle miteinander zu vereinbaren sind. Verlässliche Szenarien lassen sich daraus weder für Partei- noch für Wahlkampfstrategen ableiten. Einmal mehr gilt, dass Wahlkämpfe Marathonläufe mit Fotofinish sein können. Doch die Wahlmotive 2017 sind speziell und abweichend von früheren Wahljahren. Diesmal stehen nicht nur Personen und Parteien zur Wahl, sondern in Zeiten des internationalen Populismus auch das Gesellschaftsmodell der Demokratie.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Georg Blume et al., Grenzöffnung für Flüchtlinge: Externer Link: Was geschah wirklich?, in: Die Zeit, 18.8.2016; Robin Alexander, Die Getriebenen. Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Innern der Macht, München 2017.

  2. Vgl. Sandra Mitchell, Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen, Frankfurt/M. 2008.

  3. Vgl. Christoph Bieber et al. (Hrsg.), Regieren in der Einwanderungsgesellschaft. Impulse zur Integrationsdebatte aus Sicht der Regierungsforschung, Wiesbaden 2017; Friedbert W. Rüb, Rapide Politikwechsel in der Bundesrepublik. Theoretischer Rahmen und empirische Befunde, Baden-Baden 2014.

  4. Vgl. Nicole Podschuweit/Stephanie Geise, Wirkungspotenziale interpersonaler Wahlkampfkommunikation, in: Zeitschrift für Politik 4/2015, S. 400–420.

  5. Vgl. Bieber et al. (Anm. 3).

  6. Vgl. Warnfried Dettling, Parteien auf der Suche, in: Thinktank #8 – Wertewandel – neue Ideen für alte Werte, Berlin 2007.

  7. Vgl. Karl-Rudolf Korte, Die Bundestagswahl 2009 – Konturen des Neuen, in: ders. (Hrsg.), Die Bundestagswahl 2009, Wiesbaden 2010, S. 9–32; ders., Mit uns gähnt die neue Zeit, in: Der Tagesspiegel, 23.2.2015; ders., Wahlen in Deutschland, Bonn 20179.

  8. Vgl. Ulrich Eith/Gerd Mielke, Gesellschaftlicher Strukturwandel und soziale Verankerung der Parteien, in: Elmar Wiesendahl (Hrsg.), Parteien und soziale Ungleichheit, Wiesbaden 2017, S. 39–61.

  9. Vgl. Wolfgang Merkel, Schluss. Ist die Krise der Demokratie eine Erfindung?, in: ders. (Hrsg.), Demokratie und Krise, Wiesbaden 2015, S. 473–498; Eith/Mielke (Anm. 8).

  10. Vgl. Karl-Rudolf Korte, Bürgerliche Mitte. Wie die etablierten Parteien sie neu erkämpfen können, in: Die politische Meinung 540/2016, S. 14–21.

  11. Vgl. Frank Decker, Die Ankunft des neuen Rechtspopulismus im Parteiensystem der Bundesrepublik, in: Bieber et al. (Anm. 3), S. 55–61.

  12. Vgl. Oskar Niedermayer, Die Entwicklung des bundesdeutschen Parteiensystems, in: Frank Decker/Viola Neu (Hrsg.), Handbuch der deutschen Parteien, Wiesbaden 2007, S. 114–135; Korte 2010 (Anm. 7).

  13. Vgl. Korte 2015 (Anm. 7).

  14. Vgl. Guy Kirsch/Klaus Mackscheidt, Staatsmann, Demagoge, Amtsinhaber. Eine psychologische Ergänzung der ökonomischen Theorie der Politik, Göttingen 1985.

  15. Vgl. Karl-Rudolf Korte, Risiko als Regelfall. Über Entscheidungszumutungen in der Politik, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 3/2011, S. 465–477; ders., Politisches Entscheiden unter den Bedingungen des Gewissheitsschwundes: Konzeptionelle Antworten der Regierungsforschung, in: Peter Neuner (Hrsg.), Zufall als Quelle von Unsicherheit, Freiburg/Br. 2014, S. 123–163.

  16. Vgl. Karl-Rudolf Korte, Emotionen und Politik. Begründungen, Konzeptionen und Praxisfelder einer politikwissenschaftlichen Emotionsforschung, in: ders. (Hrsg.), Emotionen und Politik. Begründungen, Konzeptionen und Praxisfelder einer politikwissenschaftlichen Emotionsforschung, Baden-Baden 2015, S. 9–24.

  17. Vgl. Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay, Bonn 2016; Volker Weiß, Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2017.

  18. Vgl. Karl-Rudolf Korte, Mobilisierungen im Wahljahr 2017, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 4/2017, S. 56–60.

  19. Vgl. Karl-Rudolf Korte, Machtwechsel in der Kanzlerdemokratie, in: ders./Timo Grunden (Hrsg.), Handbuch Regierungsforschung, Wiesbaden 2013, S. 411–421.

  20. Vgl. Korte (Anm. 10).

  21. Zu dieser Gelassenheit vgl. Renate Köcher, Deutschland ist anders, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.12.2016.

  22. Vgl. Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2016; Till van Treeck, Politik in Zeiten von ökonomischer Ungleichheit und gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichten, in: Karl-Rudolf Korte (Hrsg.), Politik in unsicheren Zeiten. Kriege, Krisen und neue Antagonismen, Baden-Baden 2016, S. 131–144.

  23. Vgl. Externer Link: Jens Spahn, Die Mitte liegt rechts von der CDU, in: Die Zeit, 16.3.2017.

  24. Vgl. Karl-Rudolf Korte, Flüchtlinge verändern unsere Demokratie, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 1/2016, S. 87–94.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Karl-Rudolf Korte für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance. Externer Link: http://www.karl-rudolf-korte.de E-Mail Link: krkorte@uni-duisburg-essen.de