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Profilkrise und Funktionswandel | Parteien | bpb.de

Parteien Editorial Zwischen Anpassung und Profilierung Kontinuität im Umbruch Profilkrise und Funktionswandel Die F.D.P. an der Schwelle zum neuen Jahrhundert Die PDS zwischen Kontinuität und Aufbruch

Profilkrise und Funktionswandel Bündnis 90/Die Grünen auf dem Weg zu einem neuen Selbstverständnis

Helmut Wiesenthal

/ 22 Minuten zu lesen

Bei den Landtagswahlen von 1999 erlitten die Bündnisgrünen empfindliche Verluste. Sowohl innerhalb der Partei als auch in der Medienöffentlichkeit wird dies dem misslungenen Start der rot-grünen Koalition zugeschrieben.

I. Einleitung

Es war kein halbes Jahr vergangen seit dem Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung, als sich Bündnis 90/Die Grünen einer Serie von Tests auf ihre Krisenfestigkeit unterziehen mußten. Dem herben Stimmenverlust von vier Prozent bei der Hessenwahl im Februar 1999 folgte die innerparteiliche Zerreißprobe aufgrund des Bundeswehrengagements im Kosovo-Konflikt. Nachdem die Partei darauf hin die Europawahl vom Juni 1999 noch mit 6,4 Prozent der Stimmen (zuvor 10,1 Prozent) überstanden hatte, scheiterte sie in den Landtagswahlen von Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Die erhoffte Erholung im Osten ist in weite Ferne gerückt. Auch im Saarland sank man weit unter die Fünf-Prozent-Marke, und selbst in der einstigen Hochburg Berlin kam es zu einem Aderlass im nun schon üblichen Umfang von drei Prozentpunkten.

Die Mithaftung für zahlreiche Fehler der neuen Regierung, eine unglückliche Zwischenbilanz des grünen Umweltministers, das Wagnis der Befürwortung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr und die schwierige Rolle des Juniorpartners in einer Regierung mit widersprüchlichen Reformzielen - das alles scheinen Gründe genug, um das schlechte Image im Wahljahr 1999 zu erklären. Doch die Liste der Ursachen für heftige Selbstzweifel und das Wiederaufflammen des alten Richtungsstreits ist länger. Waren die so lange auf die Oppositionsrolle abonnierten Grünen tatsächlich vorbereitet, Regierungsverantwortung zu übernehmen? Bestehen nicht erhebliche Diskrepanzen zwischen den Erwartungen von Mitgliedschaft und Parteiaktiven auf der einen Seite und den Realitäten der Entscheidungsproduktion und -verantwortung in der Regierung auf der anderen? Eine tief greifende Selbstreform scheint unabweisbar, wenn die Grünen wieder als realitätstüchtig wahrgenommen werden wollen.

Das erste Jahr der Regierungsbeteiligung auf Bundesebene hat den Grünen nicht nur das Erfordernis einer gründlichen Parteireform eingebracht, sondern auch eine Reihe von Diagnosen und Therapievorschlägen, die der früher üblichen Neigung zu Polarisierung und Selbstlähmung entsagen. Allerdings bemessen sich die Chancen einer Reform der Partei auch nach den strukturellen Bedingungen der Ausgangslage und dem ,,Altbestand" an Krisenfaktoren. Gleichwohl lässt sich eine Option der Selbstgestaltung ausmachen, welche die Rückkehr in eine günstige Wettbewerbsposition verspricht .

II. Die neue Wettbewerbssituation der Bündnisgrünen

Weder das zeitweilige Stimmungstief der amtierenden Regierung noch die Probleme der Profilschärfung, welche den Grünen zu schaffen machen, lassen sich ohne einen Blick auf die prekäre Situation zeitgenössischer Mitte-Links-Regierungen verstehen. Damit ist zunächst die seit Ende der siebziger Jahre grundlegend veränderte Situation der westeuropäischen Sozialdemokratie angesprochen. Sozialdemokratische Parteien hatten ihren Zenit als Organisatoren eines Kompromisses zwischen Wirtschaftsinteressen und organisierter Arbeiterschaft schon bald nach den Ölpreisschocks der siebziger Jahre überschritten. Das war jedoch nicht nur der Krise keynesianischer Wirtschaftspolitik geschuldet, wie oft vermutet wird, sondern auch dem soziodemographischen Wandel . Sozialdemokratische Parteien leiden unter dem Schrumpfen der ihre Stammwählerschaft bildenden Industriebeschäftigten. Die rasch wachsenden ,,neuen Mittelschichten" des Dienstleistungssektors bieten keinen Ersatz, sondern begründen ein zuvor ungekanntes Erfolgsrisiko: Mittelschichtangehörige sind überwiegend situativ (,,rational") entscheidende Wechselwähler ohne feste Parteibindung.

Die deutsche rot-grüne Regierung verdankt ihren Wahlsieg ausschließlich der Erschöpfung des Amtsvorgängers. Die Signale, für ,,Innovationen" und ,,soziale Gerechtigkeit" zu sorgen und gleichwohl ,,nicht alles anders, aber vieles besser" machen zu wollen, waren der Versuch, die geschrumpfte Stammwählerschaft um ein Maximum der als ,,Neue Mitte" titulierten Wechselwähler zu ergänzen. Der Verzicht auf ein schlüssiges Politikprogramm ergab sich aber auch als Folge der prekären Machtbalance zwischen dem traditionell orientierten Parteivorsitzenden und dem diffus modernistischen Kanzlerkandidaten. Die Wahl wäre weder mit einem der ,,Neuen Mitte" angepassten Liberalisierungsprogramm noch mit dem Vorhaben einer ,,Reform" der Weltfinanzmärkte zu gewinnen gewesen. Allerdings verhinderte das wahltaktisch erfolgreiche Bündnis einen Regierungsstart auf der Basis klarer Ziele und Mittel.

Der Kompromiss beim Wahlkampfkonzept setzte sich im Zick-Zack-Kurs zwischen Nachwahlgeschenken, innovationsfeindlicher Regulation (Stichwort 630-DM-Jobs) und unvermittelten Sparbeschlüssen fort. Gleichzeitig adoptierte der Kanzler Topoi der liberalen Wirtschaftsrhetorik, vor deren Hintergrund Tony Blair als Robin Hood der Globalisierungsopfer erscheint. Letzterem bescheinigt immerhin die Frankfurter Allgemeine Zeitung, ,,die Macht der Begabungen der vielen gegen die Macht der Privilegien der wenigen" stärken zu wollen.

Auf eine Regierungsbeteiligung unter derart ungünstigen Umständen waren die Bündnisgrünen nicht vorbereitet. Abgesehen von Joschka Fischer, der sich für die Rolle des Außenministers vorbereitet hatte, war der Eintritt in die Regierung ein Sprung ins eiskalte Wasser. Unübersehbare Mängel der politischen Planung, der Parteiorganisation und der fachpolitischen Koordination auf der einen Seite, die Begleitrhetorik vom ,,rot-grünen Reformprojekt" und dem vermeintlichen Aufbruch in eine ,,neue Republik" auf der anderen - das ergab eine peinliche Diskrepanz zwischen Prätention und Kompetenz. In welch ungünstiger Verfassung die Bündnisgrünen Regierungspartei geworden waren, ließ sich allerdings nur für wenige Monate ohne Wahlen verdrängen.

Vor ihrem Scheitern in der ,,Einheitswahl" von 1990 konnten die Grünen auf Bundesebene mit sechs bis acht Prozent der Stimmen rechnen. Ihre Ablehnung der deutschen Einheit ließ die Partei unter die Fünf-Prozent-Marke rutschen und kostete den Wiedereinzug in den Bundestag. Doch als dann der Auszug der Fundamentalisten eine Phase der realpolitischen Konsolidierung ermöglichte, steigerte die Partei ihren potenziellen Stimmenanteil binnen zweier Jahre auf 10 bis 12, zeitweise sogar 14 Prozent . Diese Entwicklung endete im Winter 1997/98, als die Bündnisgrünen im Vorfeld des Magdeburger Programmparteitags eine Art ,,Gestaltwandel" vollzogen, der sie den Großteil der hinzugewonnenen Wählerschaft kostete.

Der im Ergebnis der Bundestagswahl von 1998 (6,7 Prozent) zutage getretene und in den Wahlen von 1999 bestätigte Wählerverlust datiert seit Frühjahr 1998. Er ist nicht den Schwierigkeiten der neuen Regierungspartei zuzuschreiben. Das zeigt die Entwicklung der laufend erhobenen Wählersympathien, die bereits im Prozess der Programmentwicklung zurückgehen und nach der Verabschiedung des Bundestagswahlprogramms im März 1998 auf das frühere Niveau absinken. Das Programm, das außer dem ominösen Fünfmark-Beschluss in Sachen Benzinpreis auch eine Absage an das SFOR-Mandat der Bundeswehr in Bosnien enthielt, wurde von potentiellen (und insbesondere vielen jüngeren) Wählern der Grünen als Rückfall in die Rolle einer auf ihre Innenansicht konzentrierten, nach außen bevormundenden Partei verstanden. Wenige Wochen nach Verabschiedung des Programms hatte die Wahlbereitschaft zugunsten der Grünen den Tiefpunkt erreicht . Das Bild einer verantwortungsvoll abwägenden und ihre gesellschaftlichen Wirkungen kalkulierenden Partei war zerstört. Die Triumphgefühle beim dennoch möglich gewordenen Eintritt in die Bundesregierung und Ansätze interventionistischer Arroganz seitens grüner Kabinettsmitglieder waren wenig geeignet, die verspielten Wählersympathien zurückzugewinnen. Seit nunmehr zwei Jahren befinden sich die Bundesgrünen wieder im kritischen Bereich von lediglich fünf bis sieben Prozent Stimmenanteil.

Die Feststellung mangelnder Vorbereitung auf die Regierungsrolle gründet noch auf einem weiteren Sachverhalt. Entstehung und Aufstieg der Grünen vor 20 Jahren verdankten sich ja nicht nur dem Umweltbewusstsein der Bürger, sondern auch der Unzufriedenheit mit der in etatistisch-technokratischer Attitüde erstarrten Sozialdemokratie. Nachdem diese 1982 auf die Oppositionsbänke zurückgekehrt war, bereitete sie die Wiedergewinnung der Regierungsmacht u. a. dadurch vor, dass sie (ebenso wie später die PDS) größereTeile des grünen Themenkatalogs adoptierte. Während die Grünen die fundamentalistische Systemkritik durch pragmatische Reformkonzepte ersetzten, rückten die Sozialdemokraten durch Programmrevisionen in Sachen Umwelt- und Friedenspolitik, Frauengleichstellung u. a. m. auf ,,grünes" Terrain vor. So wurden die heutigen Koalitionspartner zwar füreinander akzeptabel, aber auch - in den Augen vieler Wähler - tendenziell austauschbar. Berücksichtigt man noch, dass viele ,,grüne" Anliegen häufiger als früher die Zustimmung der Öffentlichkeit und teilweise sogar institutionellen Niederschlag fanden, wird das strukturelle Dilemma der grünen Regierungspartei sichtbar. Einerseits ist ihre Wählerschaft zu schmal, um ,,großen" Gesten beim Konflikt mit der SPD (z. B. in Sachen Atomausstieg) den nötigen Nachdruck zu verleihen. Andererseits lassen sich die Erwartungen der Wähler nicht allein durch gutes Politikhandwerk und demonstrative Koalitionstreue erfüllen . Das sind die harten Ausgangsdaten der aktuellen Diskussion über Parteireformen und strategische Alternativen.

III. Strukturprobleme

Die innerparteiliche Debatte wird von konkurrierenden Problemdiagnosen und Therapievorschlägen bestimmt. Drei Faktoren - Ziele, Organisationsstruktur und Personal - werden verdächtigt, die Grünen immer wieder in Krisen zu stürzen.

1. Tatsächlich ist die Programmentwicklung der Grünen noch stärker als bei anderen Parteien von Identitätsfragen und der Einflusskonkurrenz der Parteiflügel belastet . Dennoch wurden seit der Verabschiedung des Saarbrücker Programms von 1980 erhebliche Fortschritte in Richtung praxistauglicher Reformvorschläge gemacht. Zwar waren die Jahre der ökosozialistischen Dominanz von der Präsenz mancher ,,grünen" (in Wirklichkeit: traditionslinker) Mythen gekennzeichnet, die sich in tiefem Misstrauen gegenüber der privaten Wirtschaft und unlimitiertem Vertrauen in die Macht des Interventions- und Steuerstaates niederschlugen. Mit dem Auszug der Ökosozialisten Ende der achtziger Jahre war die Phase des mythisch überhöhten Antikapitalismus jedoch beendet und die Partei in der Wirklichkeit der modernen Industriegesellschaft angekommen. Ihr Verhältnis zur Marktwirtschaft und den Innovationsanreizen des Wettbewerbs ist heute in mancher Hinsicht informierter und nüchterner als das von Teilen der SPD.

Unter dem Einfluss vieler naturwissenschaftlich gebildeter DDR-Bürgerrechtler hat auch der einstmals konstitutive Technikpessimismus an Boden verloren. Nachdem die moderne Informationstechnologie ihre Anhänger auch unter den Grünen fand, hat sich der Tenor der Technikkritik gewandelt. Bedingungslose Ablehnung erfährt nur noch die Nukleartechnologie. Über andere technologische Risiken wird mit großer Sachlichkeit geurteilt; Innovationsbefürworter finden ebenso Gehör wie passionierte Kritiker . Einen ähnlichen Bedeutungsverlust erlitt die emphatische Wachstumskritik der frühen Jahre. Vor dem Hintergrund der allmählichen Verallgemeinerung von Grundsätzen einer umweltverträglichen Produktion erscheint Pauschalkritik am Sozialproduktwachstum als Kampf gegen Windmühlen.

Verschiedenen Versuchen der Selbstmythisierung zum Trotz war das Prinzip unbedingter Gewaltlosigkeit niemals unbestrittener Teil grüner Identität. Während die einen ,,Waffen für El Salvador" forderten und konsequente Pazifisten wie Petra Kelly eine entschiedene Gegenposition markierten, plädierte die Mehrheit für eine aktive friedenspolitische Rolle Deutschlands, aber nicht für unbedingten Pazifismus. Die Forderung nach militärischer Enthaltsamkeit gründete auf zwei anderen Motiven: zum einen ,,antiimperialistischem" Misstrauen gegenüber NATO und USA, zum anderen einem Verantwortungspazifismus, der sich auf die unheilvolle Rolle Deutschlands in zwei Weltkriegen berief. Schließlich hat auch der Gründungsmythos, dem zufolge die Grünen Produkt und Repräsentant sozialer Bewegungen seien, einem pragmatischen Selbstbewusstsein Platz gemacht. Die Überbleibsel der Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung, die heute überwiegend institutionellen Charakter haben, werden zwar nach wie vor wohlwollend, aber als das wahrgenommen, was sie sind: die Lobby der Umweltbewegung.

Angesichts dieser Selbsterziehung, in deren Verlauf eine ganze Reihe gemeinschaftsbildender Deutungen und Mythen zugunsten komplexerer politischer Diagnosen aufgegeben wurden, können die Bündnisgrünen als eine von fixen Weltanschauungen relativ unbelastete politische Kraft gelten. Damit unterscheiden sie sich sowohl von der CDU/CSU, die auf die Vereinbarkeit konservativ-familialer Werte mit dem individualistischen Ökonomismus schwört, als auch von jenem Teil der SPD, dessen Denkrahmen noch in Zeiten der Globalisierung von den Interessendefinitionen des 19. Jahrhunderts und den Sozialinstitutionen der Nachkriegszeit bestimmt ist. Allein, die Entmythisierung scheint den Grünen Probleme bei der Integration ihrer Mitgliedschaft zu bereiten: Teile der Basis sehen im Ersatz weltanschaulicher Formeln durch rationale Argumente Anzeichen eines Identitätsverlustes.

2. Die These einer Strukturkrise der Partei bezieht sich nicht auf das Grundmerkmal der Bündnisgrünen, dass ihre Organisationsstruktur in ungewöhnlichem Maße ,,basisbestimmt" ist. Während die Trennung von Amt und Mandat sowie die aus Gründen der Geschlechterparität eingeführte Doppelung von Führungspositionen die Vervielfachung von wechselseitig entkoppelten Entscheidungspositionen bewirkten, sorgten einst ,,basisdemokratisch" strukturierte Parteitagsdebatten für die unvermittelte Konfrontation zweier ungleicher Erfahrungswelten. Die Organisationsverfassung inflationiert den Koordinationsaufwand innerhalb und zwischen den Führungsgremien der Partei, während der betont antihierarchische Zug das Verdunsten persönlicher Verantwortung begünstigt: Wer mag schon schwierige Fragen ansprechen, wenn der Widerspruch der Amtskollegin gewiss ist?

Immerhin hat sich das viel kritisierte Vorpreschen von Joschka Fischer, welcher der Partei Anfang 1999 erneut das heiße Eisen einer Führungsreform servierte, zumindest teilweise ausgezahlt. Im Oktober 1999 übernahm der Länderrat die Vorschläge einer Reformkommission, in denen die Trennung von Amt und Mandat zumindest für einen Teil der Vorstandsmitglieder abgeschafft ist. Außerdem soll der erst 1998 geschaffene Parteirat zugunsten eines Präsidiums entfallen, dem die Spitzen der Bundestagsfraktion, des Parteivorstandes, die grünen Bundesminister und Vertreter der Landesverbände angehören.

Dagegen dürfte die ,,Doppelspitze" noch auf längere Zeit unantastbar sein. Sie ist nicht nur Realisation der Frauenquote, sondern auch ein Instrument des Strömungsproporzes, das nur mittels einer satzungsändernden Zweidrittelmehrheit der Parteitagsdelegierten, d. h. mit der Zustimmung beider Strömungen, abgeschafft werden kann. Immerhin würde schon die Reform von Vorstand und Parteirat eine Abkehr vom bisherigen Kurs der Parteientwicklung bedeuten: Statt durch Schaffung immer neuer Gremien und Posten nach ,,innen" zu wachsen, würde sich die Partei erstmals nach Gesichtspunkten der effektiven Repräsentation (nach innen wie außen) organisieren. Dieses Vorhaben scheint aber nur solange aussichtsreich, wie die Strukturdebatte von der Debatte über ein neues ,,inhaltliches" Parteiprofil abgekoppelt bleibt und sich ,,Linke" wie ,,Realpolitiker" einen Steuerungsvorteil ausrechnen können .

3. Die These der Unzulänglichkeit des politischen Personals kehrte jüngst in der Kritik zweier Nachwuchspolitiker an den ,,Alt-68ern" wieder. Diese mögen doch aufhören, ,,die Republik mit den Geschichten von damals zu nerven . . . Erwartet nicht von uns Jungen, dass wir so sind wie ihr." Die biographische Anspielung ist gewiß in etlichen Fällen nachvollziehbar, doch geht der Vorwurf einer anhaltenden Orientierung an überholten Vorstellungen ins Leere. Das personelle Problem ist anderer Natur.

Die Grünen entstanden und wuchsen in einer Ära der Massenarbeitslosigkeit, wie sie Deutschland seit der Weimarer Republik nicht gekannt hat. In der Blütezeit von Umwelt-, Friedens- und Frauenbewegungen wuchs auch die Zahl der von den Grünen errungenen Mandate und parteiinternen Ämter. Dank der direkten und indirekten Parteienfinanzierung wurde die grüne Parteikarriere zur annehmbaren Option für viele, die auf der Suche nach Lebenssinn und Arbeitseinkommen waren. So manifestiert sich die Konsolidierung der Partei in einer Vielzahl von Biographien, deren Inhaber(innen) wenig Gelegenheit hatten, Wirklichkeitsbereiche jenseits von Elternhaus, Schule, Universität und Wohngemeinschaft kennenzulernen. Ihre Sozialisation in den Gremien der Partei dürfte erheblich zur Verstärkung jenes Phänomens geführt haben, das in der Parteiensoziologie als ,,Radikalität der mittleren Funktionärsebene" beschrieben wird. Es vermag zu erklären, warum es so viele Konflikte kostete, zu dem problem- und komplexitätsbewussten Politikverständnis zu finden, das heute von einer Mehrheit der Mandats- und Amtsträger vertreten wird.

IV. Die Strategiedebatte

Der Absturz in der Wählergunst, den die Umfrage- und Wahlergebnisse seit Anfang 1998 belegen, kann nicht allein durch eine Strukturreform korrigiert werden. Effizientere Führungsstrukturen mögen zwar helfen, das ,,Kommunikationsproblem" zwischen Partei und Wählern anzugehen, und dafür sorgen, dass die ,,grünen Erfolge" frühzeitig und unverkürzt bei der Wählerschaft ,,ankommen" . Doch können sie es den Grünen nicht ersparen, zu einem schärferen Profil (zurück)zufinden.

In den neunziger Jahren ist die Verallgemeinerung ,,grüner" Themen recht weit voran geschritten. Das brachte der letzten grünen Oppositionsfraktion im Bundestag viel Anerkennung nicht nur seitens der Sozialdemokratie, sondern auch mancher damaliger und heutiger Gegner ein. Als Kehrseite der breiten Akzeptanz vieler grüner Themen und Vorschläge ergab sich jedoch eine gewisse Unschärfe des Parteiprofils. Bildeten einst die Themen Umwelt, Frieden, Dritte Welt, Frauengleichstellung, partizipative Demokratie u. a. den ,,harten" Kern der grünen Programmatik, so sind sie heute - in vielerlei Varianten - Allgemeingut geworden. Es genügt, sich die Lehrpläne der Schulen sowie sozial- und naturwissenschaftliche Curricula anzusehen, um die Verbreitung (nicht unbedingt: Popularität) der ,,neuen" Themen, und das heißt auch: die ,,Veralltäglichung des grünen Charismas", zu bemerken . An manchen Fronten der Umweltpolitik sind die Grünen nicht einmal mehr Primus inter Pares.

Wurden grüne Parteien einst als Verfechter ,,neuer" Politikinhalte jenseits der traditionellen Rechts-links-Achse des Parteienwettbewerbs verortet , so bedeutet die Verallgemeinerung ihrer speziellen Thematik das tendenzielle Zusammenfallen der Dimension ,,neue"/,,alte" Politik mit der Rechts-links-Dimension. Weil nun alle Parteien etwas libertärer, ,,ökologisiert" und frauenfreundlicher auftreten, hat eine Parallelverschiebung der Rechts-links-Achse in die Richtung der ,,neuen" Politik stattgefunden. Der politische Wettbewerb ist aus dem zweidimensionalen in den eindimensionalen Raum zurückgekehrt, der einstige Vorsprung der Grünen geschwunden. Sicher könnte man weiterhin auf die eigene Urheberschaft pochen und beklagen, dass die Nachläufer vieles nicht so ernst nehmen wie man selbst. Doch die günstige Wettbewerbsposition jenseits der traditionellen Konfliktlinie, die den Grünen die Möglichkeit ließ, verteilungspolitische Positionen nach sachlichen Gesichtspunkten zu wählen, scheint verloren. Es bleibt nur der Trost, am Modernitätsschub von SPD, CDU und Ex-SED mitgewirkt zu haben.

Dank der Popularität ihrer thematischen Anliegen sind die Grünen in eine ,,unkomfortable strategische Position" geraten . Würden sie versuchen, das Image eines idealistischen Planers revolutionären Wandels wieder zu beleben, fühlten sich nicht nur die in den Alterskohorten der 35- bis 49-Jährigen gewonnenen Wähler, sondern auch die pragmatischer gesinnten Jungwähler vor den Kopf gestoßen . So drängt sich die Frage auf, ob der Verlust der zweiten Wettbewerbsdimension eine Grundsatzentscheidung erzwingt, der man bislang aus dem Wege gehen konnte: Sollen sich die Grünen künftig rechts oder links von der SPD verorten?

Vor dem Hintergrund dieses buchstäblich existenziellen Problems gilt es, die Beiträge zur aktuellen Strategiedebatte auf Lösungsvorschläge abzuklopfen. Den Auftakt machte die erwähnte Polemik junger Realpolitiker, die eine Entrümpelungsaktion auf dem geistigen Dachboden der Partei empfehlen und in der Abkehr vom latenten Etatismus und Anti-Kapitalismus der ,,lieben 68er" eine ,,zweite Chance" der Grünen sehen . Die vor allem an die Parteilinke adressierte Kritik verbindet sich mit einem Plädoyer für die Öffnung der Partei für neue Themen, Sichtweisen und Mitglieder, als deren Resultat eine Stärkung der Programmkompetenz erwartet wird. Das sei auch eine ,,Kampfansage an die F.D.P.", deren Position im Parteiensystem die Grünen beerben sollten, indem sie sich zur Heimat des politischen Liberalismus erklären.

Eine nicht minder engagierte Replik des ,,linken" Parteinachwuchses weist das Ansinnen der Realpolitiker zurück und plädiert in der Tendenz für eine Rückwende zu radikaleren Problemdiagnosen und Politikzielen. Die Grünen müssten sich unzweideutig links von der SPD verorten, nicht zuletzt um ,,die Glaubwürdigkeitslücke der SPD (zu) nutzen und mit grünen Konzepten (zu) füllen" . Als Profilausweis am linken Ende des Parteienspektrums wird eine verteilungspolitische Offensive der ,,sozialen Gerechtigkeit" gefordert, die durch weiter gehenden Abbau von Subventionen und Sondervergünstigungen sowie die höhere Besteuerung von vermögenden und einkommensstarken Gruppen zu finanzieren sei.

Beide Strategiepapiere kranken an einer Überfrachtung mit gegnerbezogener Polemik und Identitätssignalen an das eigene Lager . Gleichwohl markieren sie die idealtypischen Alternativen einer Reorientierung der Partei auf der Rechts-links-Achse. Entweder richten sich die Grünen in der Mitte des Parteiensystems ein, wo ein Restbestand sozialliberaler Wähler vermutet wird und die CDU als alternativer Koalitionspartner wartet, oder sie ziehen sich ans linke Ende zurück, wohin die Ökosozialisten sie einst definieren wollten. Gewiss ließe sich in jedem der beiden Fälle die gegenwärtige Ortlosigkeit der Programmatik gegen ein schärferes Profil eintauschen. Doch sind beide Optionen auch mit erheblichen Nachteilen verbunden.

Die Option der Linksprofilierung brächte der Partei kaum weniger Integrationsprobleme als ein programmatischer Ruck zur ,,Mitte". Zudem wird bezweifelt, dass die Bündnisgrünen in der Mitte genügend ungebundene Wähler antreffen, um ihr Überleben zu sichern . Unter rein wahltaktischen Gesichtspunkten scheint es daher zweckmäßiger, wenn die SPD ihre ohnehin schon reklamierte Zuständigkeit für die Mitte der Rechts-links-Achse konsolidierte. Dann könnte sie den linken Rand der CDU-Wählerschaft erreichen, während die Grünen die heimatlos gewordenen Linkswähler der SPD auffingen.

Die Voraussetzungen für ein Positivsummenspiel von SPD und Grünen sind jedoch sehr unsicher. Einerseits sieht es nicht so aus, als wäre die SPD imstande, ein Modernisierungskonzept zu entwickeln, das die eigenen Stammwähler und CDU-nahe Wechselwähler anspricht. Andererseits wären die Grünen am linken Rand des Parteienspektrums nicht allein, sondern in eine Konkurrenz mit der PDS verwickelt, die offensichtlich Chancen hat, auch im Westen Fuß zu fassen. Dort ist sie zum Leidwesen der Grünen noch mehr als im Osten genötigt, den ,,grünen" Anstrich ihres Linkstraditionalismus zu betonen.

Ein weiterer Nachteil eines Rucks nach links ist, dass die Entfaltungschancen von dezidiert linken Parteien wegen der oben beschriebenen sozialstrukturellen Veränderungen nicht übermäßig groß sind. Sie belaufen sich im Westen vielleicht auf vier bis sieben Prozent der Wählerstimmen, im Osten auf 15 bis 20 Prozent. Ließen sich nun PDS und Grüne auf einen Radikalitäts- und Überbietungswettbewerb ein, so würde das Realitätsdefizit der ,,radikalen" Politikvorschläge umso deutlicher zutage treten und das gemeinsame Wählerreservoir empfindlich schrumpfen lassen.

Die Situation ist also komplizierter, als viele ,,Realos" und ,,Linke" meinen. Das belegen auch die weniger spektakulären Beiträge zur Strategiedebatte. Hier werden die akuten Probleme nicht einer ,,falschen" Positionierung, sondern dem Strömungsproporz zugeschrieben, der klare Mehrheitsentscheidungen über Inhalte und Strategie vereitelt . An anderer Stelle wird ein moderneres Politikverständnis gefordert, das vor den engen Grenzen etatistischer Regulation nicht in Resignation oder Zynismus fällt (diesen Eindruck hatte der grüne Bundesumweltminister zunächst erweckt), sondern auf öffentliche Aufklärung und ,,neue Allianzen", d. h. auf ,,die Kooperation höchst unterschiedlicher Akteure" setzt . Zur Rückgewinnung von Wählern sei die gründliche Vorbereitung von ,,realitätstüchtigen" Politiken erforderlich, insbesondere ein eigenständiger Beitrag zur Modernisierung der gesellschaftlichen Institutionen . Gemeinsamer Tenor der Selbstkritik ist, dass die aus eindimensionalen Problemanalysen hervorgegangenen Konzepte schleunigst durch solche zu ersetzen seien, die sich auch im Lichte mehrerer Angemessenheitskriterien als sinnvoll erweisen, d. h. dem ökologischen Prinzip der Nachhaltigkeit, dem Kriterium einer fairen Verteilung, den zu erwartenden Fern- und Langfristfolgen sowie dem künftigen Innovationsvermögen der Institutionen Rechnung tragen.

Hinsichtlich der wahlstrategischen Verortung halten sich die inhaltlich profilierten Diskussionsbeiträge zurück. Zwar kommt auch das Plädoyer zum Bezug der ,,Mitte" vor, allerdings in der Variante, daß es gelte, mit der SPD um die linke Mitte zu konkurrieren und ,,programmatisch das Projekt ,Neue Mitte' selbst zu definieren" . Dass es sich dabei um keine im Vorübergehen zu meisternde Aufgabe handelt, belegt der Rat, nur ,,in zwei, drei ausgewählten Feldern der anstehenden Reformaufgaben . . . eine Meinungsführerschaft zurückzuerobern" . Ein noch schwierigeres Vorhaben schwebt den jungen ,,Realos" vor, die der Partei einen neuen ,,Gesellschaftsentwurf" und ,,eine große Idee" abverlangen . Derart ambitionierte Vorschläge scheinen mit ,,linken" Alternativen die Annahme zu teilen, die ,,nach Magdeburg" verloren gegangenen Wähler ließen sich durch ein pädagogisches Orientierungsangebot wieder anlocken. Die soziologische Antwort auf diese Vermutung ist negativ. Die überwiegend in den ,,neuen Mittelschichten" beheimateten Wechselwähler dürften sich vom Angebot ,,großer Ideen" und kompletter Gesellschaftsentwürfe eher in ihrer Abwanderungsentscheidung bestätigt sehen .

Das Gesamtbild der Debatte, an der sich die prominenteren Führungspersonen kaum beteiligten, offenbart eine Ungleichverteilung sowohl der diagnostischen als auch der kurativen Kompetenz zum Nachteil des linken Flügels. Nachdem man in der Kosovodebatte erfahren hatte, wie wenig Widerstand Mitglieder dieser Strömung gegen eine konsequenzenbedachte Sicht der Dinge aufzubringen bereit sind, scheint die grüne Linke mit weiteren Einflussverlusten zu rechnen und hält sich bedeckt. Das begründet jedoch keine Hoffnung auf eine baldige Überwindung des Strategiedilemmas. Vielmehr präsentieren sich die Grünen im Strategiekonflikt immer noch als ,,zwei Parteien in einer" . Um ihre Zukunft zu sichern, bedarf es offenbar einer erneuten Bereitschaft zur politischen Innovation.

V. Auf dem Weg in eine günstigere Wettbewerbsposition?

Die Etablierung der Grünen im westdeutschen Parteiensystem der achtziger Jahre gelang nicht aufgrund, sondern trotz der innerparteilichen Konflikte zwischen Ökosozialisten und Ökolibertären, Fundamentalisten und Realpolitikern. Der Kampf der Ideologien und Weltbilder, waren sie sozialistischen, libertären oder naturphilosophischen Ursprungs, sowie die wiederkehrenden Demonstrationen ,,radikalen" Wollens sicherten den Grünen zwar die Aufmerksamkeit der Medien, aber nicht die Unterstützung der Wählerschaft. Eher war es der Eindruck wichtiger positiver Wirkungen, den die Grünen durch den Positionsbezug auf einer zweiten Dimension der Problemdiagnose und des politischen Wettbewerbs begründeten. Ihr Engagement für die ,,neuen" Themen wirkte hinreichend attraktiv, um dem ideologisch amorphen Neuling solide Start- und Konsolidierungschancen zu verschaffen.

Das Insistieren auf wichtigen Sachthemen warf sogar ein freundliches Licht auf manche ideologische Kontroverse. Mit einem Schuss Wohlwollen konnte man sie als Bemühungen um richtige Antworten auf wichtige Fragen interpretieren; war es doch angemessen, zur Bearbeitung gravierender Probleme alle in Frage kommenden Optionen in Betracht zu ziehen, passende wie unpassende, sozialistische wie kapitalistische sowie ,,dritte Wege" in alle möglichen Richtungen.

Dass die ,,in viele Richtungen zugleich" argumentierenden Grünen der achtziger Jahre die Durststrecke ihrer internen Zerissenheit überwanden und zu einer parlamentarischen Kraft wurden, beruht also nicht so sehr auf einer Kompetenzzuschreibung seitens der Wähler, sondern auf der Anerkennung des grünen Beitrags zu politischen Debatten. Ist aber dieses Rezept auch auf eine Regierungspartei anwendbar, da nun nicht nur die eigenen Wähler, sondern die ganze Gesellschaft Kompetenz und Verantwortungsbereitschaft erwarten? Zu prüfen sind die Voraussetzungen, um sich ein zweites Mal ,,oberhalb" der Rechts-links-Achse zu positionieren. Gibt es etwa auch heute eine zweite Dimension des politischen Wettbewerbs, auf der sich Besonderheiten der Bündnisgrünen in einen komparativen Vorteil ummünzen lassen?

Nüchtern betrachtet, sind die Bündnisgrünen von keinem der Übel frei, die als Eigenbeitrag der Parteien zur verbreiteten ,,Parteienverdrossenheit" Erwähnung finden. Doch zeigen sich graduelle Unterschiede in einzelnen Dimensionen der Parteienkritik. So unterscheiden sich die Bündnisgrünen seit ihrer Vereinigung mit Teilen der ostdeutschen Bürgerbewegung und dem Prozess der Entmythisierung in mindestens einer Hinsicht deutlich von den so genannten Volksparteien CDU, CSU, SPD und PDS: Sie pflegen keine der Organisationsidentität verpflichtete Weltanschauung. Gleichzeitig unterscheiden sie sich von der F.D.P. durch das Fehlen eines die Parteipolitik verpflichtenden Klientelbezugs.

Weil die Grünen keiner Weltanschauung und keiner selbstinteressierten Klientel verpflichtet sind, scheinen sie besser als ihre Konkurrenten imstande, ein auf komplexe Sachprobleme fokussiertes Funktionsverständnis auszubilden. Sie müssen weder den Interessennetzwerken der Wirtschaft und Berufsgruppen Tribut zollen noch dem Besitzstandsegoismus der Sozialstaats- und Bildungsinstitutionen huldigen. Statt dessen könnten sie die schon ansatzweise demonstrierte Fähigkeit zur diskursiven Klärung politischer Optionen weiterentwickeln und zu ihrem Markenzeichen machen. Bekanntlich wird in der Wettbewerbsdemokratie die Auswahl von policies regelmäßig der Wettbewerbslogik der politics untergeordnet, was dazu führt, dass die Konkurrenten selbst überlegene Politikvorschläge ihrer Gegner als unangemessen denunzieren ,,müssen", um ihre Wettbewerbsposition zu wahren. Auf der Strecke bleibt immer wieder die vergleichende Betrachtung aller sachlich gebotenen Alternativen, die Explikation der sozialen Konsequenzen im nationalen und internationalen Kontext sowie die Berücksichtigung eines ausreichend weiten Zeithorizonts. In diesem Bedarf der Gesellschaft an ,,politischer Rationalität" liegt nach wie vor die Existenzchance der Grünen.

Gewiss sind auch kleinere Parteien nicht gegen die dem Parteienwettbewerb inhärente Opportunismusversuchung gefeit. Anders als die ,,großen" können sie jedoch auf das Vorhandensein eines Wählersegments bauen, das das Engagement zur exakten Bestandsaufnahme anstehender Probleme und zur Sondierung der in Frage kommenden Politikoptionen zu würdigen weiß. Dass die Bündnisgrünen prinzipiell in der Lage sind, diese Funktion im Parteiensystem zu übernehmen, zeigen ihre Beiträge zur Debatte über die deutsche Beteiligung am Kosovokonflikt. Wohlmeinende Beobachter glauben sogar, darin eine Stellvertreterfunktion für weniger diskursfähige und problem-sensible Akteure zu erkennen.

Der hier als Möglichkeit aufgezeigte Funktionswandel zu einer Art Kollektivexperten für politische Rationalitätsgewinne ist nicht im Selbstlauf der Parteientwicklung realisierbar. Er ist schwierig, fast unwahrscheinlich. Selbst wenn es gelänge, bereits in der aktuellen Strategiedebatte eine entsprechende Weichenstellung vorzubereiten, bliebe das Projekt noch lange Zeit umstritten. Die objektiven Schwierigkeiten schließen jedoch nicht aus, dass die Etablierung einer neuen Wettbewerbsdimension mit den Polen ,,Partikularismus" und ,,Universalismus" angesichts der geleisteten Vorarbeit als ein lohnendes Entwicklungsziel erkannt wird. Immerhin würde es einer Riege kompetenter und weithin geachteter Fachpolitiker/innen den nötigen Entfaltungsraum sichern und gäbe ihnen darüber hinaus die Chance, Einfluss auf das künftige Parteiprofil zu nehmen. Wesentlich ungewisser ist das Verhalten jenes Teils der Mitgliedschaft, der die Grünen als Weltanschauungsgemeinschaft betrachtet und den Entmythisierungsprozess nicht als Gewinn an Entscheidungsvermögen, sondern als Wertverlust verbuchte.

Verstünden es die Grünen, ihre Eignung als Forum des reformpolitischen Sachverstands bewusst auszuspielen, wozu auch die Revision von Stil und Mitteln der politischen Kommunikation bis hin zum Habitus der Amts- und Mandatsträger zählt, so könnten sie dem strategischen Dilemma entkommen, in welchem ,,sowohl Profilierungen nach links als auch zur Mitte hin wenig erfolgversprechend sind" . Es würde auch wieder möglich, ,,in substantiellem Umfang Wähler mit schwächerer Parteiaffinität und anderen - in vielen Bereichen ,gemäßigteren' - politischen Orientierungen anzuziehen" , um das politische Gewicht der neuen Regierungspartei spürbar zu stärken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für wertvolle Hinweise und hilfreiche Kritik an der Erstfassung des Beitrags danke ich Andrea Goymann.

  2. Vgl. Jonas Pontusson, Explaining the Decline of European Social Democracy: The Role of Structural Economic Change, in: World Politics, 47 (1995) 4.

  3. Vgl. Markus Klein/Kai Arzheimer, Grau in Grau. Die Grünen und ihre Wähler nach eineinhalb Jahrzehnten, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 49 (1997) 4.

  4. Nach graphischen Darstellungen und mündlicher Auskunft von Markus Klein (Universität Köln) aufgrund seiner Auswertungen des Politbarometers der Forschungsgruppe Wahlen.

  5. Es ist aber auch vor dem Umkehrschluss zu warnen, dass inszenierte Konflikte mit dem Regierungspartner helfen würden, verlorene Wählersympathien zurückzugewinnen.

  6. Zur Programmarbeit der Grünen vgl. Helmut Wiesenthal, Programme (Kap. 5), in: Joachim Raschke (Hrsg.), Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind, Köln 1993.

  7. Die Vorstandssprecherin Gunda Röstel vermutet bei den Bündnisgrünen sogar ,,ein grundsätzlich positives Verhältnis zu Technologie und Wissenschaft", in: Frankfurter Rundschau vom 22. 2. 1999, S. 8.

  8. Das ist angesichts des Funktionswandel beider Strömungen nicht unwahrscheinlich. Vgl. Helmut Wiesenthal, Bündnisgrüne in der Lernkurve, in: Kommune, 17 (1999) 5.

  9. Jens Kröcher/Mathias Wagner, Bündnis 90/Die Grünen haben eine zweite Chance verdient!, in: Stachlige Argumente, (1999) 4.

  10. Vgl. z. B. Herbert Kitschelt, The Internal Politics of Parties: The Law of Curvilinear Disparity Revisited, in: Political Studies, 37 (1989) 3.

  11. So Außenminister Joschka Fischer im Interview, in: DIE ZEIT vom 23. 9. 1999.

  12. Wie sonst hätte sich die PDS so reibungslos einen modernen Anstrich geben und gleichzeitig eine konservative Wählerschaft sichern können?

  13. Vgl. Kai Hildebrandt/Russell Dalton, Die neue Politik, in: Politische Vierteljahresschrift, 18 (1977) 2/3; Herbert Kitschelt/Staf Hellemans, The Left-right Semantics and the New Politics Cleavage, in: Comparative Political Studies, 23 (1990) 2.

  14. Thomas Poguntke, Die Bündnisgrünen in der Falle?, in: Kommune, 17 (1999) 9.

  15. Zur altersmäßigen Zusammensetzung der Wähler der Grünen vgl. M. Klein/K. Arzheimer (Anm. 3), Abb. 4.

  16. Vgl. J. Kröcher/M. Wagner (Anm. 9).

  17. Sven Metzger/Ramona Pop/Jörg Prante/Christian Simmert, Raus aus der neuen Mitte!, in: Stachlige Argumente, (1999) 4, S. 38.

  18. Für eine kritische Analyse beider Papiere vgl. Oskar Niedermayer, War das alles?, in: Kommune, 17 (1999) 8.

  19. Vgl. Jürgen W. Falter/Kai Arzheimer, Rein in die neue Mitte - oder raus aus der neuen Mitte?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 8. 1999, S. 12.

  20. Vgl. Peter Sellin, Lernen oder Vogel-Strauß-Politik, in: Stachlige Argumente, (1999) 2.

  21. Vgl. Henriette Berg/Franziska Eichstädt-Bohlig/Ralf Fücks/Arnd Grewer u. a., Zehn Thesen zur Erneuerung bündnisgrüner Umweltpolitik (1999), unveröff. Text. Vgl. ferner Reinhard Loske, Neue Bedingungen brauchen neue Bündnisse, in: schrägstrich, (1999) 9-10; Peter Lohauß/Franziska Eichstädt-Bohlig/Marianne Birthler/Sybille Volkholz u. a., Berliner Thesen zur Neubestimmung Grüner Politik, in: Stachlige Argumente, (1999) 5.

  22. Das ist der normative Kern der Ausführungen von: Ralf Fücks, Eckpunkte für die Debatte, in: schrägstrich, (1999) 7-8; Hubert Kleinert, Wohin führt der Weg der Grünen?, in: schrägstrich, (1999) 9-10; P. Lohauß u. a. (Anm. 21); Lothar Probst, Die Chancen grüner Häutungsprozesse, in: Kommune, 17 (1999); P. Sellin (Anm. 20).

  23. L. Probst, ebd., S. 48 f.

  24. Ebd.

  25. J. Kröcher/M. Wagner (Anm. 9), S. 36.

  26. Realistischer klingt die Absicht Röstels (Anm. 7), ,,die Macher, die Verantwortungsträger" anzusprechen und nach jenen auszuschauen, ,,die mitten in der Gesellschaft das Ferment des ökologischen und ökonomischen Fortschritts sind oder sein könnten".

  27. P. Sellin (Anm. 20), S. 11. Dazu H. Kleinert (Anm. 22), S. 22: ,,Was den einen . . . als Abkehr von den Traditionen grüner Politik erscheint, ist anderen immer noch . . . zu wenig professionell und vor allem zu wenig ,modern'."

  28. Detlef Murphy/Roland Roth, In viele Richtungen zugleich: Die GRÜNEN - ein Artefakt der Fünfprozent-Klausel?, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hrsg.), Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M. 1987.

  29. Vgl. Hans Rattinger, Abkehr von den Parteien? Dimensionen der Parteienverdrossenheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 11/93; Günter Rieger, ,,Parteienverdrossenheit" und ,,Parteienkritik" in der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 25 (1994) 3.

  30. Th. Poguntke (Anm. 14), S. 43.

  31. O. Niedermayer (Anm. 18), S. 44.

Dr. rer. soc., geb. 1938; seit 1994 Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Veröffentlichungen u.a.: Realism in Green Politics, Manchester 1993; Die Transformation der DDR. Verfahren und Resultate, Gütersloh 1999.