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Kultur und Identitäten | Politische Kultur - politische Bildung | bpb.de

Politische Kultur - politische Bildung Editorial Kultur und Identitäten Handlungsorientierung und Kontroversität Die politische Handlungsbereitschaft von deutschen Jugendlichen im internationalen Vergleich Neue Medien und Internet Herausforderungen an die Pädagogik

Kultur und Identitäten

Hermann Glaser

/ 8 Minuten zu lesen

"Kampf der Kulturen" - "Kampf um die Kultur" - "Kultur der Toleranz". Das waren und sind Schlagworte in den derzeitigen politischen Feuilletons.

I. Abschnitt

Als der 1862 geborene bedeutende liberale Historiker Friedrich Meinecke, ein kompromissloser Gegner des nationalsozialistischen Regimes, unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches seine "Betrachtungen und Erinnerungen" niederschrieb - unter dem Titel "Die deutsche Katastrophe" 1946 erschienen -, spendete er den noch einmal Davongekommenen trostreichen kulturellen Rat: In jeder deutschen Stadt und größeren Ortschaft sollten Gemeinschaften gleichgesinnter Kulturfreunde entstehen, denen er "am liebsten den Namen ,Goethegemeinde' geben würde". Diese hätten die Aufgabe, die "lebendigsten Zeugnisse des großen deutschen Geistes durch den Klang der Stimme ins Herz zu tragen - edelste deutsche Musik und Poesie".

Im Rückblick ist man gerührt, aber auch irritiert, mit welchem erhebenden Pathos abgründigste Geschichtserfahrungen bewältigt - oder doch wohl mehr verdrängt werden sollten. Etwas weniger naiv, aber mit gleichem Tenor, hatte Thomas Mann in einer Ansprache am 10. Mai 1945 an seine deutschen Rundfunkhörer - in einer Sendereihe der BBC, die den in die USA emigrierten Dichter seit Oktober 1940 zu Wort kommen ließ -, festgestellt, dass zwar schwer zu tilgender Schaden dem deutschen Namen zugefügt worden, "deutsche Würde" jedoch nicht völlig verloren gegangen sei: "Deutsch war es einmal und mag es wieder werden, der Macht Achtung, Bewunderung abzugewinnen durch den menschlichen Beitrag, den freien Geist."

In einer Zeit, da religiös-fundamentalistischer Terrorismus besonders die westliche Welt tief erschüttert (im doppelten Wortsinne), mag es gut sein, sich an eine Zeit zu erinnern, in der Kultur als "Überlebensmittel", und zwar von breiten Bevölkerungskreisen, empfunden wurde. Zwiespältige Gefühle sind dabei freilich angebracht. Theodor W. Adorno meinte damals, Auschwitz habe das Misslingen der Kultur unwiderleglich bewiesen. Dass die bis dahin unvorstellbaren nationalsozialistischen Verbrechen geschehen konnten "inmitten aller Tradition der Philosophie, der Kunst und der aufklärenden Wissenschaften, sagt mehr als nur, dass diese, der Geist, es nicht vermochte, die Menschen zu ergreifen und zu verändern". Was sollte da noch Kultur bewirken? Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben sei barbarisch, lautete 1949 sein bitteres, später freilich revidiertes Diktum.

Die These, dass Kultur, der Prozess der Enkulturation und Zivilisation, den Glauben an die Theodizee (unsere Welt als die beste aller möglichen Welten) bekräftige oder gar bestätige, wird im Besonderen nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts kaum noch gewagt werden können. Würde man aber am "Kulturstaat" als Realutopie - Friedrich Schiller spricht vom "ästhetischen Staat" - nicht festhalten, suspendierte man in aufgeklärten säkularisierten Gesellschaften das System der Werte und Normen; ohne dieses wird Demokratie zur leer laufenden Maschinerie; sie mag funktionieren - sinnlos.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland lässt keinen Zweifel: Dieser Staat ist ein Kulturstaat. Doch immer mehr scheint die normsetzende Idee für die Wirklichkeit an Bedeutung zu verlieren. Der Diskurs, den Anfang der siebziger Jahre Jürgen Habermas mit Niklas Luhmann führte, ist nach wie vor von hoher aktueller Bedeutung: Habermas geht es - in Abgrenzung vom "coolen" Systemtheoretiker ("System-Ingenieur") Luhmann - nicht um das reibungslose Funktionieren von Staat und Gesellschaft; er fordert die Mobilisierung aller Kräfte für die Verwirklichung von Werten. Inmitten der Trostlosigkeit einer "entzauberten Welt" (Max Weber) gelte es, mit Hilfe von Vernunft Orientierung zu finden und Verantwortung zu übernehmen.

Nicht nur seit der Aufklärung, aber besonders seit dieser, ist Vernunft - wenn sie nicht durch Instrumentalisierung vereinseitigt und veroberflächlicht wird - ins Subjekt hinein verlegt: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung."

Diese viel zitierte Definition Immanuel Kants ermutigt den Menschen, sich selbst in den Mittelpunkt des Handelns zu rücken, jeden Determinismus von sich weisend - ein Denken, wie es bereits Pico della Mirandolas ketzerische Abhandlung "De dignitate hominis" ("Über die Würde des Menschen") 1496 bekundete. Als Prämisse demokratischer politischer Bildungsarbeit könnte und müsste das "sapere aude - Habe den Mut, (selbst) zu denken" - ein Pfahl sein im weichen Fleisch postmoderner hedonistischer Mentalität, die durch die gedankenlose entsolidarisierende Gleichgültigkeit des Anything-goes, All-is-pretty, Don't-worry-be-happy geprägt ist. Da aber auch die Politik unter dem Motto "Seid nett zueinander" geistige Schärfe und Differenz degoutant findet und allzu oft in oberflächliche, die Anstrengung des Begriffs meidende Wortstreitigkeiten flüchtet ("Leitkultur"), bleibt Kulturpolitik, bleibt politische Kultur ohne Anregung, Erregung, Aufregung.

II. Abschnitt

Jürgen Habermas hat nicht nur die Vorstellung vom Staat als einer bloßen Addition selbstreferenzieller Subsysteme - was eine höchst gefährliche Aushöhlung demokratischer Sinnhaftigkeit darstellt - zurückgewiesen, sondern quasi im Gegenzug Kant für den Möglichkeitssinn unserer Zeit fortgeschrieben, sich damit als wegweisender Idealist offenbart: Die "Sollgeltung von Normen" ist nicht mehr wie beim "Kategorischen Imperativ", der Lebensgrundsätze wie den Schutz von Leib und Leben, Ehrlichkeit und Hilfeleistung in Not postuliert, unbezweifelbares "Gesetz", sondern diese Sollgeltung muss im Diskurs erarbeitet werden. Solche "Diskursethik" setzt voraus, dass die Teilnehmer am Diskurs als einem Ort der moralischen Prüfung von Normen sich nicht belügen, betrügen oder gar umbringen, sondern dass sie, kommunikationsfreudig und -fähig, zu ",libidinöser Moral" (Herbert Marcuse) vorstoßen: Sollen wird zum Wollen. "Demokratische Ethik" ist nicht abhängig von privilegierten Einsichten - etwa von den Festlegungen durch Priester, Philosophen, staatliche Autoritäten (auch nicht der politischen Bildung) oder gesellschaftlichen Traditionen. Die demokratische Diskursethik ist vielmehr "ein Versuch, den strengen Anspruch des kategorischen Imperativs bei vorbehaltsloser Anerkenung des egalitären und pluralistischen Charakters der modernen Kultur aufrechtzuerhalten und neu zu formulieren" (Andras Kuhlmann).

Es ist weiterhin die große Leistung der Aufklärung, dass sie den fundamentalistischen Wahrheitsbegriff, den fast jede Religion für sich in Anspruch nimmt - was dann zum "Kampf der Kulturen" führen kann -, infrage gestellt hat und so der "Endlichkeit" des Menschen ("ich weiß, dass ich nichts weiß") gerecht wurde. Kultur macht es aber dennoch möglich, der Existenz inmitten von Relativismus und Aporie, wie sie sich als Folge der destruierenden Philosophie des Zweifels einstellen, Halt und Identität zu geben. Identität muss dabei freilich anders gesehen werden, als sie häufig eindimensional interpretiert wird. Als "vollkommene Gleichheit oder Übereinstimmung in Bezug auf Dinge oder Personen" bzw. als die "selbt erlebte innere Einheit der Person" ist sie kulturell fragwürdig; um sie zu erreichen, müsste kritische Selbstreflexion, vor allem Sensibilität gegenüber dem Unterbewusstsein und die Wahrnehmung der Anderen wie des Anderen, reduziert werden.

Nimmt man Identität als sozialpsychologischen Terminus - etwa als Gleichsetzung des Ich mit einer Gruppe, einem Volk, einer Nation -, so ist diese ebenfalls nur dann vollständig erreichbar, wenn man seine eigene (widersprüchliche) Individualität ausschaltet und stattdessen sich der Außensteuerung überantwortet. Selbst die Moden der Warenästhetik und Spaßgesellschaft bringen es verhältnismäßig leicht fertig, durch Gehirn- bzw. Gefühlswäsche den Menschen in einen Zombie, einen bedingungslosen Konsumenten zu verwandeln. Wenn also z. B. "deutsche Identität" eingefordert wird, so sollte man zumindest deutlich machen, dass "Wesensgleichheit" immer letztlich antikulturelle Vereinfachung von Komplexität bedeutet. Theodor W. Adorno kommt daher zu dem Gegen-Satz, dass das Nicht-Identische das eigentlich Identische sei. Sicherlich ist das hier formulierte Spannungsverhältnis schwer auszuhalten - aber es ist realitätsnah

Jedes Zusammenleben bedarf der Zurücknahme persönlicher Unverwechselbarkeit und eines Eingehens auf die Besonderheit des/der Anderen. Identität heißt dann, sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen und gleichzeitig ein Bewusstsein von sich als widersprüchlichem Individuum beizubehalten. Der Glaube, durch Öffnung für das Anders-Sein das Eigen-Sein mit dem humanen Gemeinsam-Sein verbinden zu können, bestimmt Aufklärung. Zugleich aber bleibt persönliche Bindung unangetastet; sie ist freilich eingebettet in "produktive Skepsis": "Der rechte Ring vermutlich ging verloren". Wahrheit ist ersetzt durch redliches subjektives Bemühen, das Lessing in der Ringparabel ("Nathan der Weise") einfordert: "Wohlan!/Es eifre jeder seiner unbestochnen,/von Vorurteilen freien Liebe nach!/Es strebe von euch jeder um die Wette,/die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut,/mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,/mit innigster Ergebenheit in Gott/zu Hilf!"

III. Abschnitt

Identität ist mit Authentizität (Echtheit, Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit) verbunden. Kulturelle Glaubwürdigkeit besteht darin, dass man Identität nicht als Ganzheit suggeriert, sondern um deren "Zerbrechlichkeit" und "Gebrochenheit" weiß. Der Mensch, sagt Kant, ist aus krummem Holz geschnitzt; so auch die Kultur, so auch die "authentische" Identität. Solche Einsicht verhindert dogmatische Hybris und die furchtbaren, gewalttätigen Simplifikationen der Ideologien.

Kultur ist voller Fragwürdigkeiten und Verunsicherungen, voller Antinomien, Ambivalenzen und Aporien. Sie schafft nicht fix-und-fertige Lösungen, sondern macht, dem Geschwindigkeitssog wie den Appellen zur Übereinstimmung sich entziehend, aus Lösungen immer wieder Probleme. Auch wenn das Wort inzwischen recht abgegriffen ist: "...und sehn betroffen,/den Vorhang zu und alle Fragen offen" (B. Brecht). Kultur hat stets das Doppelgesicht von clair-obscur, von hell-dunkel.

Denkarbeit lässt sich kategorial definieren als explizites, implizites und sich erinnerndes Denken (ich folge hier dem Gehirnforscher Ernst Pöppel). Dies gilt auch für die Wahrnehmung des Politischen, also auch für die politische Bildung. Alle drei Denkweisen agieren nach einem gewissermaßen kulturellen Prinzip: Das explizite Denken will die Fülle der Phänomene (das Chaos) mit Hilfe von gliedernden und zergliedernden Begriffen sortieren, systematisieren - also Ordnung schaffen. Man kann auch von analytischer Vernunft sprechen.

Mit ihrer Hilfe hat in der Moderne der Prozess der Zivilisation einen Höhepunkt erreicht; man schuf - ob in der Produktion oder der Erziehung, in der Medizin oder den Natur- wie Geisteswissenschaften - immer kleinere Einheiten, maximierte und perfektionierte sein Wissen über solche Subsysteme (Spezialistentum) und entwickelte eine daraus abgeleitete, höchst erfolgreiche Praxis. Wenn man aber von immer weniger immer mehr weiß, geht freilich das Überblicks- bzw. Orientierungswissen verloren; es beruht auf der Einsicht in Zusammenhänge und Wechselwirkungen: "...Dann hat er die Teile in seiner Hand,/fehlt leider nur das geistige Band" (J. W. v. Goethe). Explizites Denken ist zwar nicht ich-los, aber ich-fern; es nutzt vornehmlich das Denken der Anderen. Die Welt zu ordnen zielt nicht darauf, sein eigenes Selbst zu suchen.

Anders die Ich-Nähe des impliziten Denkens; dieses ist spontan, intuitiv, subjektiv. Es handelt sich um die Vernunft der Emotion, der Phantasie. Die im impliziten Denken zutage tretende Unverwechselbarkeit äußert sich bis in die Physiognomie oder die Gestik. In jedem Gesicht, in jedem Verhalten erscheint ein komplexes Selbst.

Die Vernunft des Erinnerns denkt in Bildern - einst erlebt, bleiben sie gespeichert; durch sie hindurch blickt man auf die Welt. Ohne Bilder und Anschauungen ist das Denken leer; ohne eigene Erinnerung verkommt das Ich in Nichtigkeit. Menschen, die sich an nichts erinnern, sind nicht glaubwürdig.

Das komplexe Beziehungsgefüge von Leben, Gesellschaft und Welt bedarf der Verbindung aller Denkformen. Darauf kommt es bei der Kultur an, auch der politischen. Es ist immer auch ein Weg zur eigenen Identität - wobei unser Wissen, dass wir diese nicht vollständig erreichen können, dass wir stets auf Ergänzungen angewiesen sind, unsere Authentizität ausmacht.

Dr. phil., geb. 1928; Honorarprofessor für Kulturvermittlung an der TU Berlin; von 1964 bis 1990 Schul- und Kulturdezernent der Stadt Nürnberg; Mitglied des PEN.

Anschrift: Eschenweg 5, 90574 Rosstal.

Veröffentlichungen zuletzt: Deutsche Kultur 1945-2000, München 1997 (Berlin 1999); Die Mauer fiel, die Mauer steht. Ein deutsches Lesebuch, München 1999; Und du meinst so bliebe es immer. Spurensuche in Franken uns anderswo, Cadolzburg 2001.