Gespaltene Bürgergesellschaft?
Die ungleichen Folgen des Strukturwandels von Engagement und Partizipation
Traditionelle Solidarorganisationen wie Gewerkschaften, Kirchen und Verbände verzeichnen seit längerem einen Mitgliederschwund. Er betrifft überproportional die unteren, vor allem bildungsfernen Bevölkerungsschichten.I. Zur Problemstellung
Die soziologische und die öffentliche Debatte über sozialen Zusammenhalt, Gemeinschaftsbindungen und Solidarität in Deutschland hat in den letzten Jahren eine erstaunliche Wendung erfahren. Noch Mitte der neunziger Jahre wurde im Zusammenhang mit der Individualisierungsthese der Niedergang gemeinschaftlicher Beziehungsformen konstatiert und damit eine Diskussion über den Fortbestand von Solidarität und Gemeinsinn entfacht [1] . Die Mutmaßung einer Desintegrationskrise und einer damit verbundenen Erosion von Solidarnetzen wurde bald von einer positiven Einschätzung gesellschaftlicher Bindekräfte abgelöst. Das gilt zumindest für Überlegungen, die Partizipation und Engagement in freiwilligen Vereinigungen als zentrale Integrationsmechanismen und als wesentliche Quellen für das soziale Kapital einer Gesellschaft ansehen [2] .
Im Internationalen Jahr der Freiwilligen 2001 wird in der politischen Öffentlichkeit der unverzichtbare Beitrag der Freiwilligenarbeit für die gesellschaftliche Wohlfahrt beschworen. Von bis zu 22 Millionen Bundesbürgern über 16 Jahre, also von jedem dritten Erwachsenen, ist die Rede, die bei Sportvereinen und Feuerwehren, Kirchen und Gewerkschaften freiwillig mitmachen. Wissenschaftlich kommen neue Formen des Engagements und neue Konfigurationen der Gemeinschaft als funktionale Äquivalente für überkommene Bindungs- und Beteiligungsmuster in den Blick. Ein Strukturwandel des zivilen Engagements scheint sich zu vollziehen. Nicht Rückgang, sondern Verlagerung sozialer und politischer Beteiligung in Vereinigungen, Verbänden und Organisationen steht gegenwärtig zur Debatte; bisweilen wird eine Ausweitung des freiwilligen Engagements verkündet [3] .
An diesem Punkt scheint die Debatte über gesellschaftliche Beteiligung und sozialen Zusammenhalt ein vorläufiges Ende gefunden zu haben. Beide Argumentationslinien ignorieren jedoch, dass es sich sowohl beim Niedergang als auch beim Wandel von Engagement und Partizipation um sozialstrukturell ungleich verteilte Entwicklungen handelt. Es erhebt sich sogar die Frage, ob dieser Strukturwandel nicht den Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen von Feldern sozialer und politischer Beteiligung zur Folge hat.
Der hier unternommene Versuch einer differenzierten Interpretation des Strukturwandels von Engagement und Partizipation erfolgt in drei Schritten: Nachdem wir auf die Relevanz von Mitgliedschaften in freiwilligen Assoziationen für Individuum und Gesellschaft hingewiesen haben, soll im ersten Teil die herkömmliche These des Strukturwandels skizziert werden. Anschließend folgt eine differenzierte Analyse der Mitgliedschaften in Vereinen, Verbänden und Initiativen sowie der Entwicklung von Mitgliedschaftsquoten zwischen 1956 und 1998. Zur Illustration greifen wir auf ALLBUS-Daten sowie Angaben ausgewählter Studien zurück [4] . Schließlich wagen wir im dritten Abschnitt eine Erklärung der festgestellten Tendenzen.
Um Argumentation und Beweislage überzeugend darlegen und verknüpfen zu können, müssen wir zwei Einschränkungen machen: Erstens zeigt die Entwicklung der gesellschaftlichen Beteiligung in den neuen Bundesländern spezifische Merkmale, die besonderer Erklärungsansätze bedürfen. Der starke Rückgang von Mitgliedschaften seit 1990, insbesondere bei politischen Organisationen und Gewerkschaften, ist u. a. eine Folge des Wandels bzw. des Verschwindens alter DDR-Organisationen, der Veränderung der wirtschaftlichen Lage und des Ausscheidens vieler Ostdeutscher aus dem Erwerbsleben sowie der Normalisierung hoher gesellschaftlicher Beteiligung nach der Umbruchphase [5] . Wir beschränken uns daher im vorliegenden Beitrag auf die Verhältnisse im Westen Deutschlands.
Zweitens zwingen uns die Restriktionen des Datenmaterials, aber auch inhaltliche Überlegungen dazu, uns auf Männer als Mitglieder in Organisationen und Vereinen zu konzentrieren. Wenn wir den Schulabschluss und die berufliche Stellung berücksichtigen wollen, kann der Zeitvergleich von Mitgliedschaftsquoten angesichts des zugänglichen Zahlenmaterials nur für Männer erfolgen [6] . Gleichzeitig lassen sich geschlechtsspezifische Beteiligungspräferenzen und Entwicklungstendenzen feststellen, die bei einem Vergleich verschiedener Organisationsformen zu berücksichtigen wären. Frauen sind in Selbsthilfegruppen, soziokulturellen Vereinen, informellen Gruppierungen sowie sozialen und personenbezogenen Organisationen stärker vertreten als Männer, die sich vor allem in traditionellen Vereinigungen und prestigeträchtigen Ehrenämtern engagieren [7] . Im Gegensatz zur Ent-wicklung der Mitgliedschaften bei Männern weisen Frauen aber nicht nur bei neuen Organisationsformen höhere Beteiligungsraten auf, sie verzeichnen teilweise sogar Zuwächse bei traditionellen Vereinsformen, wie das etwa bei Sportvereinen der Fall ist [8] . Obwohl bei Männern und Frauen nach wie vor unterschiedlich hohe Beteiligungsquoten vorliegen, hat es den Anschein, dass Frauen stark aufholen.