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Dritter Weg und Kommunitarismus | Dritter Weg - Kommunitarismus | bpb.de

Dritter Weg - Kommunitarismus Editorial Der Dritte Weg - Königsweg zwischen allen Ideologien oder selbst unter Ideologieverdacht? Was sind Dritte Wege? Dritter Weg und Kommunitarismus New Economy und die Politik des Modernen Dritten Weges Tony Blair "im Dickicht der Städte"

Dritter Weg und Kommunitarismus

Hans Vorländer

/ 22 Minuten zu lesen

Der Kommunitarismus ist das Brückenkonzept von der alten zur neuen Sozialdemokratie. Von einem allumfassenden Etatismus in Wirtschaft und Gesellschaft soll der Weg zu einer aktiven Bürgergesellschaft führen.

Verführungen einer Metapher

Die Metapher vom Dritten Weg ist keineswegs neu. Viele politische Richtungen haben im 20. Jahrhundert in unterschiedlichen Kontexten Rückgriff auf diese Metapher genommen, um damit politischen Terraingewinn zu erzielen. Das war bei den Austromarxisten der 1920er Jahre genauso wie bei der Sozialistischen Internationale 1951 und der schwedischen Sozialdemokratie 1990. Die italienischen Faschisten glaubten, mit ihrem Dritten Weg eine Schneise zwischen bolschewistischem Kommunismus und demokratischem Liberalismus zu schlagen. Papst Pius XI. grenzte sich mit seinem Dritten Weg von Kollektivismus einerseits und ungebändigtem Individualismus andererseits ab. Im Jugoslawien Titos waren Arbeitermitbestimmung und genossenschaftlicher Sozialismus die Marksteine eines Dritten Weges zwischen real existierendem Staatssozialismus sowjetischer Prägung und einem demokratischen, sozial domestizierten Kapitalismus des Westens. Der Reformsozialismus in der Tschechoslowakei unter Dubek wollte einen ähnlichen Weg gehen. Und auch die Renaissance des Mitteleuropa-Gedankens in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei vor den Revolutionen von 1989 war konzeptionell verknüpft mit der Vorstellung eines Dritten Weges zwischen West und Ost, zwischen Kapitalismus und Kommunismus.

Metaphern wie die des Dritten Weges leben von ihrer Suggestivkraft: Es gibt zwei Wege, die in die Irre, und nur einen Weg, der zum Ziel führt. Dieser Weg muss nicht der mittlere Pfad sein, gleichwohl liegt in der Metapher des Dritten Weges die Vorstellung eingeschlossen, dass der Dritte Weg auch der vernünftige, die Extreme vermeidende und insofern dann doch der mittlere Weg ist. In der Geschichte des politischen Denkens ist die Vorstellung immer schon vorhanden gewesen, dass eine politische Ordnung, will sie denn gut und gerecht und auf Dauer gestellt sein, die Extreme zu vermeiden und den mittleren Weg zu suchen hat. Schon bei Aristoteles war es die Mitte, die sowohl Stabilität wie auch Glückseligkeit in einem politischen Gemeinwesen zu garantieren schien. Das bedeutete zum einen, dass nicht die reinen Verfassungsformen, seien es Monarchie, Aristokratie oder Demokratie, dazu angetan waren, eine gute Ordnung zu begründen. Hingegen waren es die Mischformen, genauer gesagt die Mischform aus Demokratie und Oligarchie, die Stabilität und Gerechtigkeit eines politischen Gemeinwesens verbürgten. Zum anderen musste eine solche Ordnung auf den "mittleren Schichten" aufruhen. Weder die Armen noch die Reichen alleine sollten ein politisches Gemeinwesen regieren und beherrschen. Seit Aristoteles ist es mithin der Topos der Mitte, der eine historische Vernünftigkeit und eine politische Plausibilität für sich beansprucht, die der Metapher vom Dritten Weg zusätzliche Suggestivkraft verleihen.

Der Dritte Weg ist ein Unterscheidungsbegriff, der einen politischen Handlungsraum abzustecken sucht. Die äußeren Grenzen dieses Handlungsraumes werden von den diskredierten oder erschöpften Extremen markiert. Im Zentrum befindet sich die alternative, neue Option, die sich von ihren alten, falschen Konkurrenten abgrenzt. Dabei handelt es sich nicht um eine neue Utopie, ja auch nicht um eine grundlegend neue Vision, sondern die neue Handlungsoption sucht dem pragmatisch Notwendigen und dem politisch Machbaren eine Perspektive zu geben. Insofern ist die Metapher auch immer Teil eines strategischen Begriffsmanagements, das politische Abgrenzung und soziale Orientierung, evolutionären Wandel und moderierenden Politikentwurf anzeigen soll. Das Ziel der diskursiven Einführung und semantischen Besetzung der Metapher besteht damit zugleich in der Veränderung der Parameter öffentlicher Diskurse und in der Gewinnung von Deutungshoheit über das öffentliche Räsonnement.

Dritte Wege zwischen Kapitalismus und Sozialismus

Der Dritte Weg der Sozialdemokratie unterscheidet sich politikstrategisch von seinen historischen Vorläufern kaum. Sicher, die Kontexte sind andere, auch die Abgrenzungen im Feld konkurrierender Wegbeschreibungen haben sich verändert. Wenn aber das Feld der möglichen Politikoptionen zunächst einmal durch die Leitdifferenz von etatistischem Sozialdemokratismus alter Prägung und neoliberalem Ökonomismus neuer Prägung konturiert ist und der Dritte Weg der "neuen Sozialdemokratie" dazwischen verlaufen soll, dann stellt sich sehr schnell heraus, dass auch dieser Ansatz der Begründung und Rechtfertigung eines politischen Programms keineswegs neu ist. So ließen sich ja auch die soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack genauso wie der Ordoliberalismus der Freiburger Schule von Röpke, Eucken und Rüstow als - schon früh, im Wesentlichen seit den 1930er Jahren konzipierte - Dritte Wege zwischen Kapitalismus und Kommunismus, zwischen Laissez-faire-Ökonomismus und staatlich gelenkter Planwirtschaft verstehen . Und geht man noch weiter zurück, so fallen sofort jene konzeptionellen Reformanstrengungen des Sozialen Liberalismus deutscher, italienischer und französischer Provenienz wie auch die große Reformbewegung des New Liberalism im England der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert ins Auge, die einen Dritten Weg zwischen ungeregeltem Kapitalismus und etatistischem Sozialismus zu beschreiben und zu beschreiten versucht haben. Ein Theodor Barth oder ein Friedrich Naumann, ein Max Weber und der frühe Theodor Heuss, der Verein für Sozialpolitik, in Sonderheit ein Lujo Brentano - sie alle stehen für den parteipolitisch zwar nicht erfolgreichen, aber programmatisch anspruchsvollen Versuch der Erneuerung des klassischen Liberalismus, der sich nun, in der nicht mehr zu leugnenden Industriegesellschaft, sozial, das hieß vor allem sozialpolitisch, zu erweitern hatte .

Noch deutlicher indes ist die historische Vorläuferschaft des englischen New Liberalism. Der New Liberalism der vorletzten Jahrhundertwende war eine englische intellektuelle Reformbewegung, der es gelang, maßgeblichen Einfluss auf die Liberal Party und ihre Regierungspolitik nach 1900 zu nehmen. Thomas H. Green, John A. Hobson und vor allem Leonard T. Hobhouse entwickelten - nicht zuletzt in Konkurrenz zu den Webbs der Fabian Society, aber zunächst sehr viel erfolgreicher - ein Programm sozialer Reformen, das die Verkürzungen des klassischen, utilitaristischen Liberalismus hinter sich lassen wollte und den organisierten Liberalismus für die Belange der Arbeiterklasse und für eine gezielte, wenngleich nicht allein etatistisch gedachte Sozialpolitik des Staates zu öffnen suchte . Dieser New Liberalism ist dann wiederum zu einem Vorbild für den moderaten Sozialdemokratismus in den USA geworden, der vor allem in der Amtszeit von Franklin D. Roosevelt und seinem so genannten New Deal Liberalism politikgestaltend wurde. Auch dieser New Deal Liberalism war durchaus als ein Dritter Weg zwischen klassischem Wirtschaftsliberalismus und europäischem Sozialdemokratismus zu sehen. Dass sich Bill Clinton wie auch Erneuerer in der Demokratischen Partei ab den 1980er Jahren zunehmend von diesem Konzept Roosevelt'scher Prägung absetzten, lag weniger in programmatischen Überlegungen begründet, sondern war vielmehr eine taktische Rochade, mit der den Angriffen der Reagan-Administration und der Republikaner auf den vermeintlichen Etatismus des Wohlfahrtsstaates demokratischer Provenienz begegnet werden sollte. In der Sache blieben Clinton und jene reformwilligen Gouverneure, die sich - unter seinem Vorsitz - schon in den 1980er Jahren im Democratic Leadership Council zusammengeschlossen hatten, dem New Liberalism und dem New Deal Liberalism weitgehend treu, wohingegen sie sich aber von jenen großen Wohlfahrtsprogrammen der Great Society Johnsons abgrenzten .

Historische Vorläuferschaft: Der englische New Liberalism

Es ist genau jene doppelte Frontstellung, welche die "neue Sozialdemokratie" von Tony Blair und Gerhard Schröder bezogen hat: Zum einen wird der Etatismus der alten Sozialdemokratie verworfen. Dieser wird vor allem mit einer verkrusteten Wohlfahrtsbürokratie, aber auch mit einer grundsätzlichen Haltung verbunden, die im Staat das Mittel zur Lösung sozialer Probleme sieht. Auf der anderen Seite ist es jener Neoliberalismus, der mit einem "entfesselten Kapitalismus" identifiziert und der, weil er der staatlichen Zähmung entlaufen ist, für sozial desaströs gehalten wird. Die historische Situation kehrt sich also um. Ging es in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert für den Dritten Weg eines erneuerten Liberalismus darum, vom klassischen, individualliberalen Kapitalismus mit seiner Laissez-faire-Orientierung zu einem positiven Staatsverständnis zu gelangen, um mit den Mitteln staatlicher Intervention individuelle und soziale Härten zu mildern, die industriellen Beziehungen zu regulieren und zu allgemeiner Wohlfahrt beizutragen, so schlägt die "neue Sozialdemokratie" mit ihrem Dritten Weg die umgekehrte Richtung ein: Von einem allumfassenden Etatismus in Wirtschaft und Gesellschaft soll der Weg zu einer aktiven, sich selbst regulierenden Bürgergesellschaft führen. Und in beiden Wendungen, der des Liberalismus am Beginn des 20. Jahrhunderts und der der Sozialdemokratie am Beginn des 21. Jahrhunderts, nimmt der "Kommunitarismus" einen prominenten Platz ein. Der Kommunitarismus ist das Brückenkonzept von der alten zur neuen Sozialdemokratie, genauso wie er es hundert Jahre zuvor in England bei der Wandlung des alten zum neuen Liberalismus war.

Denn es ist keineswegs so, dass der Kommunitarismus eine Erfindung des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts ist. Bereits im späten 19. Jahrhundert wurde in England die "Gemeinschaft" wieder entdeckt. Die Sozialphilosophie wandte sich vom Utilitarismus, der dem liberalen Bürgertum um 1830 noch seine reformerische Radikalität verliehen hatte, ab und suchte nun, nicht zuletzt durch Anleihen beim deutschen Idealismus, bei Kant, Humboldt und Hegel, einen Begriff von individueller Freiheit zu finden, der sowohl die sozialen Voraussetzungen wie auch die Konsequenzen für die Gesellschaft und ihren inneren Zusammenhalt reflektierte. Die Ausbildung von individueller Freiheit und individuellen Präferenzen erschien nur auf der Grundlage gemeinschaftlicher Lebensformen möglich; umgekehrt konnte der Individualismus nur sozialverträglich gedacht werden, wenn er moralisch auf die Gemeinschaft zurückbezogen blieb. Soziale Kooperation und die Ausbildung gemeinschaftlicher Werte wurden als die Grundlagen eines "guten Lebens" revitalisiert, und es wurde damit eine bürgerschaftliche Sphäre zu konstituieren versucht, die sich vermittelnd zwischen Individuum und Staat schob.

Die Theoretiker des New Liberalism, von D. G. Ritchie bis Leonard T. Hobhouse, sahen in diesem neuen Liberalismus die Grundlage für eine politische Reformbewegung, die zum einen jene durch Kapitalismus und Wettbewerb verschütteten gemeinschaftlichen Ressourcen der modernen Gesellschaft wieder zu beleben suchte und die zum anderen die sozialen Voraussetzungen individueller Freiheit in veränderter industriegesellschaftlicher Umgebung wahren sollte. Von hier aus bis zu einem "positiven" Staatsverständnis war es nur ein kurzer Weg. Sozialpolitik und begrenzte Staatsintervention in den Bereich der Wirtschaft wurden zu programmatisch-politischen Forderungen. Die Rückbesinnung des New Liberalism auf die Gemeinschaft als Generator von gesellschaftlicher Stabilität und das Bekenntnis zum Staat als Medium politischer Modernisierung setzte sich gleichwohl von den stärker etatistisch orientierten Reformansätzen der Sozialisten jener Zeit ab. Zum einen war der Staat für die Liberalen nach wie vor nur Ultima Ratio bei der Verfolgung sozialreformerischer Ziele, zum anderen suchten die liberalen Reformer die liberale, kapitalistische Wirtschaftsordnung keineswegs zu überwinden, wenngleich sie die negativen Effekte sozialpolitisch korrigieren wollten. Ihr Rekurs auf die organische Vorstellung einer sozialkooperativen Gemeinschaft von Individuen und Bürgern stellte die Antithese zur Annahme einer klassengespaltenen Gesellschaft dar, die nur durch den Kampf der Klassen überwunden werden konnte. "Gemeinschaft" war aber auch die Antithese zur Vorstellung eines individualunternehmerischen Wettbewerbskapitalismus, der durch Konzentration der Ressourcen und durch Vermachtung der Märkte sozial nicht mehr hinnehmbare Folgekosten zeitigte. Zwischen dem alten, klassisch-liberalen, nunmehr atomistisch gewordenen Individualismus und dem industriellen Kampf der Klassen glaubte der New Liberalism seine Vision einer "community" von sozialen Individuen, gesellschaftlicher Solidarität und politischer Kooperation in Stellung bringen zu können. Ob es sich hierbei letztlich um ein rückwärts gewandtes Reformmodell handelte, das auf vormodernen und vorindustriellen Annahmen basierte, kann an dieser Stelle dahinstehen. Fest steht aber, dass sich der organisierte politische Liberalismus Englands in der Wende zum 20. Jahrhundert zu erneuern verstand und politischen Rückenwind erhielt. Noch einmal konnte der Liberalismus in England als Reformkraft in Erscheinung treten.

Pfade des Kommunitarismus

Der zeitgenössische Kommunitarismus kann also auf eine angelsächsische Tradition zurückblicken. Er ist gewissermaßen über den Atlantik, nach Nordamerika ausgewandert und von dort wieder zuerst nach England, dann nach Kontinentaleuropa zurückgekehrt . Doch lässt sich der amerikanische Kommunitarismus auch als eine öffentlichkeitsmächtige Sozialphilosophie verstehen, die auf jene Gemeinschaftsformen der nordamerikanischen Geschichte rekurriert, die von den Einwanderergruppen über die religiösen Sekten, die lokale Gemeinde bis hin zu den Bürgervereinen reichen. Intermediäre Assoziationen waren, so hatte Alexis de Tocqueville in seiner Analyse der amerikanischen Massendemokratie der 1830er Jahre resümiert, die Fermente einer Gesellschaft ohne feste, integrative Bindungen aus Geschichte und Tradition. Sie gaben den USA das demokratische Gepräge, sie gaben dem Einzelnen sozialen Rückhalt, und sie sorgten dafür, dass "Bürgergeist" die öffentlichen Angelegenheiten lenkte.

Auf Alexis de Tocqueville griff vor allem jene kultursoziologisch inspirierte Variante des amerikanischen Kommunitarismus zurück, die sich mit den Individualisierungsschüben moderner Gesellschaften auseinandersetzte. Wo schon Tocqueville im vorherrschenden Individualismus der amerikanischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts die Gefahr von Egoismus und Atomismus sah, da setzten Robert Bellah und seine Mitarbeiter an, wenn sie Tendenzen in der modernen amerikanischen Gesellschaft identifizieren, die den sozialen Zusammenhalt zu gefährden scheinen . Während für das 18. und 19. Jahrhundert individuelle Freiheit immer sozial - durch Familie, Gemeinde, Glaubensgemeinschaft - eingebunden blieb, hat der mit der Wende ins 20. Jahrhundert einsetzende Vormarsch des Industriekapitalismus die gesellschaftliche Balance zugunsten eines ökonomischen Erfolgs- und Bereicherungsdenkens verschoben, das zudem die alten Restriktionen aus Religion und Moral abstreifte. Verlierer sind die sozialen Gemeinschaften und das öffentliche Leben. Bürger ziehen sich in ihre Privatheit zurück und vergessen ihr bürgerschaftliches Engagement. Da sich gleichzeitig - mit der zunehmenden Atomisierung - ein undurchschaubarer, bürokratischer Daseins- und Wohlfahrtsstaat etabliert hat, werden die Selbstinitiative des Bürgers und die Selbstheilungskräfte der Gesellschaft paralysiert. Bellah und seinen Mitarbeitern geht es um eine Kritik des Individualismus, der zu einem Atomismus mutiert, und um eine Kritik des Staates, dessen anonyme Verwaltungsstrukturen bürgerschaftliches Handeln demotivieren.

Bellah will diesen selbstzerstörerischen Tendenzen der amerikanischen Gesellschaft durch zwei Strategien Einhalt gebieten: Zum einen geht es ihm um die Revitalisierung alter Gemeinschaftsformen, von denen er annimmt, dass sie zumindest als "Erinnerungsgemeinschaften" noch präsent sind. Hier rekurriert er auf Traditionen, Gewohnheiten, religiöse und bürgerschaftliche Gemeinschaften, kurz: auf jene "social habits", die Gemeinsinn, Bürgergeist und gemeinschaftliches Handeln in den USA für eine lange Zeit geprägt haben. Zum anderen ist es Bellah um die Schaffung neuer Gemeinschaftsformen zu tun. Wo alte Gemeinschaftsformen nicht wieder belebt werden können, weil sie ausgestorben sind oder sich überlebt haben, geht es darum, aus nachbarschaftlichen Strukturen und Kontexten zwischenmenschlicher Freundschaften neue Gemeinschaftsformen entstehen zu lassen, die als soziale Netze der fortschreitenden Vereinzelung entgegenwirken. Ziel ist die Wiederherstellung einer "guten Gesellschaft", in der sich Individualismus und Gemeinschaft die Balance halten, in welcher der Einzelne ein verantwortungsvolles Leben führen kann und in der die Gemeinschaft als die Ressource gesellschaftlich geteilter Moral ihren Platz hat.

Ganz ähnlich argumentiert jene philosophische Spielart des amerikanischen Kommunitarismus, die vor allem die vermeintlich atomistische Schlagseite des Individualismusbegriffs kritisiert. Das hier vorgetragene Argument ist, dass sich auch das moderne liberale Selbst nur in einem gesellschaftlichen Zusammenhang entwickeln kann und dass dieser konstitutive Zusammenhang vom Liberalismus als der Grundlagenphilosophie moderner Gesellschaften nicht wahrgenommen wird. Der Kommunitarismus besteht seinerseits auf dem Vorrang des Guten vor dem Recht. Das "Gute" bezeichnet dabei jene von den Mitgliedern einer Gemeinschaft geteilten Vorstellungen und Werte, auf deren Basis sich erst ein sinnvolles Leben ausbilden kann. Eine jede Philosophie, so lautet der Einwand des philosophischen Kommunitarismus, die das Individuum einzig als Träger von Rechten definiert, verkennt, dass Rechte nur in sozialer Praxis ihre Verankerung finden; sie ist blind für die gemeinschaftlichen Voraussetzungen von Gesellschaft und verstellt damit zugleich den Blick auf die Bedingungen sozialer Integration .

War diese rechtsphilosophische Diskussion eine akademische, die sich vor allem an John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit entzündet hatte, so machte der amerikanische Kommunitarismus spätestens dann politisch auf sich aufmerksam, als 1994 ein Manifest von Intellektuellen, Publizisten und Politikern unterschiedlicher parteipolitischer Couleur erschien, das der "Stimme von Gemeinsinn und Gemeinschaft" Gehör verschaffen wollte . Die Unterzeichner waren sich einig in der Überzeugung, dass eine "gemeinschaftsorientierte Perspektive eine Antwort darstellt auf die Herausforderung der großen moralischen, rechtlichen und sozialen Gebote unserer Zeit". Vor allem Amitai Etzioni, Benjamin Barber und William Galston hatten es verstanden, das Anliegen der Kommunitaristen in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen . Etzioni ist nicht nur einer der ersten öffentlichkeitswirksamen Protagonisten der kommunitaristischen Ideen gewesen, sondern er hat darüber hinaus, bis auf den heutigen Tag, eine Vielzahl von konkreten Projekten in Nachbarschaften und Stadtteilen, inner- und außerhalb der USA, initiiert und betreut. Barber und Galston gehörten auch zu den engeren Beratern des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton. Dieser zeigte sich nicht zuletzt rhetorisch vom Kommunitarismus beeinflusst, als er immer wieder in öffentlichen Reden, so in seinen Inaugurationsreden, das "Gemeinschaftsgefühl" der Amerikaner beschwor, damit aber nicht nur auf das hinlänglich bekannte Pathos inneramerikanischer Identitätsstiftung zurückgriff, sondern auch - ganz dem kommunitaristischen Credo gemäß - an die Selbstheilungs- und Initiativkräfte des Einzelnen und von freiwilligen sozialen Vereinigungen appellierte. Auch für Bill Clinton und den programmatischen Anspruch seiner Administrationen war es leitend geworden, zwischen dem Neoliberalismus und dem Monetarismus auf der einen Seite, die vor allem mit der Reagan-Ära identifiziert wurden, und dem Rückgriff auf den Staat als den Problemlöser auf der anderen Seite (ein Ansatz, der vor allem mit den alten Demokraten der Vor-Reagan-Ära verbunden worden war) einen Politikentwurf zu platzieren, der auf die Selbstregulierung einer aktiven Bürgergesellschaft abhob.

Den Kommunitaristen geht es darum, ein Programm der gesellschaftlichen Balance zu entwerfen. Das Zielbild ist die Wiederherstellung einer aktiven Gesellschaft freier und gleicher Bürger, die auf der Würde aller Menschen, gegenseitiger Toleranz sowie der friedlichen Austragung von Konflikten beruht und in der die Tugenden von Fürsorge und Teilen, von sozialer Gerechtigkeit und gemeinschaftsbezogener Verantwortung einen festen Platz haben. Eine "gute Gesellschaft" setzt die Abkehr vom Etatismus voraus. Der moderne Dienstleistungs- und Wohlfahrtsstaat ist nicht nur auf vielen Politikfeldern überfordert, er demotiviert wirtschaftliches und soziales Engagement. Die Anonymität des administrativ-bürokratischen Systems hemmt, ja verhindert zu einem guten Teil die Entfaltung mit- und zwischenmenschlicher Tugenden. Mit dieser Abkehr vom Etatismus ist aber keineswegs generell die Rückkehr zu einem Nachtwächterstaat oder zu einem Minimalstaat - beide eher identifiziert mit neoliberalen ökonomischen Vorstellungen - intendiert. Die kommunitaristische Emphase liegt nicht in der unbedingten Entstaatlichung aller Bereiche, auch nicht in der unkonditionierten Privatisierung der Daseinsvorsorge; Kommunitaristen denken zuerst an die Wiederbelebung der Traditionen von Selbsthilfe und an die Bereitschaft der Bürger, lieber auf die Familie, die Nachbarschaft und die Gemeinde und ihre Problemlösungskapazitäten zu vertrauen, als sich auf zentralisierte staatliche Verwaltungs- und Wohlfahrtsbehörden zu verlassen. Nicht im Staat liegt das Heil, sondern in den Selbstheilungskräften der vielfältigen Gemeinschaften und Assoziationen der Bürger. Dieser Appell kann auf genuin amerikanische Traditionen zurückblicken, reflektiert aber auch, so kann mit Blick auf den europäischen Kontext formuliert werden, das Prinzip der Subsidiarität. Die Maxime ist, dass keine soziale Aufgabe einer Institution zugewiesen werden soll, die größer ist als notwendig, um die anstehende Aufgabe zu erfüllen: "Was in der Familie getan werden kann, sollte nicht einer intermediären Gruppe übertragen werden. Was auf lokaler Ebene getan werden kann, sollte nicht an den Staat oder die Bundesebene delegiert werden." Nach dem Verständnis der Kommunitaristen schwächt es die Gemeinschaften an der Basis, wenn Aufgaben an höhere Ebenen abgeschoben werden. Und die Regierung, die einzelstaatliche wie auch die auf Bundesebene, sollte nur in dem Maße eingreifen, wie die nachgeordneten Systeme versagen.

Der Kommunitarismus zielt also auf die intermediäre, zwischen Staat und Individuum vermittelnde Ebene von Gemeinschaften, Vereinigungen und Assoziationen ab. Wo diese intermediären Gemeinschaften zwischen Atomisierung und Etatisierung verloren zu gehen drohen, muss es Ziel kommunitaristischer Politik sein, diesen intermediären Sektor der Gesellschaft wieder zu beleben und zu stabilisieren. Der intermediäre Sektor ist nicht nur die Grundlage einer aktiven Bürgergesellschaft, sondern er stellt zugleich die Ressourcen der gesellschaftlichen Moral bereit. Der intermediäre Sektor balanciert die Gesellschaft, weil er soziale und moralische Ligaturen bereitstellt, die dem Einzelnen Rückhalt und soziale Vergewisserung vermitteln. So versteht sich der Kommunitarismus als ein Modell der Balance zwischen der Logik von Wettbewerb und Globalisierung auf der einen Seite und der Erzeugung von Sinn, Solidarität und Zugehörigkeit als den Voraussetzungen gesellschaftlicher und politischer Stabilität auf der anderen Seite. Soziale Gerechtigkeit basiert für die Kommunitaristen auf dem Gedanken der Gegenseitigkeit und der Anerkennung des anderen: "Jedes Mitglied der Gemeinschaft schuldet allen gegenüber etwas, und die Gemeinschaft schuldet jedem ihrer Mitglieder etwas." Deshalb tritt der Kommunitarismus auch für eine Balancierung von individuellen Rechten und sozialen Pflichten, von "rights and responsibilities", wie auch der Untertitel der kommunitaristischen Zeitschrift "The Responsive Community" lautet, ein. Gerechtigkeit wird nicht nur zu einer der Justiz und dem Rechtssystem überantworteten Frage rechtsstaatlicher Distribution. Gemeinschaftsorientierte soziale Gerechtigkeit wird als soziale Tugend und individuelle Haltung begriffen, die auf die Folgen des eigenen Tuns reflektiert und die für Kommunitaristen aus der so schlichten wie einleuchtenden Tatsache folgt, dass, wie sie formulieren, "keiner von uns eine Insel" ist.

Die aktive Bürgergesellschaft der Kommunitaristen setzt auf sich selbst, erkennt den zentralen Wert von Familien, Nachbarschaften und freiwilligen Assoziationen als Grundlage von Freiheit und Demokratie an. Sie sucht, in der Abkehr von einer auf den Staat fixierten Denk- und Erwartungshaltung, die Kräfte der Selbsthilfe und der Selbstorganisation zu stärken. Sie sieht in staatsbürgerlicher Erziehung und Bildung, von Kindergärten über die Schulen bis zu den Universitäten, eine wichtige Aufgabe für den Erwerb bürgerschaftlicher Kompetenzen. Der Kommunitarismus hält damit an dem aus der klassischen politischen Philosophie tradierten Glauben fest, dass ein politisches Gemeinwesen letztlich vom Engagement seiner Bürger für die öffentlichen Angelegenheiten getragen wird.

Die Brücke des Kommunitarismus: Von der alten zur neuen Sozialdemokratie

Der Kommunitarismus scheint deshalb ein besonders gut geeigneter Kandidat für die Programmatik eines Dritten Weges zu sein, weil er zum einen den Etatismus und zum anderen den Individualismus kritisiert. Unter Etatismus wird vor allem der zentralistisch agierende Staat der Wohlfahrts- und Daseinsvorsorge verstanden, mit dem kritisierten Individualismus die Vorstellung eigennutzmaximierender Individuen verbunden, denen es an den sozialen Tugenden von Solidarität und Bürgersinn gebricht. Damit rückt der Kommunitarismus auch in eine Position programmatischer Selbstverortung ein, welche die vermeintlichen Auswüchse eines utilitaristischen Liberalismus und eines etatistischen Sozialismus kritisiert, andererseits aber keine radikale Abkehr von Liberalismus und sozialistisch-reformerischen Ansprüchen erfordert. Und so verwundert es nicht, dass der Kommunitarismus im Konzept der "neuen Sozialdemokratie" eine zentrale Bedeutung einnimmt: In den Überlegungen von Anthony Giddens über eine Politik "beyond left and right" wird der Kommunitarismus zum Theoriebaustein, der das heikle Problem der Versöhnung von individualistischer Entwurzelung und gesellschaftlicher Solidarität zu lösen verspricht . Peter Mandelson und Roger Liddle sehen die gesamte "Blair revolution" auf dem "Konzept der Gemeinschaft" aufruhen . Des Weiteren hat das Parteistatut der Labour Party 1995 das frühere Verstaatlichungspostulat durch die kommunitaristische Klausel von der "Partnerschaft" der Bürger und des Staates ersetzt und sie zur Grundlage der politischen Praxis von New Labour erklärt . "Partnerschaft" bedeutet hier das Überwinden der Klassengesellschaft und der politisch immobilen Formen des "Entweder-oder" zwischen konservativem Neoliberalismus auf der einen Seite und sozialistischer Verstaatlichungspolitik der alten Labour-Partei auf der anderen Seite. Und schließlich haben sich in der Formel vom "stakeholder capitalism" - in bewusster Entgegensetzung zum "shareholder capitalism", der mit dem Neoliberalismus identifiziert wird - Kommunitarismus und neues ökonomisches Denken zu einer politischen Vision rhetorisch vereint: "Notions of partnership and community should influence all aspects of our lives. Enterprise is applauded, but it has responsibilities. Social rights - for instance greater equality of opportunity - are properly emphasized, but at every point rights go along with mutual obligations." Wer wollte dem schon widersprechen?

Der Kommunitarismus fungiert hier als Brückenkonzept. Er bedeutet die Selbstkorrektur der etatistischen und korporatistischen Sozialdemokratie alten Zuschnitts durch einen kommunitaristisch aufgeladenen Liberalismus. Zum einen grenzt sich die neue Sozialdemokratie damit von etatistischen und korporatistischen Konzepten ab und gewinnt ihre Argumente aus der Analyse des gegenwärtigen makroökonomischen Prozesses. Für Giddens beispielsweise zeigt der Prozess der Globalisierung in unabweisbarer Logik die Grenzen nationaler Geld- und Fiskalpolitik wie auch das Ende einer makroökonomischen Interventions- und Steuerungsmöglichkeit durch den Staat auf. Nationale Finanzpolitik ist genauso wenig möglich wie eine keynesianische Nachfragepolitik. Deshalb ist auch ein anderes Rollenverständnis vom Staat und ein anderes Konzept für die Gestaltung des Wohlfahrtsstaates zwingend notwendig. Zum anderen äußert die "neue Sozialdemokratie", wie Giddens sie entworfen hat, heftige Kritik an einem radikal utilitaristisch verstandenen Individualismus und hier vor allen Dingen an einer auf die kompetitive Sphäre reduzierten Ethik marktrationalen Verhaltens. Die neue Sozialdemokratie besteht indes auf ökonomischen und sozialen Tugenden, die wiederum als die entscheidenden Voraussetzungen für die Bürgergesellschaft in Anschlag gebracht werden. Der Diskurs um das Human- und Sozialkapital ist zwar auch ein ökonomischer, der die funktionalen Voraussetzungen marktrationalen Verhaltens reflektiert, er ist darüber hinaus aber vor allem ein Diskurs um die sozialen und moralischen Voraussetzungen einer zugleich aktiven und guten Gesellschaft.

Damit grenzt sich die neue Sozialdemokratie nicht nur von dem alten Etatismus ab, sondern auch von dem neuen radikalen Marktfundamentalismus und den mit ihm einhergehenden Ordnungsvorstellungen eines libertären Minimalstaates, wie sie beispielsweise in der Sozialphilosophie von Robert Nozick vertreten wurden , aber teilweise auch von Margaret Thatcher und Ronald Reagan adaptiert und implementiert worden sind. Dies wird vor allem in der angemahnten neuen Konzeption des Sozial- und Wohlfahrtsstaates deutlich. Auch hier plädiert Giddens für die Aufgabe der Illusion, dass höhere Sozialausgaben für die Verringerung sozioökonomischer Ungleichheit oder eine Behebung der Arbeitslosigkeit sorgen könnten. Zudem wird massive Kritik am passiven Charakter sozialstaatlicher Anspruchsrechte des traditionalen Wohlfahrtsstaates geübt. Ganz in der Argumentationslinie der amerikanischen Kommunitaristen liegend werden Privatismus, Abhängigkeit, Disziplinverlust und mangelnde Motivation des Einzelnen als begleitende Effekte des traditionalen Wohlfahrtsstaates gegeißelt. Daneben sei die traditionell über den Staat vermittelte Sozialpolitik zu unflexibel, um den neuen Herausforderungen globalisierter Märkte gerecht zu werden.

Bei aller Kritik am Wohlfahrtsstaat altsozialdemokratischer Provenienz werden gleichzeitig aber traditionelle Wertvorstellungen der Sozialdemokratie übernommen. Auch die neue Sozialdemokratie soll sich nicht vom Wert der sozialen Gerechtigkeit entpflichtet fühlen. Der politikstrategische Ansatz aber ist nun ein anderer: Von einer ex-post-Korrektur soll der Weg zu einer A-priori-Verhinderung von Defiziten im sozialen Sektor führen . Ganz so, wie es die amerikanischen Kommunitaristen gefordert, aber auch die breite Koalition von Republikanern und Demokraten in der Clinton-Administration zugleich implementiert haben, lautet die Devise der neuen Sozialdemokratie unter Blair und Giddens: "From welfare to work." Ziel ist die Steigerung der Beschäftigungsfähigkeit, der "employability" jedes Einzelnen. Investitionen, vor allen Dingen in die Bildungsinfrastruktur, weniger die alte Praxis staatlich finanzierter Beschäftigungsprogramme, sind die Mittel des modernen, auf die Bedürfnisse des Marktes reagierenden und die begrenzten Finanzressourcen in Rechnung stellenden Staates in der Ära der Globalisierung. Die Devise lautet nun: "Education, education, education." Damit ist der Weg vom Sozial- zum Investitionsstaat beschritten.

Das Staatsverständnis hat sich radikal gewandelt. Der moderne Staat ist nicht mehr der reagierende Sozial- und Wohlfahrtsstaat, sondern der den Einzelnen und die Bürgergesellschaft "aktivierende" Staat. Der Staat stärkt Selbstinitiative und Selbstverantwortung des Einzelnen und zieht sich selbst auf eine Rahmenkompetenz zurück. Er garantiert die Rechte des Einzelnen, die vor allem als gleiche Zugangsbedingungen zu Markt und Bildung zu verstehen sind. Der aktivierende Staat gibt auch Hilfe zur Selbsthilfe, garantiert - auch dies eine Anleihe aus dem amerikanischen Kontext - die "equality of opportunities" nicht aber die "equality of results". Staatliche Politiken sind auf das Ziel der Inklusion des Bürgers in Markt und Gesellschaft ausgerichtet. Raymond Plant nennt dies eine Konzeption von "supply side citizenship" . Der Staat schafft die Rahmenbedingungen und faire Chancen, welche die Bürger in individueller Verantwortung wahrnehmen. Wenn man so will, könnte dies als die politische Praxis des sozialliberalen Modells der Gerechtigkeit, wie sie John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit formuliert hat, beschrieben werden . Der Staat schafft und garantiert eine Grundstruktur gleicher Rechte und Freiheiten und sorgt dafür - mittels des so genannten "Differenzprinzips" - dass auch die gesellschaftlich und ökonomisch am wenigsten Begünstigten die Aussicht auf die Verbesserung ihrer jeweiligen sozialen Position haben. Damit geht nicht die Garantie der Statusverbesserung einher, allein die Aussicht, die Chance, die "opportunity", wird gewährleistet. Damit hätte sich die neue Sozialdemokratie mit dem - sozialen - Liberalismus versöhnt: Markt, individuelle Verantwortung und Selbsthilfe werden zu Ecksteinen der neuen programmatischen Ausrichtung.

Die kommunitaristische Komponente, die das neue sozialdemokratische Politikangebot gleichermaßen von einem ökonomischen Schrumpfliberalismus wie vom alten sozialdemokratischen Etatismus abgrenzt, besteht in der Vorstellung, dass die "community" der Bürger den Einzelnen vor den negativen Auswirkungen von Individualisierung, Globalisierung und Kommerzialisierung, also den Kosten der Wettbewerbsgesellschaft, zu schützen in der Lage ist, wobei das Grundprinzip des Wettbewerbs gleichwohl akzeptiert wird. Damit scheint in der Tat eine kopernikanische Wende eines vordem sich etatistisch und kollektivistisch gebenden sozialdemokratischen Politikparadigmas formuliert zu sein. Auf der Suche nach der "neuen Mitte", nach dem Ende der Systemkonkurrenz von Kapitalismus und Sozialismus, macht die "neue Sozialdemokratie" endgültig ihren Frieden mit dem Markt und den Grundlagen der Wettbewerbsgesellschaft. Der Kommunitarismus lässt diese programmatische Wendung, die in England radikaler anmutet als in Deutschland, weicher zeichnen. Er ist Balsam für die alte Sozialdemokratie, die sich ihrer angestammten Arbeitertradition verlustig gehen sieht. Neu ist indes weder der kommunitaristische Ideentransfer noch die Proklamation des Dritten Weges. Der mit dem Kommunitarismus beschrittene Dritte Weg der neuen Sozialdemokratie scheint zunächst jedoch einmal eine erfolgreiche öffentliche Diskursstrategie gewesen zu sein. Der politische Terraingewinn ist evident. Es ist aber auch darauf hinzuweisen, dass die englische Liberal Party zwar zunächst einen überraschenden politischen Erfolg verbuchen konnte, als sie sich am Beginn des 20. Jahrhunderts ,kommunitaristisch' zu reformieren suchte, dann aber ganz schnell dem "strange death of liberalism" zum Opfer fiel.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. die Darstellungen von Reinhard Blum, Soziale Marktwirtschaft und Wirtschaftspolitik zwischen Neoliberalismus und Ordoliberalismus, Tübingen 1969, und Egon Edgar Nawroth, Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, Heidelberg 1962.

  2. Vgl. Karl Holl/Günter Trautmann/Hans Vorländer (Hrsg.), Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986; Hans Vorländer, Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft, in: liberal, 35 (1993) 4.

  3. Vgl. Leonard T. Hobhouse, Liberalism (1911), New York-Oxford 1964; John A. Hobson, The Crisis of Liberalism. New Issues of Democracy (1909), London 1974; D. G. Ritchie, The Principles of State Interference, London 1891; Michael Freeden, The New Liberalism. An Ideology of Social Reform, Oxford 1978; ders., Liberalism Divided. A Study in British Political Thought 1914-1939, Oxford 1986. Über die Berührungspunkte zu einer sich vom Marxismus langsam ablösenden Reformsozialdemokratie jener Zeit orientiert James T. Kloppenberg, Uncertain Victory. Social Democracy and Progressivism in European and American Thougth, 1870-1920, New York-Oxford 1986. Zum Verhältnis von "sozialen Liberalen" und "liberalen Sozialisten" auch Hans Vorländer, Transatlantische Reformgemeinschaft an der Wiege des 20. Jahrhunderts, in: liberal, 30 (1988) 4.

  4. Vgl. Hans Vorländer, Neoliberalismus und liberale Tradition in den USA, in: ders. (Hrsg.), Verfall oder Renaissance des Liberalismus?, München 1987, S. 191-211.

  5. Die Literatur zum Kommunitarismus ist mittlerweile unüberschaubar geworden. Wichtige Texte in deutscher Übersetzung finden sich in Axel Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus - Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt am Main 1993; eine einführende Monographie mit Kurzbiographien der wichtigsten Kommunitaristen bietet Walter Reese-Schäfer, Was ist Kommunitarismus?, Frankfurt am Main 1994; wichtige Beiträge enthält auch das Heft "Kommunitarismus und praktische Politik" des Forschungsjournals Neue Soziale Bewegungen, 8 (1995) 3.

  6. Vgl. Robert N. Bellah u. a., Habits of the Heart. Individualism and Commitment in American Life, Berkeley u. a. 1985 (deutsch: Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Gesellschaft, Köln 1987); dies., The Good Society, New York 1991.

  7. Vgl. etwa Michael Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge 1982.

  8. Vgl. hierzu Hans Vorländer, Gemeinschaft und Demokratie in der Kommunitarismusdebatte. Die Ressourcen der Moral, in: Ansgar Klein (Hrsg.), Wertediskussion im vereinten Deutschland, Köln 1995, S. 21-25.

  9. Vgl. Amitai Etzioni, The Spirit of Community. Rights, Responsibilities and the Communitarian Agenda, New York 1993; Benjamin Barber, Strong Democracy. Participatory Politics for a New Age, Berkeley 1984; William Galston, Liberal Purposes. Goods, Virtues and Diversity in the Liberal State, Cambridge 1991.

  10. Die Stimme der Gemeinschaft hörbar machen. Ein Manifest amerikanischer Kommunitarier über Rechte und Verantwortung in der Gesellschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. März 1994, Nr. 56, S. 37 (dort alle Zitate).

  11. Vgl. Anthony Giddens, Beyond Left and Right. The Future of Radical Politics, Cambridge 1994; dt.: Jenseits von Links und Rechts, Frankfurt am Main 1997; ders., The Third Way. The Renewal of Social Democracy, Cambridge 1998; dt.: Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt/M. 1999; ders., Run Away World. How Globalisation is Reshaping our Lives, London 1999.

  12. Vgl. Peter Mandelson/Rodger Liddle, The Blair Revolution. Can New Labour Deliver?, London 1996.

  13. Vgl. hierzu und zum folgenden auch Roland Sturm, Der "dritte Weg". Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch "Extremismus und Demokratie", 12. Jg., Baden-Baden 2000, S. 53-72 (S. 60 ff.).

  14. P. Mandelson/R. Liddle (Anm. 12), S. 29; hier zit. n. R. Sturm (Anm. 13). Vgl. auch A. Giddens, Der dritte Weg (Anm. 11), S. 94 ff.

  15. Robert Nozick, Anarchy, State and Utopia, New York 1974; dt.: Anarchie, Staat, Utopia, München 1976.

  16. Vgl. hierzu und zum folgenden die Darstellung von Wolfgang Merkel, Die Dritten Wege der Sozialdemokratie ins 21. Jahrhundert, in: Berliner Journal für Soziologie, 10 (2000) 1, S. 99-124, hier: S. 100 ff.

  17. Vgl. A. Giddens, Der dritte Weg (Anm. 11), S. 117 ff, 128.

  18. Raymont Plant, The Third Way. Working Paper der Friedrich-Ebert-Stiftung London, Nr. 5, 1998. S. 9. Plant ist Professor für Politikwissenschaft an der University of Southampton und sitzt für Labour im Oberhaus.

  19. Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1975.

  20. George Dangerfield, The Strange Death of Liberal England 1910-1914, London 1935.

Dr. phil., geb. 1954; o. Professor für Politikwissenschaft, insbes. Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Dresden.

Anschrift: Technische Universität Dresden, Institut für Politikwissenschaft, 01062 Dresden.
E-mail: Hans.Vorlaender@mailbox.tu-dresden.de

Veröffentlichungen u. a.: Hegemonialer Liberalismus. Politisches Denken und politische Kultur in den USA 1776-1920, Frankfurt/M. - New York 1997; Die Verfassung. Idee und Geschichte, München 1999.