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Die deutschen Parteien: Entkernt, ermattet, ziellos | Parteien | bpb.de

Parteien Editorial Die deutschen Parteien: Entkernt, ermattet, ziellos Keine Lust mehr auf Parteien. Zur Abwendung Jugendlicher von den Parteien Sind die Grünen regierungsfähig? Politische Kultur und Parteien in Deutschland Sind die Parteien reformierbar? Parteien und Internet - Auf dem Weg zu internet-basierten Mitgliederparteien?

Die deutschen Parteien: Entkernt, ermattet, ziellos

Franz Walter

/ 12 Minuten zu lesen

Der Essay handelt vom Zustand der bundesdeutschen Parteien. Trotz aller Krisenrhetorik ist das Parteiensystem nicht aus den Fugen geraten, hat sich der Einfluss der Parteien im öffentlichen Leben nicht verringert.

Einleitung

Natürlich ist es ziemlich abgeschmackt, mit dem Begriff der "Krise" zu operieren, sobald man über Parteien schreibt. Jedenfalls ist es nicht sonderlich originell, da allein in den letzten 15 Jahren in der deutschen Politologie mindestens 1 384 Aufsätze erschienen sein dürften, die die Krise der Volksparteien ausgerufen haben. Noch weit größere Krisenrhetoriker sind natürlich die Journalisten dieser Republik. Irgendeine Partei haben sie immer im Visier dramatischer Niedergangsszenarien. 1999 traf es die durch den Vorsitzwechsel und die Blair-Schröder-Papiere gebeutelte SPD sowie die von Wolfgang Gerhard erfolgreich eingeschläferte FDP. Ein Jahr darauf war die durch Kohl belastete Union an der Reihe, dann auch die von Gregor Gysi allein gelassene PDS. Und die armen Grünen galten in dieser Zeit durchweg als zukunftslose Generationenpartei vorgestriger Ökokohorten. Immer jedenfalls war die Krise dieser oder jener Partei ganz schlimm, beinahe aussichtslos, verheerend. Doch so lief das Spiel des dröhnenden Krisenjournalismus auch schon in all den Jahren bundesdeutscher Parteienstaatlichkeit zuvor. Und so wird es in den nächsten Jahren fröhlich weitergehen.

Ganz so ernst also muss man den routinierten Alarmismus der professionellen Politikdeuter nicht nehmen. Noch hat keine der unzähligen Parteikrisen zum Exitus geführt. Sobald sich die Aufregung nach den großen Krisenstürmen in schöner Regelmäßigkeit wieder legt, pendeln sich die zuvor jäh verrutschten Sympathiewerte für die Parteien ebenso regelmäßig wieder auf ein unspektakuläres Maß ein. Zum Zeitpunkt jedenfalls, als dieser Essay entstand, lagen alle Parteien demoskopisch ungefähr da, wo sie sich am Abend der Bundestagswahl 1998 auch befanden - trotz aller Turbulenzen über Regierungspannen und Schwarze Kassen. Nichts davon hat die Struktur des deutschen Parteiensystems durcheinander gewirbelt.

Insofern könnten die Manager der Parteien im Grunde unbesorgt sein. Sie haben schließlich alles häufig genug miterlebt. Sie kennen das zyklische Auf und Ab des medial inszenierten Theaterdonners. Sie haben auch eine Menge Parteienverdrossenheitsdebatten hinter sich. Das alles kam und ging wieder. Am Ende aber hatten die Parteien nie an Einfluss verloren, sie schickten ihre Leute auch danach wieder in Parlamente und Regierungen, in Verwaltungen und Rundfunkräte. Und sie versorgten sich weiterhin mit üppigen staatlichen Zuwendungen, die auch all die Löcher stopften, die durch den drastischen Rückgang der Mitgliederzahlen und -beiträge gerissen worden waren.

Kein Grund zur Panik also. Eigentlich. Aber gerade die erfahrenen Parteimanager sind seit einiger Zeit doch ziemlich nervös. Sie wissen, dass ihre Parteien in den letzten Jahren kräftig an autonomem Selbstbewusstsein, an autarker Identität, an traditionsgestützten Loyalitäten, also an krisenresistentem Eigensinn verloren haben. Eben deshalb reagieren die Parteien auf die lauten Trompetenstöße der Medien jedesmal so nervös und kopflos. Die Parteien sind durch externe Attacken leichter zu erschüttern als in früheren Jahren. Sie sind sich ihrer selbst nicht mehr gewiss. Es mangelt ihnen nicht an Geld, nicht an Einfluss, nicht an Macht, aber es fehlt ihnen am sicheren Selbstbewusstsein, das ihre Vorzugsstellung begründen und legitimieren könnte. Die Parteien sind im öffentlichen Leben omnipräsent, wirken dabei aber doch mut-, kraft- und ziellos. Das ist nicht ganz neu, aber es ist doch anders als, sagen wir, 1951, 1961, 1971, 1981, selbst noch 1991. Da wussten die Parteien noch, warum und wofür sie kämpften. Darin sind sie sich im Jahr 2001 keineswegs mehr sicher. Allein der Begriff "Kampf", den Parteien früher bevorzugt gebrauchten, wirkt mittlerweile fremd. Parteien kämpfen nicht mehr. Ihnen sind die Kriegsziele ausgegangen, die Fußtruppen und irgendwie auch die Feinde.

Das alles muss man natürlich keineswegs bedauern. Man kann mit guten Gründen den späten Abschied vom martialischen Vokabular und den Carl Schmitt'schen Denkfiguren als zivilisatorischen Fortschritt begrüßen. Und doch können auch moderne, gleichsam pazifizierte Parteien einige ihrer klassischen Voraussetzungen nicht entbehren. Sie brauchen eine Basis, die motiviert und aktionsfähig ist. Sie brauchen ein paar politische Ziele, die einsichtig und erstrebenswert wirken. Sie brauchen Eliten und Elitenanwärter, die durch Härte, Reife und erprobten Sachverstand das Zeug für die politische Führung einer großen Partei oder einer ganzen Republik haben bzw. erlernen. Fehlt da etwas, dann haben Parteien ein Problem oder werden es jedenfalls bekommen.

So könnte es denn sein, dass unsere Parteien wirklich in einer Krise stecken, mag das auch eine durch inflationäre Verwendung trivialisierte Charakterisierung sein. Versuchen wir einen Schnelldurchlauf. Beginnen wir mit den Sozialdemokraten. Dort müsste die Welt eigentlich in Ordnung sein. Sie stellen den Kanzler, verbuchten für eine Regierungspartei zur Mitte der Legislaturperiode bemerkenswert gute Umfragedaten. Und doch erscheint die SPD nicht als kraftstrotzende, zuversichtliche, selbstbewusste Partei. Immer noch dominieren dort diejenigen, die Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre in die Partei quasi ,rudelweise' einfielen, damals mit großem Enthusiasmus und glühendem theoretischen Eifer um programmatische Zukunftsmodelle des demokratischen Sozialismus rangelten. Die Menschen sind noch die gleichen, aber die Passion und die Begeisterung sind längst passé. Das Gros der sozialdemokratischen Mitglieder ist grau und müde geworden, politisch eher melancholisch als zukunftsgewiss. Ihre Anführer sind größtenteils bereits von der politischen Bühne abgetreten. Schröder ist gewissermaßen der letzte oder vorletzte Mohikaner dieser Altersgruppe. Nach ihm kommt lange nichts mehr. In der SPD fehlen durch die jahrzehntelange Vorherrschaft der 68er zwei Generationen. Die ganz Jungen, die sich als "Generation Berlin" etikettieren, waren in den ersten Jahren ihrer politischen Biographie lediglich die stillen, unauffälligen Hilfskräfte und Kofferträger der Schröder-Engholm-Lafontaine-Generation. Ihnen fehlt der Leitwolf, die eigene Botschaft, eine spezifische politische Semantik. Sie werden früh in den Ring steigen müssen. Zu früh und zu unvorbereitet. Kurzum: Mittelfristig sieht es nicht gut aus für die Sozialdemokraten.

Auch die Kerngruppe der Grünen besteht heute zu einem großen Teil aus erschöpften Menschen. In den späten siebziger und während der ganzen achtziger Jahre befanden sie sich in einer Art Daueragitation, haben Demonstrationen und Boykotte organisiert, haben im Inneren ihrer Partei wilde Schlachten gegeneinander geführt. Das hat viele Talente verschlissen, hat im Übrigen viel Kraft und Energie gekostet. Spätestens in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre waren die Grünen eine ausgebrannte Partei. Ihr bewegter Anhang von ehedem, nun mitten im Beruf stehend und im Elternalter, hat seither eine kollektive politische Auszeit genommen. Für Aktivitäten steht er nicht mehr zur Verfügung. Als auf dem Höhepunkt der CDU-Krise plötzlich partizipatorische und basisdemokratische Postulate die Runde machten, gab es dafür in allen Parteien - und sei es auch nur aus taktischen Gründen - eifrige Fürsprecher. Allein die Grünen schwiegen. Sie hatten das alles schon hinter sich, kannten die Mühen und Tücken der Basisdemokratie, besaßen einfach nicht mehr die Kraft für eine Parteikultur der elitenkritischen Transparenz und Basisteilhabe. Auch die Grünen sind mittlerweile eine melancholische Partei. Sie glauben nicht mehr an die Träume und Utopien der achtziger Jahre. Aber woran sie statt dessen glauben sollen, das wissen sie auch nicht.

Bei den Freien Demokraten weiß das immerhin der Generalsekretär. Westerwelle ist gewissermaßen der letzte Ideologe im weltanschaulich sonst abgerüsteten deutschen Parteiensystem. Er weiß noch, wer der Feind ist, kennt noch das gesellschaftliche Übel, hat noch eine unbeirrte Mission. Kurzum: Er kämpft gegen grüne Aussteiger, prangert wohlfahrtsstaatliche Bevormundungen an und marschiert an der Spitze der Generation @ in die entstaatlichte Freiheitsgesellschaft. So jedenfalls deutet Westerwelle sich und seinen Parteifreunden die politische Welt. Immerhin, aus der ärgsten Krise sind die Freien Demokraten herausgekommen. Doch waren sie dabei vor allem Nutznießer der Depression der CDU. Im Vergleich zu anderen liberalen Parteien in Europa, die durch die Entkollektivierungs- und Säkularisierungsprozesse ihrer Gesellschaften zu Mehrheitsparteien im bürgerlichen Lager avancierten, ist der Geländegewinn der FDP bemerkenswert gering. Dem deutschen Neoliberalismus fehlen die aktiven Truppen. Gerade der klirrende Neoliberalismus des FDP-Generalsekretärs hatte in den letzten Jahren einzig den Typus des allein ökonomisch denkenden Individuums im Visier: Es ging um die Erfolgreichen, die Dynamischen, die Mobilen der bundesdeutschen Gesellschaft. Die aber haben für die nun einmal träge, langsame, stockende Politik weder Zeit noch Interesse. Als Wähler mag man sie gewinnen, als Akteure fallen sie aus. Und so hat auch keine der Kampagnen, die der FDP-General in den letzten Jahren medial lancierte, gesellschaftlich gezündet. Es gab keinen freidemokratisch angeführten Aufruhr des deutschen Bürgertums zur radikalen Senkung der Steuern; es gab keine freidemokratisch durchdrungene Volksbewegung für eine liberale Bildungsreform; es gab keine freidemokratisch organisierten Demonstrationen vor Schulen und Hochschulen für die Abschaffung der Wehrpflicht. Immer war davon die Rede. Nie hat man irgend etwas davon zuwege gebracht. Noch also ist die Substanz der FDP dünn. Noch lebt sie von der Schwäche der Union.

Diese Schwäche kann allerdings noch andauern. Die Christdemokraten erleben aktuell das, was der SPD alles noch blühen kann. In ihrer Führungsspitze sind jäh zwei Generationen weggebrochen. Und die neue Führungsgruppe übt, lernt, probiert aus - was Führungspersonen allerdings alles bereits hinter sich haben sollten. Neu vor allem in der Geschichte der CDU ist, dass die gegenwärtige Parteielite der CDU einer Alterskohorte angehört, die im Wählerbereich mehrheitlich und seit zwei Jahrzehnten konstant rot-grün disponiert ist. Die neuen CDU-Anführer waren in den entscheidenden Jahren ihrer politischen Sozialisation immer Minderheit, auf den Gymnasien und an den Universitäten. Adenauer und Kohl indessen agierten immer aus dem sicheren Gefühl, Mitte und Mehrheit ihrer Generation und der Gesellschaft insgesamt zu repräsentieren. Dieser feste Ort, von der Mitte aus die verschiedenen bürgerlichen und konfessionellen Lager zu integrieren, ist der Union verloren gegangen. Der CDU gelingt es nicht mehr wie in früheren Jahrzehnten, die verschiedenen Lebenswelten des bürgerlich-konservativen-christlichen Deutschland zusammenzubinden, die auseinander laufenden Generationsprägungen zu harmonisieren, die disparaten Soziologien ihrer Wählerschaften politisch zu bündeln. Auf der einen Seite gibt es im bürgerlichen Lager die Traditionskompanien aus begeisterten Vereinsmeiern, regelmäßigen Kirchgängern, treuen Ehepartnern, braven Sparern, sesshaften Ortspatrioten, auf der anderen Seite sind die hochmobilen, säkularisierten und hedonistischen Single-Individualisten, denen weder Heimat noch Gott oder Nation etwas bedeuten. Der Union fehlt die ideelle Klammer und der strategische Kitt, über den sie einst mit der christlichen Orientierung und dem Antisozialismus verfügte, um die auseinanderdriftenden Mentalitäten und Lebensweisen zusammenzuhalten.

Das kann auf die PDS noch zukommen. Sie lebte in den neunziger Jahren gut davon, dass sie ein Feindbild hatte und für andere ein Feindbild war. So etwas schweißt Parteien zusammen, überbrückt innere Gegensätze. Doch das Feindbild verliert an Farbe. Infolgedessen benötigt die PDS eine sich selbst tragende Identität. Sie kann sich mittelfristig nicht mehr allein auf ostdeutsche Trotzigkeiten verlassen. Sie muss neue Gruppen, Biographien, Kulturen gewinnen, muss im Westen Fuß fassen, darf bei alledem aber nicht ihre Traditionskompanien verprellen. Auch die PDS braucht dafür ein integratives Bindemittel. Und auch sie hat einen solchen Kleister offensichtlich noch nicht gefunden.

Wahrscheinlich liegt darin das Grundproblem der Parteien schlechthin. Sie sind, nochmals, finanziell gut ausgestattet. Ihr Einflussspektrum ist weit gefächert. Konkurrenz durch neue Anbieter haben sie ernsthaft nicht zu fürchten. Und doch sind sie labil, leichtgewichtig, schnell aus der Fassung zu bringen, sind mehr Getriebene als politische Antreiber. Der Kern des Politischen ist den Parteien abhanden gekommen. Das hat sie kraftlos gemacht. Präziser: Die Parteien haben, erstens, ihre Idee, ihren spezifischen Ethos verloren. Sie haben aber, zweitens, auch keine Programmatiker mehr, die neu über die Sinnfrage und Zielperspektive des politischen Einsatzes nachdenken. Und sie führen, drittens, keine scharfen Kontroversen in profilierten Flügeln mehr, in denen nachwachsende Eliten politische Härte und argumentative Schärfe gründlich lernen könnten. Und schließlich gibt es, viertens, in nahezu allen Parteien nicht mehr den politischen Anführer, für den sich jugendliche Prätorianergarden begeistert schlagen, der den ideellen Urstoff seiner Partei kennt, aus ihm die zwei oder drei neuen entscheidenden Botschaften formt, die die Partei nach vorne bringen und die über bloße Integration hinaus auch Identifikationen schaffen und anhaltende Bindungen herstellen. Den Parteien ist all das verloren gegangen; sie sind dadurch entkernt, ermattet, entmutigt.

Dies alles hängt eng zusammen. In den altbundesdeutschen Jahren hatten die Parteien noch lange den Antriebsstoff, der die Aktivisten Samstag für Samstag an die Tapeziertische in den Einkaufspassagen trieb. Die Christdemokraten glaubten an Heimat, Familie, Eigentum, Nation und Antisozialismus. Die Sozialdemokraten versprachen sich das Heil von mehr Mitbestimmung, mehr Rahmenplanung, einem ausgebauten Wohlfahrtssystem und außenpolitischer Entspannung. Für die alten Freien Demokraten bis Mende war die nationale Einheit das wichtigste; danach reichten üppige Marktgewinne der bürgerlichen Klientel. Das Utopia der Grünen schließlich war die gewaltfreie, basisdemokratisch organisierte ökologische Kreislaufgesellschaft. Doch das meiste von alledem, das in der Bonner Republik zum politischen Engagement motivierte, ist mittlerweile trivialisiert, erreicht, verblasst oder gar diskreditiert.

Ersatz ist nicht recht gefunden. Es hat sich aber auch kaum jemand auf die Suche gemacht. Zwar haben alle Parteien inzwischen ihre Programmkommissionen, aber dort geht es uninteressiert, müde, gar zynisch zu. Programme, da sind sich die modernen Telepolitiker sicher, spielen keine Rolle mehr. Doch ohne spezifische Sinnbotschaften, die Individuen überhaupt erst zu Gruppen assoziieren und Organisationskonstanten herstellen, lassen sich Parteien nicht konstituieren. Allein die großen, erneuten Sinnbotschaften haben es den Parteien ermöglicht, den unmittelbaren Anlass ihrer Entstehung zu überdauern, Zäsuren und Krisen zu überstehen, Einbrüche auszuhalten. Nur solche Sinnbotschaften vermögen Mitglieder und Anhänger zu binden, sie in die politische Aktion zu schicken.

Heute fehlen jedoch die jeweils homogenen Soziallagen, in denen konsistente Überzeugungen wachsen können. Je komplexer die Gesellschaft, desto heterogener auch der programmatische Fundus der Parteien. In der alten Zeit der geschlossenen Lager kamen Parteien noch mit drei Seiten Papier aus, um ihren Zielanspruch zu formulieren. Inzwischen aber gehen Parteien über Jahre in Klausur, damit jede Untergruppe ihre eigenen Absätze und Spiegelstriche in das Schlussmanifest hineinresolutionieren kann. Das Ganze zieht sich furchtbar lang und zäh hin, die Programmschriften werden immer dicker und langweiliger. Am Ende dieser weit gedehnten Programmdiskussionen geben Parteien schließlich Antworten auf Fragen von vorgestern. Und die Antworten wirken kraftlos, leerformelhaft und ohne Schwung.

Politiker indes versprechen sich nur dann Erfolg, wenn sie dynamisch, vital und energisch auftreten. Im Übrigen fügen sich programmatische Diskurse nicht in die Erwartungshaltung der Mediengesellschaft, die auf Personalisierung, Bilder und Spannungswerte setzt. Programmatische Diskurse hingegen bieten Buchstaben, Abstraktionen, wenn sie gut sind: Intellektualität. Sinnbotschaften sind auf Dauer angelegt; die Telegesellschaft aber prämiert die Abwechslung, den schnellen und nonchalanten Rollenwechsel. Und weil das alles so ist, haben Programme bei den Parteieliten keinen großen Stellenwert mehr. Theoriekonzepte helfen nicht dabei, Kanzler zu werden. Daher ist denn auch seit einem Vierteljahrhundert niemand mehr unter den ehrgeizigen politischen Talenten nachgewachsen, der Programmatiker wie Erhard Eppler, Richard Löwenthal, Kurt Biedenkopf, Richard von Weizsäcker oder Werner Maihofer einigermaßen ersetzen könnte. Auch das hat die Parteien buchstäblich um ihren "Sinn" gebracht.

Wo der Sinn des Politischen keine Rolle mehr spielt, da braucht darüber auch nicht gestritten zu werden. Und so haben die Parteien den Streit jenseits der üblichen Personalrivalitäten eingestellt. Die innerparteilichen Flügel von ehedem haben ganz an Bedeutung verloren, sind nur noch Quoteninstrument für Personalentscheidungen, sind Traditions- und Geselligkeitsrunden. Foren für die politische Klärung und die harte Kontroverse sind sie nicht mehr. Denn auch das steht für die Telepolitiker fest: Auseinandersetzungen schätzt das Publikum nicht; gewählt wird allein die Partei, die geschlossen auftritt. Das mag so sein. Aber es entzieht den Parteien ihren politischen Kern, höhlt ihre Substanz aus. Und es schwächt die Elitenreproduktion. Denn geeigneter Führungsnachwuchs entsteht nicht in einer von Konflikten stillgelegten Struktur, nicht in einer homogenisierten und von oben disziplinierten Partei. Entschlossene, instinktsichere, durchsetzungsfähige und inhaltlich profilierte Politiker sozialisieren sich in der leidenschaftlichen Feldschlacht, im offenen Schlagabtausch, im wilden Disput, nicht in einminütigen gefälligen Statements vor der Kamera.

Wo es keine kräftigen Flügel gibt, da wirkt auch moderierende Führung lediglich unentschieden und unentschlossen. In scharf polarisierten Parteien ist Integrationsleistung einer Parteiführung eine hohe politische Kunst. Man braucht dazu friedensstiftende Fähigkeiten, das Vertrauen der verschiedenen innerparteilichen Lager, die Fähigkeit zur Balance und Bündelung sowie den Sinn für den einen strategischen Punkt, auf den man die Partei als Ganzes orientieren und in die Kampagne bringen kann. Adenauer und Kohl, Brandt und Lafontaine waren in ihren besten Jahren solche Parteiführer. Angela Merkel ist es nicht. Wolfgang Gerhard ist es nicht. Gabi Zimmer ist es auch nicht. Gerhard Schröder ist es ebenfalls nicht. Er ist Kanzler, will gar kein Parteiführer sein. Auch wegen dieses Defizits an politischer Führung wirken die Parteien so kraftlos, auch deshalb tun sie sich so schwer, Anstöße vorzugeben, Richtungen zu beschreiben, politische Autorität zu gewinnen. Auch darum geraten sie bei jedem medialen Wind sofort aus den Fugen.

Vieles davon hat mit dem Kotau der Parteien vor der Mediengesellschaft zu tun. Die Politik hat sich damit um die Politik gebracht. Doch die Entpolitisierung der Politik hat zur Verachtung und Vereinsamung der Parteien erst recht beigetragen. An die Stelle der Programme haben die Parteien Gags gesetzt, statt stabiler Identitäten haben sie kurzlebige Images gewählt, statt Orientierung versuchen sie es mit Marketing, statt selbstbewusst zu führen, lassen sie sich von Spindoktoren inszenieren. Politiker glauben fest daran, dass die Gesetze der Mediengesellschaft dies alles verlangen. Dabei hat die Mediengesellschaft nur vor solchen Politikern Respekt, die am Kern des Politischen selbstbewusst und kantig festhalten, die um die Gunst der Journalisten nicht buhlen, die eben nicht um alles in der Welt gefallen wollen. Politiker dürfen nicht gefallen wollen. Und wahrscheinlich erwartet selbst das Telepublikum, auch wenn es passiv bleibt, von Politik nicht Spaß und Event, sondern Verantwortung, Sinn und Ernsthaftigkeit. Vielleicht sollten es Parteien daher tatsächlich einfach mal mit, ja, mit Politik versuchen.

Dr. disc.pol., geb. 1956; apl. Professor für Politikwissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen

Anschrift: Seminar für Politikwissenschaft, Platz der Göttinger Sieben 3, 37073 Göttingen.
E-mail: fwalter1@gwdg.de

Veröffentlichung u. a.: (zus. mit Tobias Dürr) Die Heimatlosigkeit der Macht. Wie die Politik in Deutschland ihren Boden verlor, Berlin 2000.