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Sind die Grünen regierungsfähig? Die Selbstblockade einer Regierungspartei

Joachim Raschke

/ 27 Minuten zu lesen

Die Grünen haben die verbreiteten Zweifel an ihrer Regierungsfähigkeit auf Bundesebene noch nicht ausgeräumt. Als objektivierende Analysekategorie meint Regierungsfähigkeit die Verlängerung von Strategiefähigkeit einer Partei in die Regierung hinein.

Einleitung

Als sich im September 1998 die Grünen auf den Weg in die Bundesregierung machten, sprachen ihnen zwei Drittel der Bevölkerung die Regierungsfähigkeit ab. Auch nach zwei Jahren des Mitregierens ist die Skepsis gegenüber den Grünen nicht geringer geworden . "Regierungsfähigkeit" ist ein Kampfbegriff zwischen Parteien, die sich gegenseitig Regierungsfähigkeit gerne absprechen. Als objektivierende Analysekategorie meint Regierungsfähigkeit: strategische Handlungsfähigkeit als Regierungspartei.

Auf zwei Wegen lässt sich der Grad an Regierungsfähigkeit einer Partei feststellen. Zum einen kann man die Praxis und das Ergebnis des Regierens zugrunde legen. So zeigen sich Schwächen im Regierungsprozess (bei Themen-, Durchsetzungs-, Erwartungs- und Kommunikationssteuerung) und bei den Ergebnissen des Regierens . Zum anderen werden hier die strukturellen Voraussetzungen einer Regierungspartei untersucht. Die zugrunde liegende These lautet: Nur eine Partei mit strategischer Handlungsfähigkeit kann auch regierungsfähig sein. Regierungsfähigkeit ist die Verlängerung von Strategiefähigkeit der Partei in die Regierung hinein. Die Grünen aber sind eine blockierte Partei.

Im Folgenden wird das Führungsversagen der in Berlin mitregierenden Grünen beschrieben. Erklärt wird es durch die Strömungs-, Organisations- und Zielblockade der Partei. Schließlich werden grüne Defizite in den Figuren einer blockierten und fremdbestimmten Partei zusammengeführt.

I. Führungsversagen

Ohne ein strategisches Zentrum zerfällt eine Partei in strategische Einzelambitionen. Ein solches informelles Zentrum umfasst drei bis fünf Personen, die in strategisch relevanten Positionen (Regierung, Fraktions-und Parteiführung) platziert sind. Aus den formellen Positionen allein ist allerdings nicht ableitbar, warum es gerade diese drei bis fünf Personen sind, die das strategische Zentrum ausmachen, aber ohne formelle Führungspositionen und eine Infrastruktur der Macht hätten noch so kluge strategische Intentionen keine Chance. Die individuelle Kompetenz zu übergreifender strategischer Steuerung ist rar. Es sind fast schon glückliche Zufälle, wenn tatsächlich strategiefähige Personen in die Schlüsselpositionen geraten, die gleiche Richtung verfolgen, untereinander Vertrauensbeziehungen entwickeln und sich in den Schaltstellen eine Weile halten können.

Die Grünen traten im Oktober 1998 ohne strategisches Zentrum in die Bundesregierung ein, und sie verfügen bis heute nicht über eine Führungsebene, die im täglichen Management die Linienführung der Regierungspartei betreiben könnte. Bis zu Fritz Kuhn und Renate Künast war der Bundesvorstand nur eine neben vielen anderen Machtzentren bei den Grünen. Etwas dem Präsidium bei den anderen Parteien Vergleichbares, aus dem üblicherweise das strategische Zentrum herauswächst, existierte bei den Grünen nicht. Gunda Röstel und Antje Radcke waren weit entfernt von Ambitionen und Fähigkeiten strategischen Managements. Das galt auch für die Fraktionsvorsitzenden Kerstin Müller und Rezzo Schlauch, die zudem heftig untereinander konkurrierten und zerstritten waren. Die grünen Minister blieben auch untereinander schwach vernetzt.

Es fehlte also ein Kristallisationspunkt in der formellen Partei- und Fraktionsführung oder unter den Ministern, um den herum sich ein strategisches Zentrum hätte aufbauen können. Am ehesten kam der grüne Koalitionsausschuss als funktionales Äquivalent für ein Parteipräsidium in Betracht. Hier haben die Führung von Partei und Fraktion sowie die grünen Minister Sitz und Stimme. Da grüne Ministerpräsidenten nicht zu berücksichtigen sind, war dies der einzige Ort für alle von der Position her potentiell Einflussreichen und tatsächlich für das Regieren in Berlin verantwortlichen Spitzenleute der Grünen. Aber auch dieses Gremium vermochte das Führungsvakuum nicht zu füllen: Die wirksame Koordination ging andere Wege, und für längerfristige Steuerung war die Runde bedeutungslos.

Die Grünen haben zwei Strukturprobleme. Beide beginnen mit einem großen F: Fragmentierung und "Fischerismus". Fragmentierung in der "lose verkoppelten Anarchie" verhindert den Aufbau eines strategischen Zentrums. In den folgenden Abschnitten werden Ausprägungen, Ursachen und Folgen dieser extremen Fragmentierung in Organisations-, Strömungs- und Zielblockade sowie in den massiven Identitätsproblemen der Grünen identifiziert. "Fischerismus" bezeichnet ein mit den Grünen unverträgliches Strukturprinzip: die Alleinherrschaft Joschka Fischers, gestützt durch eine engere und eine weitere Gefolgschaft; die "Fischer-Gang", deren Zusammensetzung sich im Zeitverlauf ändert, als engere, die Realos als weitere Gefolgschaft. Im "Fischerismus" sollen die grünen Probleme durch Unterwerfung der Partei behoben werden. Joschka Fischer allein aber ist zur Steuerung der Partei nicht fähig. Mit den meisten seiner in die Spitzengremien gewählten Kollegen kann er nichts anfangen.

Joschka Fischer hat sich ins Auswärtige Amt zurückgezogen. Er hatte keine Zeit, sorgte aber dafür, dass eigenständige Macht neben ihm nicht entstehen konnte. Sich den Rücken freihalten für sein schwieriges Amt, sich beteiligen am Krisenmanagement weniger big points und vor allem an wichtigen Personalentscheidungen, Stichwortgeber sein gegenüber wenigen Vertrauten - aber all das ohne Beitrag zu einer Linienführung der Grünen. Als virtueller Vorsitzender zu gelten, ohne real Vorsitzendenarbeit zu leisten mit all ihren Mühen der Ebene, schien durchaus Annehmlichkeiten zu bieten. Bei permanenten Misserfolgen grüner Politik lag in dieser bequemen Rolle für Fischer aber auch eine Gefahr. Er hat versucht, ihr mit Fritz Kuhn abzuhelfen. Der ehemalige Fraktionsvorsitzende aus Baden-Württemberg ist der einzige, dem Joschka Fischer auf dieser Ebene zugleich etwas zutraut und dem er vertraut. Ein Jahr lang, vom März 1999 bis zum März 2000, versuchte Fischer vergeblich, "seinen Mann" über eine Organisationsreform an seine Seite zu bringen, die Kuhn erlaubt hätte, sein Mandat im Stuttgarter Landtag beizubehalten. Dann entschlossen sich Kuhn ebenso wie Renate Künast, unter Aufgabe ihrer Landtagsmandate, zur Rettung der Regierungspartei Grüne. Sie wurden im Juni 2000 auf dem Münsteraner Parteitag als Vorstandssprecher gewählt.

Damit begann erstmals, seit die Grünen in der Bundesregierung sind, eine effektive Vernetzung: um diese beiden Personen, die sich auf Linienführung, Koordination und strategisches Management verstanden - und die den Segen Fischers hatten. Das heißt jedoch nicht, dass sie taten, was er sagte, sondern dass sie von ihm in Ruhe gelassen arbeiten durften. Der Parteirat, wie er in Karlsruhe (März 2000) geschaffen und in Münster besetzt wurde, hat den Grünen erstmals ein Gremium gegeben, das strukturell dem Präsidium der anderen Parteien vergleichbar ist. Bei den Grünen ist es aber nicht der Ausgangspunkt der strategischen Führung, sondern allenfalls deren Resonanzboden. Wieweit solche Führung ansatzweise zustande kommt, entscheidet sich bei ihnen immer noch primär über informelle und personelle Faktoren. Fischer bzw. "Fischerismus" und die verschiedenen Parteiströmungen gehören nach wie vor zu den ausschlaggebenden Faktoren. Das zeigte sich deutlich nach dem Rücktritt von Andrea Fischer im Januar 2000. Bärbel Höhn, die einzige Grüne, die das neue, schwierige Verbraucher- und Landwirtschaftsministerium aus dem Stand hätte schultern können und aufgrund ihrer langjährigen, sachverständigen Mahnerrolle in der BSE-Frage prädestiniert war, wurde von Joschka Fischer, assistiert von Jürgen Trittin, beiseite geschoben. Bei Fischers Strömungsgegnerschaft (Höhn ist bei der innerparteilichen Linken organisiert und hat in der Kosovofrage auf dem Bielefelder Parteitag 1999 die beste Rede gegen Fischers Kriegsposition gehalten) und bei Trittins Konkurrenzangst (Höhn hätte ihn mit seinem kompetenzarmen Umweltministerium ökologiepolitisch überflügelt) kam die von allen erwartete sachgerechte Personalentscheidung nicht zustande.

Die Abwehr dieser engagierten Parteilinken war Joschka Fischer so wichtig, dass die Folgen einer Aufsprengung der ganz ungewöhnlichen Vorsitzenden-Kombination von Kuhn und Künast als nachrangig behandelt wurden. Dabei hatte sich erstmals die Chance geboten, ein Zentrum der Partei, relativ unabhängig von den organisierten Strömungen, aufzubauen. Claudia Roth, wenn sie vom Parteitag gewählt wird, ist eine engagierte Europa- und Menschenrechtspolitikerin, mit Meriten insbesondere im Kampf gegen die Rüstungsexportpolitik. Sie ist auch aktiver Teil der dezidierten innerparteilichen Linken, mit deren ganzer Feindschaft gegen das Lager der Realos. Es mag ja unter dem Überlebensdruck, unter dem die Grünen stehen, gelingen, den Strömungskonflikt bis zur Bundestagswahl 2002 zu kanalisieren (auch Kuhn und Roth werden häufig gemeinsam in die Kamera lächeln). Die Wahl von Claudia Roth wäre aber die "Restrukturierung des Strömungskonflikts" - wie mir ein führender Linker sagte - und dessen Einbau in die Parteiführung. Sie wäre kein Beitrag zu dessen allmählicher Zurückdrängung und Überwindung durch einen Zentrismus, der diesen Namen verdient. Es war Fischer selbst, der den Strömungskonflikt reaktiviert hat.

Die Grünen haben nicht nur kein eigenes Zentrum, sie sind auch - und das hängt miteinander zusammen - aus dem Zentrum, das die Regierung steuert, ausgeschlossen. So schlecht wie den Grünen ging es, seit den Tagen Adenauers, der FDP nie. Sowohl unter Kohl als auch unter Helmut Schmidt und Willy Brandt war sie in regelmäßigen, einflussreichen Koalitionsrunden an der Steuerung der Koalition beteiligt. Der im Koalitionsvertrag vorgesehene "Koalitionsausschuss" hat nie getagt. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck definierte ihn zum Krisenausschuss um. Und Krisen hatte man bis heute nicht. Niemand von den Grünen widersprach, und so galt die sozialdemokratische Sprachregelung, man wolle sich nur "nach Bedarf" treffen. Erst auf öffentlichen Druck einiger Grüner bequemte man sich dazu, eine "Koalitionsrunde" einzurichten, unterhalb des formellen Koalitionsausschusses. Auch die Diffamierung als "Kungelkreis" durch den damaligen SPD-Bundesgeschäftsführer Schreiner konnte nicht verhindern, dass man am 1. Dezember 1998 erstmals zusammenkam und sich nun monatlich einmal treffen wollte. Außerdem wurde verabredet, dass sich die Fraktionsspitzen beider Parteien in Sitzungswochen regelmäßig zum Frühstück treffen.

Die Koalitionsrunde ist ein Ersatzgremium. Es ist kein Entscheidungs- und Steuerungsgremium, eher eine Runde für lockeren Koalitionstalk. Wenn doch einmal etwas verbindlich wird, ist es in der Regel vorab geklärt. Die erste ernsthafte Sitzung fand, wie Teilnehmer berichten, ein Jahr nach Regierungsbeginn, im September 1999, statt, nach Fischers groß angekündigter "Rückkehr in die Innenpolitik". Vom November 1999 bis zum November 2000 gab es überhaupt keine Sitzungen der Koalitionsrunde mehr. Man hatte sich darauf verständigt, die Zeit der Differenzen zwischen beiden Parteien sei vorbei, die Koalition komme nun in "ruhigeres Fahrwasser".

Seit Oktober/November 1999 begann das von der SPD aufgebaute regierende Steuerungszentrum zu greifen - genau seit dieser Zeit und ein ganzes Jahr lang gab es keine rot-grüne Koalitionsrunde mehr! Wenn die Grünen etwas wollen, denkt Bundeskanzler Gerhard Schröder, können die sich ja an Peter Struck oder Kanzleramtsminister Franz Steinmeier wenden. Dann erreicht ihn das, wenn es wichtig ist, über seine eigene Steuerungsrunde. Joschka Fischer und Rezzo Schlauch haben andere Informations- und Einflusskanäle. Nie haben sie die objektiv unzureichende Beteiligung beklagt, subjektiv konnten sie zufrieden sein. Sie waren wohl auf die große Runde mit ihren vielstimmigen Parteikollegen nicht besonders erpicht.

Die SPD hat für sich und für die Regierung ein effizientes Steuerungszentrum entwickelt. Lose, unregelmäßige Koordination existiert zwischen dem Bundeskanzler und Fischer, zum Teil auch zwischen Schröder/Steinmeier und Rezzo Schlauch. Kontinuität gibt es nur auf den Ebenen darunter, zwischen den Fraktionsspitzen, die sich dienstags zum Frühstück treffen, und den Obleuten der Fraktion. Als Einzelakteure profitierten Fischer und Schlauch von diesen fragmentierten Einflussstrukturen. Für die Partei war es der definitive Beweis ihrer Strategieunfähigkeit im Regierungsprozess. Es waren zwei Faktoren, die zusammenfielen: die Geringschätzung der Grünen durch den Bundeskanzler und das Profitieren führender Grüner wie Fischer und Schlauch von der fragmentierten Kommunikations- und Koordinationsstruktur. Andere Grüne hatten nicht die Macht, eine institutionalisierte Beteiligung zu erzwingen.

Das Ausbleiben rot-grüner Steuerung auf Spitzenebene wurde nicht kompensiert durch ein Steuerungszentrum Schröder/Fischer. Fischer ist nur schwach vernetzt mit laufenden grünen Entscheidungsprozessen; Schröder dagegen hat seine eigene Steuerungszentrale, in der viel von anderen vorbereitet wird. Was auch immer der Bundeskanzler und Fischer bereden, es gibt keine Vorgaben für die innenpolitische Koordination, die darauf zurückgehen und von Fischer eigenständig den Grünen vermittelt werden. In der Innenpolitik war Fischer nicht sehr engagiert. Das einzige, inhaltlich Weichen stellende Engagement Fischers außerhalb seines Ressorts gab es in der Atomfrage.

Was sind die Konsequenzen solcher Strukturen? Die Steuerung zwischen Rot und Grün ist sachpolitisch fragmentiert und auf niedrigere Ebenen verlagert. Die Fragmentierung, die man Arbeitsteilung nennt, besteht auch bei der Fraktionsspitze. Rezzo Schlauch und Kerstin Müller haben sich die "Leitung" nach Ressorts aufgeteilt: Schlauch spricht zum Beispiel für Wirtschafts-, Finanz- und Umweltpolitik, Müller für Renten- und Rechtspolitik. Beide bewachen ihre Einflusssphären mit ihren Stäben. Im übrigen entscheidet die SPD, wer bei den Grünen relevant ist. Von den beiden formal gleichberechtigten Sprechern wird Schlauch durch privilegierten Zugang und Einfluss zum wichtigeren gemacht. Die Phrase von der "gleichen Augenhöhe" stimmte schon deshalb nicht, weil man gar nicht zusammensaß, um sich in die Augen schauen zu können. "Im Grunde genommen", sagt ein führender Sozialdemokrat, "ist das eine selbst gewählte Benachteiligung, welche die Grünen in dieser Koalition haben." Die Sozialdemokraten waren die Gewinner, die Grünen die - selbst verschuldeten - Verlierer des von Genossen aufgebauten regierenden Zentrums.

II. Organisationsblockade

Bei den Grünen bestünde ein besonderer Bedarf für ein strategisches Steuerungszentrum, gleichzeitig sind die Voraussetzungen dafür - im Vergleich zu den anderen Parteien - besonders schlecht. Allein schon wegen ihrer Selbstblockade bei der Strukturreform finden sie aus diesem Organisationsdilemma nicht heraus. Kontinuität, das heißt auch Begrenzung der Fluktuation auf der Ebene der Parteiführung, ist eine der Voraussetzungen für den aufwendigen Prozess, durch den ein Steuerungszentrum etabliert und stabilisiert wird. Die Langfristigkeit strategischer Prozesse verlangt in besonderem Maße interne Kontinuität. So erfordert beispielsweise der Aufbau neuer, der Partei irgendwann auch tatsächlich zugerechneter Kompetenzbereiche einen Zeitraum von vielen Jahren, wie gerade die mit dem Image der Ein-Punkt-Partei gestarteten Grünen erfahren müssen.

Faktisch ist die Führungsebene der Grünen durch extreme Fluktuation gekennzeichnet: in 20 Jahren 29 Parteivorsitzende - als sei die Organisation zum Verbrauch von Vorsitzenden geschaffen. Anfangs war ja Fluktuation an der Spitze tatsächlich ein Ziel der Organisation, sinnfälliger Beweis dafür, dass Machtkonzentration verhindert wurde. Durch Rotation, Amtszeitbegrenzungen, Dreier- und Doppelspitzen sowie die Trennung von Amt und Mandat sollte das Gegenmodell zu den verharschten Strukturen der etablierten Parteien geschaffen werden. Die Medizin war so durchgreifend, dass neue Krankheiten entstanden sind: Elitenverschleiß und Verstreuung der Eliten über die verschiedenen Organisationsbereiche. Man konnte die Bildung von Eliten zwar nicht verhindern, aber doch die Konzentration ihrer Wirksamkeit. Strategische Eliten sind am besten, wenn sie über die Doppelqualifikation in Staat und Partei verfügen. Regierung und Parlament einerseits, außerparlamentarische Parteiorganisation andererseits sind ausdifferenzierte Handlungsbereiche mit je eigenen Strukturen. Die Erhaltung dieses Eigencharakters, aber Verbindung auf der Wirkungsebene setzt Erfahrung und erworbene Kompetenz in beiden Bereichen voraus. Bereitschaft und Fähigkeit zum Management dieser besonderen Form von Komplexität müssen hinzukommen.

Die Verflechtung der Eliten aus Partei, Fraktion und Regierung ist eine notwendige Voraussetzung für die Herausbildung eines stabilen Zentrums. Insbesondere durch die Regelungen zur Trennung von Amt und Mandat haben nur wenige Akteure im Spitzenbereich Erfahrungen sowohl in Fraktion/Regierung als auch in der Parteiführung. Dadurch wird die Entwicklung einer integrierenden Steuerungsperspektive erschwert. Sie wird am stärksten durch die Gleichzeitigkeit, weniger durch das Nacheinander und am wenigsten durch eine konsequente Trennung von Amt und Mandat gefördert. Erfahrungen gleichzeitiger, integrierter Steuerung wären bei den Grünen so notwendig wie bei anderen Parteien, sie sind aber strukturell ausgeschlossen. Joschka Fischer zum Beispiel hatte, bis zur Schaffung des Parteirats im Sommer 2000, nie ein Parteiamt. Jürgen Trittin war nicht in der Bundestagsfraktion, bevor er Minister in Bonn wurde. Antje Vollmer durchläuft eine reine Fraktionskarriere. Nur zwei der 29 Parteisprecher hatten vor dem Sprecheramt ein Bundestagsmandat inne. Ludger Volmer ist der einzige, der im Bund auf allen drei Ebenen Erfahrung hat, als Fraktions-, dann als Parteivorsitzender, heute als Staatsminister im Auswärtigen Amt.

Die hinreichende Konzentration von Ressourcen an der Spitze ist eine notwendige Voraussetzung für die Managementleistungen eines strategischen Zentrums. Die für strategische Steuerung und Kommunikation erforderlichen Personal- und Finanzressourcen sind im Bundesvorstand nur rudimentär vorhanden. Strategisches Wissen kann nur auf individueller Erfahrung basieren. Ein strategisches Zentrum braucht, bei aller Rückkopplung an die Partei, hinreichende Autonomie für flexible Entscheidungen. Dazu gehört auch, dass der Strömungskonflikt nicht auf das strategische Zentrum übergreifen darf. Es gibt bisher bei den Grünen aber keine relevanten Akteure mit hinreichender Autonomie gegenüber ihren Strömungen.

Alle wirklich durchgreifenden Versuche einer Organisationsreform sind bisher gescheitert. Der Erfolg versprechende Anlauf zum Aufbau eines strategischen Zentrums durch Kuhn und Künast fand gegen die Struktur und unter extremer Selbstüberforderung statt; seine abrupte Beendigung nach nur einem halben Jahr hat immerhin das Gute, dass sich dieses "erfolgreiche Notstandsregime" nicht irrtümlicherweise zum Modell stilisieren lässt, mit dem die Grünen aus ihrer ewigen Strukturmalaise herausfinden könnten .

III. Strömungsblockade

Die Misere der Grünen ist schon an einem Detail ablesbar: Joschka Fischer und Jürgen Trittin, die bei Regierungsantritt "starken Männer" der Grünen, sitzen, wenn sie die Zeit haben, bei den Treffen ihrer jeweiligen Strömungen mit dabei. Als was auch immer sie in der Öffentlichkeit erscheinen mögen, innerparteilich sind sie "Strömungsfürsten". Damit mobilisieren sie zu viele Widerstände dagegen, ihnen die Führung der Partei als Ganzes zu überlassen. Sie bleiben Partei in der Partei, von innen gesehen, ohne Chance zu übergreifender Führung der Gesamtpartei. Die aktuellen Strömungskonstellationen der Regierungsgrünen lassen sich in einer Reihe von Thesen zusammenfassen und zuspitzen:

- Strömungen sind Orientierungsgemeinschaften, Machtagenturen und Personalrekrutierungspools. Sie sind nicht: Ideenagenturen, Diskursgemeinschaften, Think-tanks für Problemlösungen. Orientierungsgemeinschaften: Gerade die Schwäche der Regierungslinken, das heißt die Schwäche, Links und Regierung konstruktiv zusammenzubringen, zeigt die Basisorientierung der beiden Strömungslager. Die Realos sind an der Regierung orientiert, damit auch an den Sekundärtugenden des Regierens wie Pragmatismus und Kompromissfähigkeit. Die Linken sind an Opposition und deren Funktionen (Kritik, Kontrolle, Alternative) orientiert. Machtagenturen: In einer Partei ohne Zentrum und ohne tragfähige Formalstrukturen haben sich Strömungen sehr schnell und dauerhaft als die effektivsten Agenturen für Mehrheits- und Postenbeschaffung herausgeschält. Personalrekrutierungspools: Wer bei den Grünen etwas werden will, muss zu den Strömungen gehen. Er wird nie etwas allein durch die Strömung, aber ohne sie wird er auch nichts.

- Strömungen sind vor allem ein Phänomen der Bundesebene, in Orts- und Kreisverbänden sind sie marginal. In den meisten Landesverbänden wirken Strömungen als Strukturierungsmerkmale, überwiegend mit begrenzter Reichweite. Auf Bundesparteitagen sind die beiden Strömungskerne - zusammengerechnet - in einer Minderheit. Sie stellen ein gutes Drittel der Delegierten, Linke 15 Prozent und Realos 20 Prozent. Erst durch Randwähler bzw. Sympathisanten kommen die Linken auf 35-40 und die Realos auf ca. 40 Prozent. Die Lager, mit ihren festeren und mobileren Anteilen, erreichen so etwa 80 Prozent der Delegierten. Die restlichen ca. 20 Prozent stellen die Ungebundenen, eine disparate Gruppe von Individualisten. Man kann sie nicht sammeln, nur mobilisieren, um die Regierung zu stützen oder zu stürzen. Die Verteilung weist der Strategie den Weg. Mehrheitsfähig sind die Strömungen nur, wenn sie, je nach Thema oder Person, ihre Randwähler und einen Teil der Ungebundenen überzeugen können. Ohne die Ungebundenen verfügt keine Strömung über die Mehrheit.

- In der Regierungszeit hat sich auf Parteitagen eine Mitte-rechts-Mehrheit herausgebildet. Deren Kern sind die Realos, die zu ihnen tendierenden Randwähler sowie Ungebundene, die sich zunehmend als Stützwähler der rot-grünen Bundesregierung verstehen. Nur in einem Grenzbereich, zu dem die Frage von Rüstungsexporten gehört, ist heute punktuell eine Mitte-links-Mehrheit denkbar. Realos stellen auch die bestimmenden Kerne in Bundestagsfraktion und Bundesvorstand. Im Parteirat verschafft die innere Fragmentierung des gemäßigten Lagers einer geschickt operierenden Linken punktuelle Mehrheitschancen.

- Mit dieser Verteilung ist der alte Dualismus zwischen linker Partei und rechter Fraktion überholt. Die Realos tragen mehr Gesamtverantwortung denn je, in allen zentralen Gremien. Schwächen oder Scheitern beim Regieren sind ihnen in besonderer Weise zuzuschreiben. Die Ausrede, von den Linken am guten Regieren gehindert zu werden, greift zu kurz. Die Parteilinke verfügt, unter heutigen Bedingungen, nur noch über eine begrenzte Korrektivfunktion. Größer ist - auf der Führungsebene - ihr Beitrag zur internen Misstrauenskultur (für die sie allerdings nicht alleine verantwortlich ist) sowie zur öffentlichen Skandalierung grüner Programm- und Prinzipienverletzungen und der Aufgabe "grüner Identität".

- Die Linke ist zurückgedrängt und geschwächt, aber ihr Mobilisierungspotential auf Parteitagen bleibt ein Einflussfaktor, bei kritischen Themen und unter anderen Rahmenbedingungen sowieso.

- Die Hauptdefizite der Linken liegen im vergleichsweise schmaleren Führungsreservoir und in programmatischen Schwächen. Sie sind heute die Verteidiger einer Beschlusslage, die noch unter Bedingungen einer Mitte-links-Mehrheit zustande gekommen ist (Wahlprogramm 1994 und Magdeburger Programm 1998). Als ihren Hauptgegner sehen sie die "neoliberale" Mehrheit der Bundestagsfraktion. Den Linken ist es bisher nicht gelungen, das für sie zentrale Sozialthema mit neuen Vorschlägen nach vorne zu bringen.

- Die Realos haben innerparteilich "gesiegt", sehen aber nicht aus, wie man sich Sieger vorstellt. Sie haben Führungs-, Richtungs- und Strategieprobleme. Wer führt, wenn Fischer fehlt? Wie viel "Mitte" verträgt der beträchtliche Anteil links orientierter Grün-Wähler? Burgfrieden (mit wem?) oder doch Ausscheidungskampf und Alleinherrschaft?

- Im Kern geht die inhaltliche Differenz zwischen den Strömungen heute um Stellenwert und Ausgestaltung des Sozialen. Umverteilungsansatz und Orientierung am "unteren Drittel" der Gesellschaft charakterisieren - in der Tradition der Partei - die Linken. Für die Realos gilt dies nicht mehr, ohne dass ihr Konzept sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Interessenvertretung bisher verbindlich erkennbar wäre. Nur bei ihnen finden sich dezidiert wirtschaftsliberale Positionen, mit Vorstellungen von "Leistungsgerechtigkeit". In wirtschaftlichen und sozialen Fragen nehmen Realos die Linken als "sozialdemokratisch", Linke die Realos als "FDP-Liberale" wahr. Häufig eint sie nur die Frage: "Warum sind die noch bei uns?" Im Bereich ökologischer und libertärer Fragen liegt die Differenz vor allem in der Forderungsintensität. Übersetzt in die Sprache des linken Diskurses heißt das: inhaltliche Standfestigkeit versus Anpassung. Am ehesten sind im friedenspolitischen Bereich punktuelle Mehrheiten aus Linken, Pazifisten, Ungebundenen und kritischen Realos denkbar. Rüstungsexportpolitik, aber auch die prinzipiellen Fragen von militärischer Gewalt in der Außenpolitik (wie sie beispielsweise im Grundsatzprogramm zu beantworten sind) bleiben brisante und ergebnisoffene Themen.

- Linke agieren eher auf einer Linie der Tradierung und Verteidigung unaufgebbarer Prinzipien, Realos entlang einer Linie von Öffnung und Anpassung gegenüber gesellschaftlichem Wandel. Das verschafft den Linken ein eher traditionalistisches, den Realos ein eher innovatives Image. Es ist auch die Grundlage für wechselseitige Vorwürfe von "Verrat" und "Opportunismus". Außenstehende empfinden solche Konflikte als steril.

- Für die bundespolitischen Hauptakteure ist das Referenzsystem Strömungen wichtiger als das der Formalstruktur. Institutionen sind deshalb in beträchtlichem Maße Ressourcen in Machtkämpfen, die zwar nicht direkt zwischen Strömungen als Kollektiven, aber doch zwischen strömungspolitisch zugerechneten Akteuren ausgetragen werden. Die Primärinformation ist die Strömungszurechnung. Im Regierungsprozess gewinnt die institutionelle Dimension (Minister, Staatssekretär etc.) zwar an Gewicht. Alle Führungsleute haben aber eine mehr als 15-jährige Strömungsvergangenheit, die wechselseitig gespeichert wurde und Wahrnehmungen wie Verhalten prägt. So sitzen auch die Minister, die Staatssekretäre, die Partei- und Fraktionsvorsitzenden, die Geschäftsführer von Partei und Fraktion, wenn sie Zeit haben (und - bei der Linken - zugelassen sind), selbstverständlich bei "ihren" Strömungen dabei. Wie soll da Vertrauen in Institutionen entstehen?

- Eine Struktur wie die Doppelspitze, die für etwas ganz anderes gedacht war, stabilisiert inzwischen die Strömungen. Bei zwei Strömungen, zwei Geschlechtern und zwei Vorsitzendenämtern kommt jeder auf den Gedanken, das gehöre von Natur aus zusammen.

- Die Feindseligkeit, welche die Strömungen auch dann trennt, wenn sie geringe Themenunterschiede aufweisen, verhindert ein funktionales Verständnis der Strömungen. Das könnte, durch wechselseitige Anerkennung unterschiedlicher Orientierungssysteme, auch ohne Zentrum koordinierend wirken. Die Linke weiß, dass sie von der Parteiführung als "linkes Feigenblatt" der Grünen für linksorientierte Wähler instrumentalisiert werden kann (abschreckende Beispiele: die Sozialausschüsse bei der CDU, die Jusos der siebziger Jahre bei der SPD). Die Grünlinken möchten sich aber nicht selbst funktionalisieren, sondern innerparteilich den Preis für solche unvermeidbare Wirkung hochtreiben. Denkbare Funktionalisierungsgewinne bei Wahlen können so durch die Effekte verschärfter Strömungskonflikte verhindert werden. Die gegensätzlichen Identitätsdeutungen stützen Ablehnung, Misstrauen, negative Integration. Entscheidung, nicht plurale Funktionalisierung ist gefragt. Auch von daher rührt die immer wieder auflebende Neigung zu "Entscheidungsschlachten" im Sinne von Ausscheidungskämpfen.

- Die Strömungen blockieren die Herausbildung eines strategischen und eines ideellen Zentrums. Sie entstanden, weil es eine solche Zentrierung bei den Grünen nicht gab. Solange die Strömungen in der bisherigen Form bestehen, wird es diese Zentren nicht geben.

- Die Elefantenhochzeit, das heißt die vorwiegend kooperative Strategie zwischen den beiden Strömungen, ermöglicht Phasen einer relativen Befriedung, aber sie schafft kein tragfähiges, dauerhaftes Zentrum in der Partei. Zugleich binden die Strömungen die relevanten Akteure, so dass weder Strömungs-Dissidenten noch Newcomer zur Gründung eines Zentrums Wesentliches beitragen können.

- "Strömungen sind die gespaltene Partei." So dezidiert können nur Lagerdissidenten, Ungebundene, externe Beobachter oder, wie bei dieser Aussage, kritische Realos urteilen. "Man braucht Ränder, linke Ränder und liberale Ränder. Ohne einen Mittelblock, der den Laden zusammenhält mit einer gemeinsamen Marschrichtung, kann daraus aber nichts werden." Die Struktur bleibt das Problem - auch in dieser Lesart. "Es gibt bei den Grünen eine Kultur der Wahrnehmung, die über Strömungen strukturiert ist. Das ist eine Falle, die auch den Aufbau eines Zentrums behindert: Es wird sofort als Strömung wahrgenommen. Wer etwas sagen und gehört werden will, der muss sich über Strömungen definieren."

- Die Strömungen sind ein wesentlicher Teil der Fehlstrukturierung der Grünen, allerdings sind sie nicht dessen letzte Ursache. Sie wurden ermöglicht durch die Strukturschwäche der Grünen, und sie entsprechen Bedürfnissen, die in Identitätskonstruktionen grüner Akteure verankert sind.

IV. Zielblockaden

Parteien agieren heute in einem Koordinatensystem, das aus zwei Dimensionen besteht: einer öko-libertären mit dem Gegenpol des Autoritarismus, und einer Dimension, auf der sich markt- und gerechtigkeitsbezogene Werte gegenüberstehen . Die libertäre Dimension umfasst ein ganzes Spektrum von Werten, die sich der älteren, an Gleichheit-Ungleichheit orientierten Links-rechts-Unterscheidung nicht unterordnen lassen. Ökologie, Feminismus, Abrüstung, Selbstbestimmung, Dezentralisierung, Pluralisierung und Spontaneität sind Orientierungsmarken für dieses breite, in sich noch einmal heterogene Wertefeld am Libertarismus-Pol. Der autoritäre Gegenpol bezieht sich auf Hierarchie, Paternalismus, Gemeinschaft, vor allem aber auf Fremdenfeindlichkeit.

Auffällig ist zunächst die Randlage der Grünen. Sie allein unter allen Parteien sind profiliert in der öko-libertären Dimension. Der Vorteil: In dieser Hinsicht haben sie keine unmittelbare Konkurrenz - was nicht ausschließt, dass sie sich selbst im Wege stehen. Der Nachteil: Diese Randlage schränkt ihre Bündnismöglichkeiten ein und belastet eine Koalition mit der SPD, die ihnen in dieser Hinsicht zwar relativ am nächsten steht, aber doch mit erheblichem Abstand. Das sperrige, buchstäblich quer stehende Element im Parteiensystem sind die öko-libertären Themen und Erwartungen. Sie belasten jede denkbare Koalition, an der die Grünen beteiligt sind. Das ist ein besonderes Problem für die SPD. Die müsste in einer großen oder einer sozialliberalen Koalition wohl nicht mit weniger, aber mit anderen Konflikten rechnen. Mit Konflikten in der sozioökonomischen Dimension, in der auch sie selbst zu Hause ist. In der Markt-Gerechtigkeits-Dimension sind die Grünen in der linken Mitte platziert, ziemlich genau auf der Position der SPD. In diesen sozioökonomischen Wertfragen ist die Mitte stark besetzt. Mitte-links: SPD und Grüne, Mitte-rechts: CDU/CSU und FDP. Die SPD nimmt eine strategische Zentrallage ein, was aber nicht nur Vorteile bringt. Sie kann zwar in mehreren Richtungen Koalitionen schließen, in schlechten Zeiten können Wähler aber auch rasch in mehrere Richtungen abwandern. Bei keiner anderen Partei ist das Problem eines spezifischen "Parteiradikalismus" so groß wie bei den Grünen. Dabei sind die Mitglieder deutlich "radikaler" als die Wähler, das heißt, sie betonen die Parteiwerte mit noch stärkerem Nachdruck. Dies gilt gerade in der öko-libertären Dimension, welche die Grünen in einer Außenseiterposition sieht. Das birgt die doppelte Gefahr einer Absetzbewegung der grünen Partei: erst vom Mainstream der Wähler, dann noch einmal von den eigenen Wählern.

Aus diesen Standortbeschreibungen ergibt sich für die Grünen eine Reihe strategischer Gesichtspunkte: Eine Koalition bietet sich primär mit der SPD an, ist aber durch Wertedistanzen im öko-libertären Bereich stark belastet. Auch die unmittelbare Konkurrenz bezieht sich auf die SPD, bei der öko-libertären Wertorientierung ebenso wie bei der spezifischen Verbindung von Markt und Gerechtigkeit. Die Grünen gewinnen ihr Profil durch ihre öko-libertäre Position, sind aber auf die Verbindung mit sozioökonomischen Fragen angewiesen. Besondere strategische Aufmerksamkeit erfordert die Randlage der Grünen, aber auch die Diskrepanz zwischen Wählern und Mitgliedern. Gerade in Zeiten, in denen die grün-spezifischen Themen einen niedrigen Stellenwert auf der Agenda haben, scheint der Ausweg aus diesem Problem in einer Entradikalisierung am öko-libertären Pol zu bestehen. Dafür gäbe es einen außerordentlichen, längerfristigen Kommunikationsbedarf zwischen Parteiführung und Aktiven- wie Wählerbasis, wenn solche Entradikalisierung nicht als opportunistische Anpassung und Verrat verstanden werden soll. Ein solcher Diskurs dürfte, um glaubwürdig zu sein, sicherlich nicht erst nach einer anpassenden Entscheidung (wie beispielsweise beim Atomausstieg) beginnen.

Die Einfachheit dieses Werterahmens kann nicht über die Komplexitätsprobleme hinwegtäuschen, die damit gegeben sind. Sie beginnen bei der Entzifferung der einzelnen Werte. Der "Libertarismus"-Wert beispielsweise ist in sich außerordentlich komplex. Ökologie und Selbstbestimmung, Feminismus und Abrüstung, Lebensstilfragen und Ausländerintegration sind hier zuzuordnen. Hinzu kommt die Gegnerschaft zu Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und anderen Ausprägungen des Gegenpols. Viel Unterschiedliches und Gegensätzliches also, viel Gelegenheit, sich innerhalb dieses Wertepfads zu verlaufen. Aber auch "soziale Gerechtigkeit" ist nur der Deckname für ein breites Spektrum von Gerechtigkeitsbegriffen, von denen einzelne sogar stärker in den ökologischen Wertebereich hineinragen (zum Beispiel Generationengerechtigkeit). Komplex sind auch die Kombinationen Markt und Staat, Ökonomie und Ökologie, libertäre Emanzipation und Sicherheitsbedürfnisse - Werteprofile bilden sich häufig gerade im Spannungsverhältnis bestimmter Wertepaare. Nicht zuletzt muss strategisches Komplexitätsmanagement geeignete Themen bzw. Projekte aufspüren, in denen der abstrakte Orientierungsrahmen praktisch werden kann.

Legt man den skizzierten Werterahmen zugrunde, haben die Grünen vier Bewegungsmöglichkeiten. Sie können sich stärker nach links, zum Pol der Gerechtigkeit wenden, dort konkurrieren sie mit der SPD-Linken und der PDS (Linksstrategie). Oder sie können sich stärker zur Mitte orientieren, dort begegnen ihnen vor allem SPD und CDU/CSU (Mitte-Strategie). In der zweiten, der libertär-autoritären Dimension könnten die Grünen öko-libertäre Werte forcieren; in diesem Niemandsland träfen sie auf keine Konkurrenz, aber auf immer weniger Wähler (Milieustrategie). Sie könnten aber auch ihr öko-libertäres Profil abschwächen, dann gerieten sie in eine Zone, in der zwar mehr Konkurrenz (seitens der SPD), aber auch mehr Wähler zu finden wären (Mainstreamstrategie).

Es zeigt sich, dass alle Teilstrategien für sich nicht tragfähig sind, eine Gesamtstrategie sich aber nicht abzeichnet. Für die Grünen als Ganzes ist eine Nicht-Strategie charakteristisch. Die Partei laviert im Status quo, Ausdruck einer innerparteilichen Blockade zwischen der Linken und der Realoströmung. Beide Strömungen würden, wenn es die innerparteilichen Verhältnisse zuließen, in jeweils eine andere Richtung gehen. Linke wollen das Feld zur linken SPD und zur PDS stärker öffnen, Teile der Realos suchen Anschluss zur bürgerlichen Mitte. Der größere Teil der Partei bleibt auf die SPD fixiert, sozusagen bewegungslos. Dominant bei diesen Strategiespielen ist die Gerechtigkeits-Markt-Dimension, das heißt die weiterentwickelte Links-rechts-Achse. Die öko-libertäre Dimension wurde bisher nicht zum Gegenstand eigenständiger strategischer Optionen gemacht. So läuft sie unter "Radikalisierung" beim parteiinternen Links-rechts-Konflikt mit: Die Linken sind nicht nur in den Gerechtigkeits-, sondern auch in den öko-libertären Fragen radikaler. Sie vertreten eine Art von Forderungsradikalismus und berufen sich nicht selten auf die in den siebziger und achtziger Jahren gewachsenen Milieupräferenzen, in denen sie auch den Kern der Stammwählerschaft sehen. Realos sind meist auch in öko-libertären Fragen moderater. In der Autodebatte des Sommers 2000 wurde die Differenz zwischen Milieu- und Mainstreamstrategie an einem Thema deutlich, insgesamt gehört sie aber zu den intransparenten Konflikten.

Dabei ist die Unterordnung der öko-libertären Dimension unter die Leitdifferenz links-rechts wie auch die daraus sich ergebende Radikalismusausprägung keineswegs zwingend. Soziale Unterschichten als größte Interessenten für Gleichheits- bzw. Gerechtigkeitspolitik sind zugleich äußerst distanziert bis ablehnend hinsichtlich der öko-libertären Themen, sie neigen stärker zum autoritär-fremdenfeindlichen Pol. Und auch die marktwirtschaftliche Tendenz ist nicht notwendigerweise mit Mäßigung in öko-libertären Fragen verbunden. Der Realo Loske widersprach vehement den Auto-Akzeptanz-Forderungen seines Strömungskollegen Schlauch. In der öko-libertären Dimension führte eine Milieustrategie ins Ghetto, aber auch eine Mainstreamstrategie brächte die Gefahr von Verflachung und Profilverlust. Die Randlage der Grünen in der öko-libertären Position ist die für grüne Profilbildung attraktivste, für die Wählerbalance aber riskanteste Position. Hier, nicht in der Links-rechts-Dimension, entscheidet sich die Zukunft der Grünen.

Als Regierungspartei laufen den Grünen die Wähler davon wegen ihrer Politik im öko-libertären Wertebereich: die einen, weil sie zu viel wollen, die anderen, weil sie zu wenig bringen. Für dieses Dilemma gibt es keine einfachen strategischen Lösungen. Notwendig wäre viel vorbereitende und begleitende Kommunikation, die Forderungen, Erwartungen, Lösungs- und Leistungsmöglichkeiten in Beziehung zueinander bringt; ferner mehr Differenzierung, zum Beispiel in der Zeitdimension oder in der Zielgruppenansprache. Zudem Konfliktbereitschaft gerade auch bei diesen Themen, um dem Koalitionspartner wie den eigenen Anhängern zu zeigen, wie wichtig einem diese Fragen sind - wenn sie einem wichtig sind. Von Beginn an war es eine der Merkwürdigkeiten der Grünen, dass sie eine neue Konfliktlinie ins Parteiensystem einführten, selbst aber intern ihre Konflikte über die alte Links-rechts-Differenz aufbauten. Die hat sich zwar heute bis auf eher begrenzte Alternativen abgeschliffen, die "soziale Frage" bleibt aber ein zentrales Konfliktthema.

Bei der Analyse grüner Wählerschaft ist zu sehen, dass weder eine forcierte Links-, noch eine dezidierte Mittestrategie die wahlpolitischen Probleme der Grünen lösen könnten . Die entsprechenden Felder sind besetzt von Parteien mit einfachen und einseitigen Lösungen. Mehr Gerechtigkeit ist die Parole der PDS, mehr Markt die der FDP. Es ist unwahrscheinlich, dass Menschen in schlechteren sozialen Lagen die Grünen nur wegen entschiedener sozialpolitischer Forderungen wählen würden. Ähnliches gilt für den unternehmerischen Bereich, der bei angebotspolitischen Offerten immer auf die meistbietende FDP zurückgreifen kann. Aus einer integrierten Sicht der Grünen handelt es sich bei der Links- wie der Mittestrategie um Teilinteressen sowie um markt- oder sozialprofilierte Teilstrategien. Die kann die Partei tolerieren, und sie mögen ihr bei der Erweiterung ihrer Zielgruppen helfen, als Orientierungslinie für ein erfolgreiches Zentrum der Grünen taugt keine von beiden. Das grüne Allgemeininteresse ließe sich eher durch die Erwartungsformeln "öko-libertäre Interessen zuerst" und "Prosperität, verbunden mit Gerechtigkeit", charakterisieren. Teilstrategien legen nur einen Ansatzpunkt des Koordinatensystems zugrunde. Eine Gesamtstrategie bezöge sich dagegen auf mehrere oder alle Dimensionen des Koordinatensystems. Sie müsste sich mindestens auf ein ökologisches, ein libertäres, ein soziales und ein marktbezogenes Projekt stützen, nicht zuletzt aber auch auf eine übergreifende Idee, um für diese Komplexität Sinn zu stiften und Orientierung zu geben.

V. Eine blockierte und fremdbestimmte Partei?

Das alte Defizit der Grünen ist geblieben: die Schwäche der Selbst- und die Stärke der Fremdstrukturierung . Die am meisten Autonomie reklamierende Partei ist die von externen Einflüssen am stärksten abhängige Partei. Der Grund liegt darin, dass die Partei nicht in der Lage ist, belastbare Strukturen für einen strategiefähigen Akteur aufzubauen. Selbstblockade bedeutet die radikale Einschränkung frei wählbarer Optionen, die dennoch in der Partei vertreten werden. Die Partei würde scheitern, folgte sie einer der einseitigen Optionsforderungen. Gleichzeitig fehlt ihr die Kraft zu einem aktiven Zentrismus, der das Sinnvolle der partikularen Positionen integrierte. Strömungs-, Organisations- und Zielblockaden waren in diesem Beitrag die Beispiele, an denen die Bewegungsunfähigkeit der Grünen illustriert wurde . Linke und rechte Strömungen repräsentieren Teilwahrheiten des grünen Werte- und Ideenhaushalts ebenso wie Teilgruppen der Wählerschaft, im Kern sprechen sie sich aber immer noch wechselseitig die Legitimität ab. In der Organisationsfrage verhindert eine Koalition sich ausgeschlossen Fühlender (Linke, Feministinnen, Basisaktivisten u. a.) eine Struktur, die notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingungen dafür schaffen würde, dass die Partei ihre Ziele kontinuierlich und effizient verfolgen kann, das heißt sich zum strategie- und regierungsfähigen Akteur entwickelt. Die Zielblockade besteht darin, dass die Grünen erfolgreich weder Öko-FDP noch ökologische Linkspartei werden und in der öko-libertären Dimension weder eine radikale Randlage noch eine Linie des Mainstreams ansteuern können.

Die Episode eines aktiven Zentrismus von Fritz Kuhn und Renate Künast war schon nach einem halben Jahr vorbei. Wie alle zentristischen Versuche bei den Grünen scheiterte sie an den linken und rechten Strömungen sowie an einem Polarisierungsdenken, das noch bei begrenzten inhaltlichen Unterschieden wirksam bleibt und damit auf Tiefenschichten grüner Fehlprogrammierung verweist . Gleichzeitig sind die Grünen mehr als andere eine fremdbestimmte Partei. Sie leben von Themenkonjunkturen und erleiden sie passiv - haben zum Beispiel keine Kraft gegenzusteuern, wenn Ökologie aus der Mode kommt. Sie steigen auf, wenn es mit der SPD bergab geht - wie in den neunziger Jahren - und sinken ab, wenn die SPD sich erholt hat.

Nur der Staat verschafft den Grünen soviel Struktur, wie sie zum Überleben brauchen. Sie sind eine ..staatserhaltene" Partei. In den neunziger Jahren waren es die Bundestagsfraktion und die Vorbereitung auf eine rot-grüne Koalition, die der Partei Halt verliehen. Heute sind es die rot-grüne Bundesregierung und die Steuerungsleistungen der SPD aus dem Kanzleramt, die strukturieren. Immer hat die Fünfprozentklausel die zwei Richtungen, ja Parteien in den Grünen alternativlos verklammert (bei einer Dreiprozenthürde gäbe es zwei grüne Parteien). So weiß man, was man zu tun hat. Wehe den Grünen, wenn Wähler und SPD sie aus der Regierung schicken! Alles wäre danach umstritten: die Richtung, die Koalition, die Politik und das Personal. Wer von den Grünen, die man heute kennt, wollte sich einen dann unabweisbaren Neuanfang noch einmal antun?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Joachim Raschke, Die Zukunft der Grünen. "So kann man nicht regieren", Frankfurt/M.-New York 2001.

  2. Vgl. ebd.

  3. Vgl. zu beiden Aspekten ebd.

  4. Vgl. Richard Stöss, Stabilität im Umbruch. Wahlbeständigkeit und Parteienwettbewerb im "Superwahljahr" 1994, Opladen-Wiesbaden 1997.

  5. Vgl. Jürgen Falter/Kai Arzheimer, Rein in die neue Mitte - oder raus aus der neuen Mitte? Die Grünen auf der Suche nach ihrem Platz an der Sonne, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. 8. 2000.

  6. Vgl. Joachim Raschke, Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind, Köln 1993.

  7. Im meinem aktuellen Buch (Anm. 1) werden u. a. auch Fragen grüner Identität analysiert. Mit der Figur "unbalancierter Identität" wird gezeigt, dass es den Grünen nicht gelingt, das Spannungsverhältnis zwischen ihren Idealen und der Realität auszuhalten und konstruktiv zu gestalten. An Joschka Fischer, Christian Ströbele und Jürgen Trittin werden die Identitätstypen von Überanpassung, Identitätsfixierung und unechter Vermittlung verdeutlicht, die auch die Grünen als Ganzes bestimmen.

  8. Sie waren der Grund, die Analyse der Grünen bis hin zu langfristig wirksamen Identitätsfaktoren zu treiben.

Dr. phil., geb. 1938; Professor für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg,

Anschrift: Flemingstr. 9, 22299 Hamburg.

Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: Die Zukunft der Grünen. "So kann man nicht regieren", Frankfurt/M.-New York 2001.