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Souveräner Spieler | Polen | bpb.de

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Souveräner Spieler Polen in Europa - Essay

Krzysztof Mazur

/ 16 Minuten zu lesen

Polen stößt in Europa häufig auf Unverständnis, obwohl es ähnliche Probleme wie viele andere Länder hat. Die aktuelle Regierung beschreitet keinen Sonderweg, sondern ihre Politik entspricht einem weltweiten Trend. Dies lässt sich an den Themen Staat, Wirtschaft und Identität zeigen.

Am schwersten ist es, sich mit den Augen anderer zu sehen. Nach der berühmten Maxime Ludwig Wittgensteins bedeuten schließlich "die Grenzen meiner Sprache (…) die Grenzen meiner Welt." An diese Phrase musste ich denken, als die Redaktion von "Aus Politik und Zeitgeschichte" mich bat, deutschen Leserinnen und Lesern den "polnischen Standpunkt" zu erklären. Dabei habe ich häufig den Eindruck, dass die Herausforderungen in Polen lediglich lokale Entsprechungen von Problemen sind, die andere Länder in ähnlicher Weise haben. Das ist recht logisch: In einer globalisierten Welt sind auch viele Probleme global. Es ist dieses Spannungsfeld, in dem sich über die Situation Polens reflektieren lässt – als ein Land, das aufgrund seiner spezifischen Geschichte häufig auf Unverständnis stößt, obgleich es mit denselben Problemen zu kämpfen hat wie alle anderen ringsumher. Im Folgenden werde ich versuchen, die Schizophrenie dieser Beurteilung durch eine Annäherung an die Themen Staat, Wirtschaft und Identität offenzulegen.

Staat

Die Einschätzung, dass Polen ein schwacher Staat sei, ist ein zentrales Element der öffentlichen Debatte in unserem Land. Auch wenn es in Polen bei vielen Dingen zu ernsthaften Auseinandersetzungen kommt – in dieser Frage herrscht erstaunliche Einigkeit. Als der Politikwissenschaftler Artur Wołek vor einigen Jahren ein Buch mit dem bezeichnenden Titel "Der schwache Staat" veröffentlichte, wurde sein Inhalt als wenig innovativ bewertet – streiten doch Parteien, Publizisten und Bürger bis heute verbissen über die Gründe dieses Zustands und die Möglichkeiten, die Situation zu verbessern. Die Diagnose an sich wird jedoch allgemein anerkannt.

Ich persönlich gehöre dem Teil unserer Gesellschaft an, der die Gründe für die institutionellen Schwächen des polnischen Staates vor allem in der schlecht bewerkstelligten Systemtransformation seit 1989 sieht. In der Folge waren wir nicht in der Lage, uns erfolgreich vom Kommunismus zu lösen. Dieses Thema ist bereits ausführlich in der Literatur bearbeitet worden. Eine der herausragenden Publikationen dazu stammt von dem Historiker und Politiker Paweł Kowal. In seinem Buch "Das Ende eines Herrschaftssystems" beschreibt er die Strategie der Kommunistischen Partei Polens in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, die sich auf drei Pfeiler stützte:

Erstens: Das Ziel der KP-Nomenklatura war es zunächst, sich ein möglichst großes Stück vom "staatlichen Kuchen" zu sichern. Indem sie Fabriken, Immobilien, Zeitungen und Banken in Besitz nahm, festigte die postkommunistische Oligarchie im Zuge der Gestaltung einer neuen kapitalistischen Ordnung ihre privilegierte Stellung.

Zweitens ging es den Kommunisten um eine privilegierte politische Stellung, die sie sich durch das riesige KP-Vermögen und die Einschränkung der Solidarność bei der ersten Parlamentswahl 1989 verschafften. Bei dieser wurden nur 35 Prozent der Mandate frei gewählt, die Wahlordnung sicherte den Kommunisten beziehungsweise der Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) also 65 Prozent der Mandate!

Und drittens schützten die Kommunisten ihre alten Privilegien durch institutionelle und rechtliche Kontinuitäten zwischen Volksrepublik und Dritter Republik. Der Sejm – ebenjener, in dem die Kommunisten fast eine Zweidrittelmehrheit hatten – legte mit einem einzigen Gesetz fest, dass Polen ab sofort ein "demokratischer Rechtsstaat" sein sollte. Bevor die Solidarność das Ruder übernahm, bevor überhaupt an irgendeine Entkommunisierung oder an die Aufdeckung von Geheimdienstmitarbeitern gedacht, bevor den Funktionären des Repressionsapparates ihre sozialen Privilegien genommen, die Verantwortlichen für die kommunistischen Verbrechen verurteilt, das Vermögen der PZPR konfisziert oder der Nomenklatura das geraubte Staatsvermögen entwendet werden konnte, wurden solcherart Systemregelungen eingeführt, als sei Polen bereits seit Jahren jener "demokratische Rechtsstaat". Die Kommunisten erhielten auf diese Weise den vollen rechtlichen Schutz, den die westliche Welt ausgearbeitet hatte, um ehrliche Bürger vor den Versuchungen der Macht zu bewahren. In unserem Fall wurden diese hehren Ideale genau zum gegenteiligen Zweck genutzt: Sie legalisierten die unberechtigte Inbesitznahme des Staatsvermögens durch Personen, die 45 Jahre lang ein verbrecherisches System aufrechterhalten hatten.

Dieser Teil der polnischen Geschichte ist im Westen kaum bekannt. Ausländische Beobachter und die Öffentlichkeiten ihrer Länder sehen daher im Konflikt zwischen der polnischen Regierung und dem Verfassungsgerichtshof die ersten Keime eines Autoritarismus. Für viele Menschen in Polen, die kritisch auf den Transformationsprozess ihres Landes zurückblicken, stellt sich die Situation ein wenig anders dar. Der Verfassungsgerichtshof, den die Kommunisten 1982 zur Umsetzung der oben beschriebenen Strategie ins Leben riefen, wurde zu deren "Hüter" und Garanten. Bis zu dem Moment, als 1997 die Verfassung der Dritten Polnischen Republik verabschiedet wurde, garantierte der Verfassungsgerichtshof den Schutz der alten Nomenklatura – also über acht entscheidende Jahre der Systemtransformation. Deswegen sehen viele Polen im Streit um das Verfassungsgericht keinen Angriff auf die Demokratie, wie ein derartiges Geschehen in den alten Demokratien der Europäischen Union aufgefasst werden würde, sondern einen Konflikt mit einer Institution, die den Prozess, in dessen Zuge die ungerechten Fundamente der jungen polnischen Demokratie gelegt wurden, zusätzlich negativ beeinflusst hat. Gerade in Deutschland, wo man eigene Erfahrungen mit den langwierigen gesellschaftlichen und ökonomischen Folgen des Kommunismus in der ehemaligen DDR gemacht hat, sollte man diese Zusammenhänge nachvollziehen können.

Die Schwäche des polnischen Staates ist jedoch nicht ausschließlich aus der jüngeren Geschichte zu erklären. Am Anfang der Dritten Republik war das Land tatsächlich nicht in der Lage, starke Institutionen aufzubauen, die ein Gegengewicht zur Globalisierung gebildet hätten. Heute aber ist seine Schwäche durch einen weltweiten Trend bedingt, den man die "Verwässerung staatlicher Souveränität" nennen könnte. Es ist offensichtlich, dass globale Kapitalgesellschaften, internationale Regulierungen und supranationale Institutionen zunehmend Einfluss auf Fragestellungen nehmen, die ehemals ausschließlich der Gerichtsbarkeit der einzelnen Staaten unterlagen.

Dies ist auch in Deutschland der Fall. Das Bundesverfassungsgericht fällte 2009 ein wegweisendes Urteil zur Ratifizierung des Vertrages von Lissabon, in dem es nach mehreren Verfassungsbeschwerden feststellte, dass der EU-Vertrag grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar sei – und damit auch die Übertragung bestimmter Hoheitsrechte an die Union, sofern die Beteiligungsrechte des Bundestages und des Bundesrates in der Union gestärkt würden. Die Verwässerung von Souveränität in der gesamten EU ist eine Tatsache, die sich in den Mitgliedsstaaten jedoch unterschiedlich auswirkt. Die Schlussfolgerung, die das Bundesverfassungsgericht im Falle Deutschlands gezogen hat, ist nämlich für Länder wie Polen zweifelhaft, deren institutionelles oder wirtschaftliches Potenzial geringer ist. Denn letztlich hängt alles von der Stärke der nationalen Institutionen ab, ob diese im europäischen Kontext in der Lage sind, erfolgreich für die Interessen ihrer Bürgerinnen und Bürger zu kämpfen.

Indessen analysiert Wołek in seinem Buch Fallbeispiele, in denen Polen nicht in der Lage war, seine Belange auf EU-Ebene zu vertreten. Darunter findet sich beispielsweise der Streitfall zwischen der Europäischen Kommission und dem polnischen Staat über unerlaubte öffentliche Hilfe für die polnische Werftindustrie von 2005 bis 2010. Aufgrund der Verhandlungsschwäche auf polnischer Seite siegte Brüssel auf ganzer Linie. Infolgedessen blieb den heimischen Werften – der Wiege der Solidarność-Bewegung – die Hilfe durch den polnischen Staat versagt, was dazu führte, dass sie auf dem europäischen Schiffbaumarkt nicht mehr konkurrenzfähig waren. Heute wird dieser Industriezweig überall konsequent abgewickelt; dennoch zeigte der Streit mit der EU-Kommission, dass die alten Mitgliedsstaaten mit ihrem ungleich höheren institutionellen Potenzial die europäischen Institutionen besser für sich zu nutzen wissen. Polen mit seiner geringeren Erfahrung in solchen Angelegenheiten erwies sich in diesem Prozess eindeutig als unterlegen.

Analoge Situationen, in denen Staaten mit schwächerem institutionellen Potenzial den Kampf um ihre eigenen Interessen verlieren, lassen sich in Europa zuhauf finden – von Irland bis Griechenland. In solchen Fällen ist die Frage nach der Bilanz von Gewinnen und Verlusten, die die Abtretung eines Teils der eigenen Souveränität an die EU oder andere supranationale Institutionen mit sich bringt, etwas ganz Natürliches.

Und mehr noch: Die Rückkehr zu einem Denken in Kategorien der nationalen Souveränität – auch "strategische Autonomie" genannt – lässt sich selbst bei den stärksten Staaten der Welt beobachten. In deren Fall rührt sie vom Gefühl einer zunehmenden Schwäche der Nationalstaaten gegenüber den immer mächtigeren globalen Konzernen her, besonders Technologiekonzernen. Wenn ein Privatunternehmen in der Lage ist, Informationen über das Alltagsleben von Milliarden Bürgern aus aller Welt zusammenzutragen, aber kein Nationalstaat es zustande bringt, dieses Unternehmen zu kontrollieren, dann verliert der Staat seine natürliche Funktion. Genau diese Situation liegt beispielsweise vor, wenn es – wie kürzlich in Europa – um das Recht auf die Löschung persönlicher Daten geht. Solange alles gut ist und keine besonderen Probleme auftreten, akzeptieren alle den gegebenen Zustand. Wenn es jedoch zu einer Krise kommt, wenden sich die Bürger nicht an das internationale Unternehmen, sondern an den Staat, damit der "etwas dagegen tut". Heute erwarten Bürger auf der ganzen Welt – von den Vereinigten Staaten bis Australien – mehr Aktivität vom Staat, erzeugt die Globalisierung doch immer größere Spannungen. Die in Polen beobachtete Renaissance eines Denkens in nationalstaatlichen Kategorien ist daher nichts Außergewöhnliches.

Wirtschaft

Polens größter Schatz sind die dort lebenden Menschen. Die Geschichte der polnischen Transformation ist vor allem eine Geschichte gesellschaftlicher Aktivität und eines sich explosionsartig entwickelnden Unternehmertums. Zum Symbol für die beginnenden 1990er Jahre ist daher der Kleinhandel geworden, blühten damals doch die Marktplätze und -hallen, in denen die Leute Klappbetten aufstellten, auf denen sie buchstäblich alles feilboten – von Butter bis zu chinesischen Ferngläsern. Die nächste Etappe war die große Lehre von der westlichen Arbeitskultur; sie ging einher mit ausländischen Investitionen. Die größten Weltmarken eröffneten nun Produktionsstandorte und Zentren für BPO-Services (Business Process Outsourcing) in Polen.

Mit dem EU-Beitritt 2004 begannen die Menschen jedoch, scharenweise den besseren Arbeitsplätzen in Westeuropa hinterherzuziehen, daher arbeiten heute fast drei Millionen Polinnen und Polen im Ausland. Seit einigen Jahren schließlich kann Polen eine der prosperierendsten Start-up-Szenen Europas vorweisen, in der junge Menschen sich in neuen Technologien ausprobieren. Angesichts der Barrieren, die traditionelle Branchen wie die Auto- oder die Pharmaindustrie vor neuen Wettbewerbern schützen, setzen polnische Unternehmer derzeit auf die IT-Branche, wo das Wettrennen um den Status des ersten polnischen "Einhorns" im Gange ist, wie junge Unternehmen mit einem Marktwert ab einer Milliarde US-Dollar genannt werden. Betrachtet man all diese Aktivitäten, dann nimmt es nicht wunder, dass Polen laut OECD weltweit zu den arbeitsamsten Nationen zählt.

Zugleich bildet unser Land das Schlusslicht, was den Anteil der Löhne und Gehälter am Bruttoinlandsprodukt (BIP) angeht. Laut einem Bericht der Europäischen Kommission beträgt der Prozentsatz für Polen 48 Prozent, wohingegen der EU-weite Durchschnitt bei 55,4 Prozent liegt. Dies zeigt, dass die Menschen in Polen im Verhältnis zu allen auf polnischem Gebiet erzeugten Gütern und Werten proportional um einiges weniger verdienen als die Menschen in anderen Ländern. Wie ist das möglich?

Letztlich ist es das Resultat der Position, die unsere Firmen in der "globalen Lieferkette" innehaben: Polens Wirtschaft wird von den hierzulande ansässigen Fabriken internationaler Konzerne dominiert, in denen einfache körperliche Arbeiten verrichtet werden, sowie von heimischen Firmen, die einfache Bauteile an die globalen Spieler liefern. An polnischen global champions, die Endprodukte – am besten mit hoher Marge – in großem Umfang international produzieren und vertreiben, fehlt es hingegen. Polen entwickelte sich jahrelang mit Hilfe ausländischer Investitionen, verfügt es doch über ausgezeichnet qualifizierte und fleißige, zugleich aber niedrig bezahlte Arbeitskräfte. Gleichzeitig ist es kaum gelungen, selbst globale Marken hervorzubringen.

Auch hier sind die Gründe im Transformationsprozess zu suchen. Aufgrund der institutionellen Schwäche der Dritten Republik konnte der polnische Staat seinen Unternehmen keinen Schutz bieten, der sie bei der Umwandlung in moderne und global agierende Firmen unterstützt hätte. Der Ökonom Witold Kieżun beschrieb dies in seinem Buch "Die Pathologie der Transformation". Der ursprüngliche Grund für unsere Schwierigkeiten liegt ihm zufolge in den Prinzipien des sogenannten Washingtoner Konsenses, die Anfang der 1990er Jahre auch den Ländern Mitteleuropas vom Internationalen Währungsfonds und von der Weltbank aufgezwungen wurden. Die damit verbundenen Maßnahmen und ihre Folgen erwiesen sich in den Jahren der Transformation für die polnische Wirtschaft als tödlich: Durch Einhaltung einer strikten finanziellen Disziplin hatten die Staaten kaum Möglichkeiten, negative Folgen der Reformen auszugleichen; die Liberalisierung der Finanzmärkte ermöglichte den unbeschränkten Zufluss von Fremdkapital; die Beibehaltung eines einheitlichen Währungskurses zementierte die Dominanz stärkerer Währungen; die Liberalisierung des Handels und der Abbau von Beschränkungen für ausländische Investoren öffnete den polnischen Markt für starke Player aus dem Ausland; die Privatisierung staatlicher Unternehmen führte zu ihrem Aufkauf durch ausländisches Kapital; und durch die garantierten Eigentumsrechte gab es keinerlei Möglichkeit, staatliches Eigentum zu übernehmen, das die Partei-Nomenklatura sich bereits angeeignet hatte.

Man braucht sich bloß die Zahlen aus dem Jahr 1990 anzusehen: Die Inflationsrate betrug 600 Prozent (erst 1999 lag sie unter zehn Prozent); die Durchschnittspreise stiegen um das Sechs- bis Siebenfache an; die Durchschnittslöhne fielen dagegen um 24 Prozent; der reale Wert der durchschnittlichen Renten und Pensionen fiel um 19 Prozent. Für die ersten vier Jahre der wirtschaftlichen Transformation von 1989 bis 1994 weist Kieżun ferner darauf hin, dass der Anteil der Menschen, die in Polen unter dem Existenzminimum lebten, von 16 auf 40 Prozent stieg. Es ist heute wahrhaftig kaum vorstellbar, wie die polnische Gesellschaft jene Zeit durchstand.

Auf lange Sicht hatten jedoch die Entwicklungen in der Spitzentechnologiebranche die größte Bedeutung. Entgegen der landläufigen Meinung besaß Polen während der Zeit der Volksrepublik nämlich wichtige Stützpfeiler in Form technologisch hochentwickelter Unternehmen. Für den sogenannten Ostblock war Polen ein wichtiger Produzent von Elektronik und optischen Geräten. Den technologischen Vorsprung büßte es infolge der schlecht umgesetzten Transformation jedoch größtenteils ein. Auch hierzu nennt Kieżun erstaunliche Fakten: Durch Insolvenzen und Schließungen staatlicher Firmen brach das polnische Produktionspotenzial zwischen 1989 und 1994 massiv ein – bei Informationstechnik um 26 Prozent, bei optischen Apparaturen um 37 Prozent, bei Energieanlagen um 45 Prozent und bei elektronischen und teletechnischen Geräten um 67 Prozent. Davon zeugen auch Firmengeschichten wie etwa die der Breslauer Computerfirma Elwro, in der seit den 1960er Jahren einige der weltweit modernsten Computermodelle hergestellt worden waren. 1993 kaufte Siemens die Betriebe auf, "worauf fast die gesamte Belegschaft entlassen und sämtliche Gebäude abgerissen wurden, bis auf eines, in dem eine marginale Produktion von Kabelbündeln für die in Deutschland hergestellten Computer verblieb". Eben zu jener Zeit verlor Polen für die folgenden zwei Jahrzehnte die Chance, mehr zu sein als eine "Montagehalle" oder ein Reservoir an billigen Arbeitskräften für ausländische Konzerne.

Deswegen hat die polnische Regierung 2016 den nach dem heutigen Ministerpräsidenten und damaligen Wirtschafts- und Finanzminister benannten "Morawiecki-Plan" verabschiedet, dessen oberstes Ziel die Unterstützung heimischer Firmen ist, damit auch diese zu global champions werden können. Es geht schlicht darum, in der "globalen Lieferkette" nach oben zu rücken. Die von westlichen Medien als "xenophob" und "nationalistisch" bezeichnete polnische Regierung verleiht einfach nur den zunehmend globalen Bestrebungen der heimischen Unternehmen Ausdruck.

Ihre programmatischen Prinzipien sind dabei von aktuellen wirtschaftlichen Debatten inspiriert. Mateusz Morawiecki bezieht sich etwa auf den französischen Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty, der in seinem Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" die Gründe darlegt, warum der Anteil der Gehälter am BIP nicht nur in Polen, sondern auf der ganzen Welt sinkt: Dies rührt von der immer schwächeren Stellung der Arbeitnehmer gegenüber den international agierenden Konzernen her, ist doch Kapital weitaus mobiler als Arbeitskraft. Morawiecki berücksichtigt auch die Erkenntnisse des US-amerikanischen Ökonomen Michael E. Porter, der anhand des Konzepts der sogenannten Wertschöpfungskette gezeigt hat, dass manche Elemente der heutigen Produktionsprozesse um ein Vielfaches lohnender sind als andere. Wenn Polen also den Anteil der Löhne und Gehälter am BIP erhöhen will, dann sollte es sich nicht mehr als Zentrum des Outsourcings positionieren, sondern mit der Herstellung technisch ausgefeilterer Produkte beginnen. Und schließlich stützt sich Morawiecki auf die italienische Wirtschaftswissenschaftlerin Mariana Mazzucato, die in ihrem Buch "Das Kapital des Staates" aufzeigt, dass ein solcher Prozess niemals ohne die aktive und bewusste Industriepolitik eines Staates eintritt. Nur der Staat ist nämlich in der Lage, das Risiko zu tragen, das mit der Investition in bahnbrechende Innovationen einhergeht. Das heutige Polen weicht somit von den weltweiten Trends nicht ab. Im Gegenteil: Wir folgen den Pfaden derzeit populärer ökonomischer Theorien.

Identität

Die Menschen in Polen kennzeichnet eine eigentümliche Mischung aus imperialem Stolz und Komplexen der Randständigkeit. Der imperiale Stolz speist sich aus der Erinnerung an die Größe vergangener Jahrhunderte, als die Erste Polnische Republik (Rzeczpospolita Obojga Narodów), die polnisch-litauische Adelsrepublik vom 14. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, zu den europäischen Großmächten gehörte. Des Weiteren speist er sich aus der Erinnerung an den ungebrochenen patriotischen Geist einer Nation, die das gesamte 19. Jahrhundert hindurch keinen eigenen Staat besaß und dennoch in der Lage war, ein außergewöhnliches kulturelles und gesellschaftliches Gut zu schaffen. Verstärkend wirkt auf diesen Mythos auch das 20. Jahrhundert, in dem die Solidarność-Bewegung und das Pontifikat Johannes Pauls II. eine große Rolle spielten und in dem Polen sich gegen zwei Totalitarismen zur Wehr setzte.

Zugleich haben die Polen einen deutlich erkennbaren Komplex, weist doch jede dieser Epochen auch Schattenseiten auf. Die Erste Republik war schließlich ein Staat, den die Kurzsichtigkeit und der Egoismus seiner Eliten zu Fall brachten. Bis heute charakterisiert die polnische Bevölkerung ein Widerwille gegen das Establishment, ein leises Misstrauen ihren Eliten gegenüber – ein tief im kollektiven Gedächtnis bewahrtes Trauma des Niedergangs. Das 19. Jahrhundert hat in uns Polen das Gefühl hinterlassen, dass wir, auf das Abstellgleis der Geschichte geschoben, nicht ausreichend von den Früchten der Moderne zehren konnten. Seitdem hegen wir die Überzeugung, ein wirtschaftlicher Dualismus habe uns den Platz auf der schlechteren Seite der Elbe zugewiesen. Und deswegen versprechen uns die Politiker in den Wahlkämpfen der heutigen Zeit immer wieder, diesen Fatalismus durchbrechen und Polen endlich zu einem "neuen Japan" (Lech Wałęsa) oder "neuen Irland" (Donald Tusk) machen zu wollen. Doch irgendwo tief drinnen, seit den Zeiten der Arbeitsmigration der 1980er Jahre und der Pakete aus "dem Reich", die nach Milka-Schokolade und Jacobs-Kaffee dufteten, wollen wir in Wirklichkeit "zweite Deutsche" sein, auch wenn wir das nicht gerne zugeben. Letztendlich ist das 20. Jahrhundert auch die Epoche, die uns den Stempel von 45 Jahren Kommunismus aufgedrückt hat, mit all der ästhetischen Hässlichkeit und dem moralischen Verfall jener Zeit.

Viele Jahre lang dachte ich, wir Polen könnten gar nicht verstanden werden in unserer imperial-peripheren Komplexität. Es schien mir, als müsste es für unsere ausländischen Freunde verwunderlich sein, wenn wir von großer Offenheit und wortreichem Geschichtsstolz nahtlos zu Verletztheit und beleidigtem Rückzug übergehen, wegen irgendeiner "Taktlosigkeit", die unseren Stolz getroffen hat. Solche abrupten "Stimmungswechsel" habe ich sowohl in zahlreichen zwischenmenschlichen Situationen als auch bei internationalen Begegnungen auf höchster politischer Ebene beobachten können. Im Laufe der Zeit habe ich jedoch begriffen, dass jene imperial-periphere Komplexität eine Eigenschaft ist, die sämtlichen Nationen im heutigen Europa gemein ist. Die Spanier haben ihre "Generation 1898", also die Generation der Denker, deren einschneidendste Erfahrung das Trauma der spanischen Niederlage im Krieg gegen die USA und des Verlustes der spanischen Kolonien war. Der Verlust des Status eines imperialen Hegemonen betrifft auch die Portugiesen, die Holländer und vor allem die Briten, in deren Diskussionen um den "Brexit" noch immer die Nostalgie im Gedenken an die ehemalige Großmachtstellung mitschwang. Ähnlich war es bei der Entstehung des französischen Front National, über dessen derzeitige Popularität ich nur den Kopf schütteln kann und dessen Gründung eine Reaktion auf den verlorenen Algerienkrieg und den Verlust der letzten Kolonien gewesen ist. Seitdem ich in Thomas Manns "Doktor Faustus" die Geschichte Adrian Leverkühns gelesen habe, bin ich auch besser imstande, die Traurigkeit meiner deutschen Freunde bei unseren Diskussionen über die Vergangenheit nachzuvollziehen.

Das polnische Volk weist somit eine für das gesamte heutige Europa charakteristische Mischung von imperialem Stolz und Peripherie-Komplexen auf. Im von der Europäischen Kommission herausgegebenen "Weißbuch zur Zukunft Europas" von 2017 ist gleich auf den ersten Seiten eine Grafik zu sehen, aus der hervorgeht, dass im Jahr 1900 noch 25 Prozent der Weltbevölkerung in Europa lebten und es 2060 voraussichtlich nur noch vier Prozent sein werden. Auch wenn Demografie nicht alles ist, so ist diese Grafik doch ein Symbol für die abnehmende Bedeutung unseres Kontinents in der neuen Welt. Europa war einmal das Zentrum der Welt – heute muss es einen realen Kampf ausfechten, um darin überhaupt noch eine nennenswerte Rolle zu spielen.

Zusammenfassung

Ich hoffe, dass es mir mit der Überschreitung der "Grenzen meiner Sprache" gelungen ist, auch die "Grenzen meiner Welt" hinter mir zu lassen – einer überaus komplexen Welt, in der es nicht leicht ist, einfache Antworten zu finden. In solchen Situationen ist es angezeigt, sich so eng wie möglich an die Fakten zu halten. Und diese besagen, dass der wirtschaftliche Austausch zwischen Deutschland und Polen pro Jahr bereits 100 Milliarden Euro überschreitet. Nimmt man die anderen Länder der Visegrád-Gruppe hinzu, also die Tschechische Republik, die Slowakei und Ungarn, so zeigt sich, dass 2016 die Umsätze aus dem Handel zwischen Deutschland und Mitteleuropa 257 Milliarden Euro betrugen, die Umsätze aus dem Handel zwischen Deutschland und Frankreich hingegen nur 167 Milliarden Euro.

Und mehr noch, es gibt deutliche Übereinstimmungen bei den wirtschaftlichen Interessen unserer Länder. Im Vergleich zur globalen Konkurrenz haben deutsche Konzerne Probleme in Sachen Innovationskraft, außerdem mangelt es an qualifizierten Arbeitskräften. Indessen sind die Polen nach wie vor hungrig nach Erfolg, darüber hinaus haben wir eine hervorragende Generation von Managern und Ingenieuren, die sich in den vergangenen 25 Jahren die westliche Arbeitskultur angeeignet haben. Und wir haben eine stabile Regierung, die sich der internationalen Zusammenarbeit nicht verschließen will, aber dennoch für unsere heimische Wirtschaft einen höheren Rang in der "globalen Lieferkette" anstrebt. Um das zu erreichen, soll die institutionelle Handlungsfähigkeit des polnischen Staates gesteigert werden.

Auch werden wir nicht von zahlreichen inneren Spannungen verzehrt, wie sie die Situation in den Ländern der alten EU zunehmend destabilisieren. Alle Puzzleteilchen scheinen zusammenzupassen. Eine Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern ist für beide Seiten ein Gewinn. Der polnischen Seite ist jedoch daran gelegen, dass diese Zusammenarbeit auf Regeln basiert, die eine gerechte Verteilung von Risiken und Nutzen garantieren. Wir Polen wollen – sowohl in der Wirtschaft als auch in der Politik – nicht mehr nur Zuarbeiter sein, sondern echte Partner. Ist ein solches Angebot für die Deutschen annehmbar? Oder überlassen wir das Feld weiterhin unseren imperial-peripheren Dämonen aus der Vergangenheit?

Übersetzung aus dem Polnischen: Lisa Palmes, Berlin.

ist promovierter Politikwissenschaftler und Präsident des Thinktanks Klub Jagielloński in Krakau. Er ist zudem Mitglied des Nationalen Entwicklungsrates des polnischen Staatspräsidenten. E-Mail Link: kmazur@kj.org.pl