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Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in Deutschland und Europa zwischen neuer Mitte und neuem Populismus | Wirtschafts- und Sozialpolitik | bpb.de

Wirtschafts- und Sozialpolitik Editorial Die sozialpolitische Gegenreformation Internationaler Reformmonitor - Was können wir von anderen lernen? "Benchmarking Deutschland" - Wo stehen wir im internationalen Vergleich? Frauenerwerbstätigkeit im europäischen Vergleich Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in Deutschland und Europa zwischen neuer Mitte und neuem Populismus

Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in Deutschland und Europa zwischen neuer Mitte und neuem Populismus

Werner Schönig Heinz Theisen Heinz Werner / Theisen Schönig

/ 23 Minuten zu lesen

In Europa hat jüngst die Anzahl der Wählerwanderungen zugenommen: weg von der neuen Mitte und hin zu populistischen Parteien. Worin liegen die Gründe für diese Entwicklung?

I. Wo blieb die neue Mitte?

1. Trotz Erfolgs gescheitert

Angesichts ihrer vergleichsweise erfolgreichen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik kam die Abwahl der neuen politischen Mitte in Frankreich, den Niederlanden, Dänemark, Österreich und Italien überraschend. Sie erfolgte über Wählerwanderungen zu populistischen Parteien und brachte im Ergebnis meist die Kräfte der alten Mitte wieder an die Regierung. Nicht zuletzt durch ihre starke Fixierung auf die sozialökonomischen Aspekte in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik haben die Akteure der neuen Mitte die neuen transnationalen und interkulturellen Probleme übersehen, die von den Investitionsbedingungen bis zu Migration und Integration reichen. Die mit offeneren Grenzen verbundene Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und die Verunsicherungen, die aus mangelhafter Integration entstehen, sind von der neuen Mitte unterschätzt oder sogar tabuisiert worden.

Durch das fast demonstrative Desinteresse an Konzeptionen und Theorie hat besonders die neue Mitte in Deutschland den Eindruck von Zusammenhanglosigkeit und Beliebigkeit erzeugt. Das "Schröder-Blair"-Papier war in den Parteigliederungen in keiner Weise verankert und im Vorfeld diskutiert worden. Gerhard Schröder hat zwar eine Menge alter Illusionen zertrümmert, es aber selbst gegenüber Mandatsträgern der eigenen Partei versäumt, eine zeitgemäße und ernsthaft formulierte Kernbotschaft hinsichtlich gesellschaftlicher Gerechtigkeit, gemeinschaftserhaltender Selbstinitiative und sozial integrierter Individualität zu vermitteln.

Wenn das anspruchsvolle Sowohl-als-auch zum Weder-noch verkommt, demoralisiert dies gerade die eigenen Parteigänger. Der Wähler hegt ein Bedürfnis nach Konzeptionen und Visionen, also nach Theorie. Nach Ralf Dahrendorf geht es bei der Suche nach einer Theorie um die Erklärung, warum wir da sind, wo wir sind, und was geändert werden muss, wenn wir Besseres wollen. Eben dies habe der "Dritte Weg" nicht geleistet. Wirtschaftswachstum mit einem Schuss sozialer Solidarität sei noch keine Theorie.

Weltanschauungslosigkeit ist keine auf Dauer tragfähige Antwort, sondern nur ein Gegenextrem zum ideologischen Zeitalter. Da es keine Wahrnehmung und Beobachtung ohne ein theoretisches Vorverständnis geben kann, wird das weltanschauliche Vakuum - so oder so - gefüllt, und es wird höchste Zeit, dass sich alte und neue politische Mitte dieser geistigen Herausforderung offensiv stellen. Es reicht nicht, sich nur durch Abgrenzung zu altlinken und altrechten Positionen zu definieren, weil man dabei schon bald selbst "alt aussieht". Sofern sich die politische Mitte nicht im Anspruch auf Originalität untereinander zerreibt, könnte sie sich aber durchaus auf tragfähige Traditionen und Theoriebestände berufen, die gerade ihre Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in einen verständlicheren Zusammenhang stellen würde.

2. Zur Tradition der politischen Mitte

Bis kurz vor seinem Ende war das 20. Jahrhundert ein Zeitalter der Extreme. Seine besseren Epochen verdankte es jenen vermittelnden und gemischten Programmen, die den öffentlichen und privaten Bereich, Staat und Markt je nach Gelegenheit miteinander verbanden. Wenn gleichwohl die alten Dichotomien von links und rechts noch bis in die neunziger Jahre im politischen Streit bemüht wurden, so lag dies eher an machttaktischen Unterscheidungsbedürfnissen der Parteien. Spätestens bei erfolgter Regierungsbeteiligung rückten sie dann doch in die Mitte, weil sich die Kooperationsforderungen nicht mehr von den Einseitigkeiten der sich gegenseitig ausschließenden Richtungsideologien erbringen lassen.

Die politische Mitte könnte vor allem das Erfolgskonzept der "Sozialen Marktwirtschaft" auf die politische Theorie übertragen, indem sie Gedanken aus ihrer Einseitigkeit befreit und in einen ergänzenden Zusammenhang stellt. Dem komplementären Sowohl-als-auch der Sozialen Marktwirtschaft war es damit immerhin gelungen, die klassenkämpferische Polarisierung von Kapital und Arbeit zugunsten konsensorientierter Sozialpartnerschaften zurücktreten zu lassen.

Alfred Müller-Armack, ein Berater Ludwig Erhards, hatte für seine Wirtschaftstheorie der Mitte aus den herkömmlichen Sichtweisen das jeweils Beste herausgenommen und es in eine kooperative Beziehung zu konkurrierenden Ideen gesetzt: Soziale Marktwirtschaft übernimmt vom Sozialismus die Betonung des Sozialen und die Würde der Arbeit, vom klassischen Liberalismus die Freiheit des Individuums und die Koordination dezentraler Entscheidungen durch den Markt, von der katholischen Soziallehre die Unantastbarkeit der Person, die Subsidiarität und die Gemeinwohlpflichtigkeit des Eigentums, von der Evangelischen Sozialethik das Berufsethos und die Sparsamkeit.

Die vermeintlichen Gegensätze sollten nicht mittels einer utopischen Dialektik aufgehoben, sondern in spannungsreicher Kooperation ergänzt werden. Die Originalität der Sozialen Marktwirtschaft liegt nicht in einer spezifischen Idee, sondern in der wechselseitigen Ergänzung von zuvor als unvereinbar angesehenen Ideen. Statt sozialer Konflikte werden Konsens und Kooperation zu den vorherrschenden Gestaltungsformen der wirtschaftlichen und sozialen Sphären. Sofern - wie zwischen den Volksparteien - Übereinstimmung über die Idee der Sozialen Marktwirtschaft herrscht, rücken darüber auch die politischen Parteien enger in der Mitte zusammen.

Spätestens nach den Verheerungen des extremen Pendelausschlags von der zentral gelenkten Staatswirtschaft zum anarchischen Frühkapitalismus in Osteuropa sollte klar sein, dass die "unsichtbare Hand" des Marktes und die "sichtbare Hand" des Staates zwei Seiten derselben Medaille sind. Der Weg der Mitte muss immer von neuem die Balance zwischen Gemeinwohl und Privatinteressen, zwischen Staat und Markt suchen. Aufgrund der "ungeselligen Geselligkeit" (Immanuel Kant) des Menschen kann es hier keinen Sieger geben. Die "missgünstig wetteifernde Eitelkeit des Menschen" erfüllt sich erst in der Anerkennung durch andere. Statt um Konkurrenz oder Kooperation, Flexibilität oder Solidarität geht es um neue Synthesen, die sich z. B. in den Schlagworten coopetition und flexicurity andeuten.

Die politische Mitte wurde in Deutschland zunächst von der CDU besetzt. Nachdem sich die SPD von der Arbeiter- zur Volkspartei entwickelt hatte, konnte die spätere sozialliberale Koalition ebenfalls die Mitte für sich in Anspruch nehmen. Sie wollte den Gegensatz zwischen Arbeiterbewegung und Bürgertum aufheben. Dieser Aufbruch in die erste neue Mitte stand allerdings noch gänzlich im Zeichen der Leitbilder des Produktivismus, des Fortschritts und der Emanzipation. Wertkonservative Elemente blieben dabei ausgeklammert. Diese Lücke wurde zunächst durch die Ökologiebewegung und wird heute zunehmend durch Rufe nach Moral und Ethik im privaten wie im öffentlichen Leben zu füllen versucht.

Nicht zuletzt aufgrund der Aufarbeitung der wertkonservativen Defizite durch die Umweltbewegung und den Kommunitarismus gelangten in den neunziger Jahren zunächst die "Neuen Demokraten" in den USA und schließlich New Labour in Großbritannien an die Macht. Die Abwahl der Neuen Demokraten in den USA trotz einer überaus erfolgreichen Wirtschaftspolitik verweist aber auf ein Defizit, welches gerade in Zeiten der Prosperität an Bedeutung gewinnt. Der so genannte "Kulturkampf" in den USA zwischen Liberalen und Wertkonservativen spiegelte sich auch in der Mitte wider, in der George W. Bush die moralischen Beliebigkeiten seines Vorgängers in seinem Sinne zu nutzen verstand. Mit seinem "mitfühlenden Konservatismus" konnten die Republikaner in ähnlicher Weise in der Mitte eingependelt werden, wie die neuen Sozialdemokraten dies zuvor mit der Befürwortung des Wettbewerbs vermocht hatten.

II. Leitbilder der politischen Mitte

1. Sozialrechte und Sozialpflichten

Die Herausforderungen der Flexicurity, in der die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes mit sozialer Sicherheit zusammengefügt werden soll, stehen den Aufgaben der alten sozialen Marktwirtschaft nicht nach. Das grundlegende Leitbild hierfür ist ein größeres Gleichgewicht von Sozialrechten und Sozialpflichten. Während die frühere "Linke" die sozialen Rechte der Schwachen in den Mittelpunkt gestellt hatte, insistierte die "Rechte" auf Eigenverantwortung und auf Pflichten - auch der Schwachen. Die neue Mitte setzte beide Perspektiven in ein komplementäres Verhältnis, indem sie Rechte mit Pflichten, Fördern mit Forderungen an die Leistungsbezieher verbinden will.

Das Bestreben, aus der Hängematte ein Trampolin machen zu wollen, ist zwar nicht für alle neu. Im Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre galt "Hilfe zur Selbsthilfe" von jeher als entscheidend. Dieses Leitbild ist in den Konzepten zur "positiven Wohlfahrt" unschwer wieder zu erkennen. Sie legt den Akzent viel stärker als der Sozialstaat darauf, die Menschen positiv zu befähigen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.

Das Gleichgewicht von Sozialrechten und Sozialpflichten wurde insbesondere zum Leitmotiv von New Labour, deren Anhänger sowohl den sozialen Individualismus des Do-your-own-thing des alten Sozialstaats als auch den radikalen Individualismus des Get-what-you-can der Neoliberalen überwinden wollen. Die Voraussetzungen von ökonomischer Dynamik und sozialer Integration sollen durch Anstrengungen in Bildung und Erziehung verbessert werden, ein Gedanke, der mittlerweile gerade im Hinblick auf die Wettbewerbs- und Kooperationszwänge der Globalisierung Allgemeingut geworden ist.

Die Suche nach dem neuen Gleichgewicht kann bei nahezu allen Politikbereichen ansetzen. Im Kern geht es immer darum, unterschiedliche Aufgaben nicht auf die Gegensätzlichkeiten linker und rechter Exklusivitäten, sondern auf ihre Ergänzungspotenziale hin zu befragen, so z. B.

- in der Sozialpolitik auf Hilfe und Selbsthilfe;

- in der Arbeitsmarktpolitik auf Flexibilität und soziale Sicherheit;

- in der Bildungspolitik auf Fördern und Fordern sowie auf die Gleichrangigkeit von berufsspezifischer Ausbildung mit reflexiver Bildung;

- in der Industriepolitik auf Subventionen als Hilfe zur Innovation;

- in der Ausländerpolitik auf das Recht auf Integration und die Pflicht zur Integration;

- in der Inneren Sicherheit auf soziale Prävention und polizeiliche Repression;

- in der Entwicklungspolitik auf Hilfe der Geberländer und "Good Governance" auf Seiten der Empfängerländer;

- in der Familienpolitik auf Erziehungsleistungen und öffentliche Transferleistungen;

- in der Globalisierung auf Wettbewerb und Kooperation;

- in der Haushaltspolitik auf Sparen in konsumtiven und Investitionen in innovativen Bereichen.

2. Gleichgewicht und Nachhaltigkeit

Diese Konzeptionen könnte man durchaus zu einer Theorie der politischen Mitte verdichten. "Jenseits von links und rechts" sollen die herkömmlichen Polaritäten zwischen Individuum und Gemeinschaft, Unabhängigkeit und Verantwortung, Modernität und Gerechtigkeit in ein neues Verhältnis gesetzt werden. Wie bei der sozialen Marktwirtschaft geht es nicht gleich um eine höhere Entwicklungsstufe, sondern um die Ergänzung von Gegensätzen. Illusionäre Fortschrittshoffnungen werden genauso abgelehnt wie der mit bloßem Produktivismus verbundene Neoliberalismus. Die eher schlichten Kernfragen lauten: Welche lebenswichtigen Bereiche sollen in der Welt des radikalen Wandels und der permanenten Veränderung erhalten werden? Welche Ethik ist für uns alle angesichts des Endes von Natur und Tradition eigentlich maßgeblich?

Im Leitbild Nachhaltigkeit trifft sich der "philosophische Konservatismus" mit den Forderungen nach "Generationengerechtigkeit", die sich u. a. in ökologischer, fiskalischer und sozialpolitischer Hinsicht stellen. Diese parteiübergreifenden Themen sind gerade deshalb Aufgaben für die politische Mitte, weil es hier - jedenfalls langfristig - kaum gegensätzliche Interessen geben kann. Unterschiedliche Symptome wie die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, die Überschuldung der öffentlichen Haushalte, die Standortprobleme der Wirtschaft und die Überalterung unserer Gesellschaft haben eine gemeinsame Ursache: die jahrzehntelange Vernachlässigung langfristiger Notwendigkeiten zugunsten kurzfristiger Bedürfnisse. Dieses Leben auf Kosten der Zukunft hat durch das Steigen der Zinsesdienste und Sozialversicherungsbeiträge zunehmend die Verteilungskonflikte der Gegenwart erreicht. Die Korrektur des Missverhältnisses zwischen den Bedürfnissen der Gegenwart und den Notwendigkeiten der Zukunft stellt nicht nur hohe intellektuelle, sondern auch hohe moralische Forderungen, die meist von den Rändern initiiert, aber in der Mitte der Gesellschaft durchgesetzt werden müssen.

3. Konsens und Kooperation

Konsens und Kooperation dienen in korporativen Gesellschaften allzu oft dem Klüngel und der gemeinsamen Vorteilsnahme auf Kosten Dritter, insbesondere der zukünftigen Generationen und der Outsider auf dem Arbeitsmarkt. Konflikt und Konkurrenz sind aber keine Alternative, sondern nur eine Ergänzung dieses wenig zukunftsfähigen Verhaltens, weil es auch hierbei in aller Regel um die größtmögliche Teilhabe am Ressourcenverzehr geht. " ‘Konsens und Kooperation‘ als zentrale Merkmale einer Politik der neuen Mitte" (Gerhard Schröder) sind nur dann zukunftsfähig, wenn eine Brücke von den Gegenwartsinteressen zu den Notwendigkeiten der Zukunft geschlagen wird. Eine zukunftsfähige Politik erfordert daher eine andere Form der Willensbildung als die vom Austausch von Halbwahrheiten erfüllte politische Streitkultur von einst, welche sich primär im Modus des "Eine-Hand-wäscht-die-andere" zu einigen verstand.

Zu den Einsichten der politischen Mitte gehört der Abschied von der herkömmlichen Annahme, dass Fortschritte nur aus Kampf und Konflikt hervorgehen können. In der viel beschworenen Streitkultur der Demokraten ist das notwendige gemeinsame Lernen gerade nicht zu erwarten. Im Konflikt zählt der Sieg und nicht das wechselseitige Voneinander-Lernen.

Der rot-grünen neuen Mitte ist es nicht gelungen, einen kooperativen Korporatismus im Sinne der Philosophie von Julian Nida-Rümelin bzw. der Konsenspolitik des Bundeskanzleramtschefs Frank-Walter Steinmeier zwischen den Tarifpartnern und der Regierung zur Flexibilisierung und Belebung des Arbeitsmarktes und zum Umbau des Sozialsystems in die Wege zu leiten. Weder die Eliten der gesellschaftlichen Teilsysteme noch große Teile der Bevölkerung ließen sich in die Pflicht nehmen. Der Versuch, das so genannte Holländische Modell zu einem "kooperativen Korporatismus" weiterzuentwickeln, scheiterte bereits, als die ersten geforderten Opfer bei den Landtagswahlen zu massiven Wählerabwanderungen gerade bei den konzeptionell unvorbereiteten Stammwählern führten. Die spätere Rückkehr zur traditionellen Interessenpolitik des gewerkschaftlichen Milieus erscheint als Flucht zurück in einen allzu engen Binnenkonsens, der einer weiteren Kooperation im Wege steht.

Schließlich verfing sich die neue Mitte in der Politikverflechtungsfalle, die durch den Bundesrat verursacht wird und in der sich schon Kohl zum Ende seiner Amtszeit verfangen hatte. Eine neue Mitte kann in Deutschland nicht gegen eine alte Mitte erfolgreich regieren. Der nahe liegende Ausweg einer Großen Koalition zur Reform eben dieser Politikverflechtungsfalle wird dennoch von beiden Seiten nicht erwogen.

III. Der "Schatten der Zukunft" über der Sozialstaatsreform

1. Deregulierung und Chancengleichheit

Ansatz des Konsensmodells zum Abbau struktureller Arbeitslosigkeit ist die Überwindung von Verfestigungstendenzen am Arbeitsmarkt. Sie wiederum besteht in einer kombinierten Strategie aus Schwächung der Insider einerseits und Stärkung der Outsider andererseits.

Die Schwächung der Insider erfolgt in der Regel durch einen Abbau des Regulierungsumfangs auf dem Arbeitsmarkt, d. h. mittels des Abbaus von Arbeitsschutzgesetzen, von Lohnersatzleistungen, der Schwächung der Tarifparteien sowie der Zulassung eines Niedriglohnsektors. Jedoch sind die ausschließliche Verminderung der Insidermacht und die Hoffnung auf eine Niedriglohnstrategie nicht unproblematisch und werden daher in den Hochlohnländern als zu eindimensional kritisiert.

Notwendig ist daher auch die Stärkung der Outsider als komplementärer Ansatz. Die Position der arbeitslosen Outsider wird durch Verbesserung der allgemeinen Investitionsbedingungen und durch aktive Arbeitsmarktpolitik (verstärkte Vermittlungsbemühungen, Fortbildungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen) gestärkt.

Hinsichtlich der Chancengleichheit ist bedeutsam, dass in modernen Gesellschaften der Gerechtigkeitsbegriff zunehmend dynamisch interpretiert zu werden scheint, was eine normative Flankierung des oben skizzierten Kurses zur Bekämpfung struktureller Arbeitslosigkeit gewährleistet. Die Diskussion um Ergebnisgerechtigkeit wird durch jene um Verfahrensgerechtigkeit und die Brückenfunktion der Sozialpolitik verdrängt. Damit liegt der Akzent der Verteilungsdiskussion auf Fragen der Faktorausstattung, der Bildungspolitik und der Chancengleichheit im Wettbewerb. Angesichts des beschleunigten Strukturwandels wird die Bildungspolitik zum Hoffnungsträger für soziale Gerechtigkeit, Wirtschaftswachstum und sogar für zivilgesellschaftliche Demokratie.

Gestützt wird die Vermutung einer Betonung der Verfahrensgerechtigkeit durch empirische Untersuchungen zur Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates. Sie belegen zunächst eine große und stabile allgemeine Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates. Differenziert nach sozialpolitischen Zielen zeigt sich jedoch, dass extrem hohe Akzeptanzwerte dem Ziel sozialer Sicherheit (für "offensichtlich" Bedürftige) zuzuordnen sind, während soziale Gleichheit (sprich: Ergebnisgerechtigkeit) deutlich niedriger und je nach sozialer Schicht unterschiedlich bewertet wird. Das Ziel der Chancengleichheit und Fairness im Wettbewerb erfreut sich einer hohen Akzeptanz. Daher können Reformen des Sozialstaats in Richtung einer Kombination aus Sanktion und Förderangeboten dessen Akzeptanzwerte deutlich verbessern.

Wenn nun in modernen Gesellschaften ein dynamischer Gerechtigkeitsbegriff an Bedeutung gewinnt, so geht damit eine Betonung der Gestaltung von Übergängen, die mehr biografische Selbstverantwortung und Handlungsfähigkeit fördert, sowie ein geringeres Ausmaß an Ergebnissteuerung einher. Mit der Idee der natürlichen Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen rücken Chancengleichheit und Prozessregelungen in das Zentrum der Gerechtigkeitsproblematik, wie sie in der neueren Literatur durch eine Vielzahl von Sozialphilosophen beschrieben worden ist.

2. Maßnahmenbündel: Flexicurity und Übergangsarbeitsmärkte

Die Wirkungsmächtigkeit der beiden oben genannten Bausteine des Entwicklungstrends lässt sich in der Umsetzung von Maßnahmenbündeln erkennen. Für die Verbindung von Flexibilität und Sicherheit hat man in der niederländischen und dänischen Diskussion den Begriff der Flexicurity und Employability geprägt, der auch von der OECD und der EU-Kommission übernommen worden ist. Gleichwohl ist der Begriff der Flexicurity noch weit davon entfernt, ein geschlossenes Reformkonzept vollständig zu beschreiben. Bei Betrachtung einzelner Themen- und Handlungsfelder konkretisiert sich Flexicurity darin, dass erstens den einzelnen Beschäftigten betriebliche oder tarifvertragliche Arbeitszeitoptionen eingeräumt werden, deren Inanspruchnahme durch einen unverminderten Umfang sozialer Sicherung (Teilzeitarbeit) oder durch die Inanspruchnahme von Bildungsangeboten (Freistellung) flankiert wird. Hinzu kommen zweitens vielfältige Varianten von Lohnsubventionen, d. h. eines gleitenden Transfers zur Aufstockung des Markteinkommens aus gering entlohnter Beschäftigung. Man versucht also, mit einer Politik der Flexicurity jene zunehmende Segmentierung des Arbeitsmarktes politisch abzufedern, die ohne weitere staatliche Flankierung als Folge der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zu erwarten wäre.

Das Konzept der Übergangsarbeitsmärkte ist eine spezifisch deutsche Variante der Flexicurity. Es wird versucht, fließende Übergänge zwischen Phasen der Beschäftigung und der Nicht-Beschäftigung zu schaffen, wobei diese Übergänge in beide Richtungen durchlässig und die Entscheidungen entsprechend reversibel sein sollten. Im Einzelnen unterscheidet Günther Schmid fünf Beschäftigungsbrücken, die teils innerhalb der Erwerbsarbeit, teils aber auch zwischen Erwerbsarbeit einerseits und Bildung, Arbeitslosigkeit und Ruhestand andererseits positioniert sein sollen. Ziel ist es dann, durch institutionelle Arrangements diese Übergänge auch faktisch (materiell attraktiv) zu ermöglichen und damit letztlich eine "flexible Beschäftigungssicherheit" zu realisieren. Maßnahmenbündel umfassen sowohl die bekannten Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik (insbesondere Fortbildung und Umschulung sowie Lohnsubventionen) als auch Optionen zum Wechsel zwischen Vollzeit- und Teilzeittätigkeit sowie damit eng verknüpfte Konzepte einer Grundsicherung.

Den Konzepten der Flexicurity und der Übergangsarbeitsmärkte ist gemein, dass soziale Sicherheit weniger über einen Bestandsschutz der Insider und eine Alimentierung der Outsider gewährt wird, sondern eher über erleichterte Zugangs- und Übergangsbedingungen der Outsider. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Erhaltung und Erneuerung des Humankapitals, flankiert von Maßnahmen zur Förderung (Absicherung) von Teilzeit- und anderen Formen atypischer Beschäftigung.

3. Konvergenz zu einem neuen dritten Weg?

Wenn es zutrifft, dass sich in den Leitbildern und dem Maßnahmenbündel der neuen Mitte die beschriebenen Gemeinsamkeiten feststellen lassen, so liegt der Gedanke nahe, aus diesen Bausteinen die Grundzüge eines Reformtrends zu konstruieren. Zwar ist nicht zu vernachlässigen, dass die vergleichende empirische Sozialsystemforschung ein sehr differenziertes Bild der nationalen Reformen zeichnet. Gleichwohl ist der Versuch reizvoll, hinter der Vielfalt der Einzelreformen einen gemeinsamen Trend freizulegen.

Analytisches Raster der Überlegungen ist die Typologie der "drei Welten" von Wohlfahrtsstaaten durch Gosta Esping-Andersen, die - in ihren Stärken und Schwächen - der weiteren Forschung wesentliche Impulse gegeben hat. Überträgt man die obige Beobachtung in die Terminologie und Typologie Esping-Andersens, so bedeutet die konstatierte Entwicklung, dass die De-Kommodifizierung (unter dem Aspekt der Deregulierung des Arbeitsmarktes) zukünftig tendenziell an Bedeutung verliert, während die De-Stratifizierung (unter dem Aspekt der Förderung von Bildungs- und Zugangschancen) an Bedeutung gewinnen wird. Sowohl der aktuelle Status quo als auch die Reformperspektiven zeigen, dass kein europäisches Land heute noch seinen "reinen" Sicherungstyp verkörpert und das in der Tat Anzeichen einer Konvergenz zu erkennen sind.

- Die skandinavischen Länder ("sozialdemokratische Sozialordnung") haben ihre traditionelle Lohnpolitik aufgegeben und schmerzhafte Einschnitte in die soziale Sicherung vorgenommen. Zudem hat das Steuer- und Transfersystem an Umverteilungskapazität eingebüßt. Zu beobachten ist daher eine Zunahme der Einkommensspreizung. Gleichzeitig jedoch wurden die großen Anstrengungen in der Bildungs- und Qualifikationspolitik fortgesetzt und ausgebaut (und dies wiederum wurde erst im Zuge der PISA-Diskussion in Deutschland verstärkt beachtet). Berücksichtigt man zudem, dass Dänemark und Schweden beitragsfinanzierte Sozialversicherungen eingeführt haben, so ist die Umverteilungsintensität dieser Systeme tendenziell eher zurückgegangen.

- Von den Ländern der "konservativ-korporatistischen Sozialordnung" haben die Niederlande ihre korporatistische Tradition zur Umsetzung von Arbeitsmarktreformen genutzt, und auch in Deutschland und Österreich ist seit den achtziger Jahren ein Trend zur Deregulierung auf dem Arbeitsmarkt und zu einem Abbau von Sicherungsstandards unverkennbar. Neben der Reduktion des beitragsfinanzierten Sozialversicherungssystems sind die Einführung gleitender Transfers sowie zusätzliche Bildungsanstrengungen zu beobachten. Hinzu tritt eine Verbesserung der Infrastruktur für Kinderbetreuung. Die Niederlande und die Schweiz haben hybride Systeme der Alterssicherung eingeführt, die eine universelle Grundsicherung durch (weniger verteilungswirksame) betriebliche und private Vorsorge aufstocken.

- Großbritannien und Irland ("liberale Sozialordnung") haben ihren weitgehend deregulierten Arbeitsmarkt und den hohen Druck zur Arbeitsaufnahme beibehalten, akzentuieren jedoch stärker die Bildungspolitik und Qualifikationsmaßnahmen. Die Konzeption von New Labour definiert soziale Gerechtigkeit als Verhinderung gesellschaftlicher Marginalisierung mittels Akzentuierung von employability, welfare to work und generell aktiver Arbeitsmarktpolitik. Auch wenn diesbezüglich vieles noch programmatischen Charaker hat, so ist doch unverkennbar, dass beide Staaten sowohl im Schulsystem als auch in der beruflichen Bildung sowie im Hochschulbereich einen Schwerpunkt ihrer Reformbemühungen setzen.

Die Lage der idealtypischen Sozialordnungen sowie der dominierende Reformtrend werden in Abbildung 1 (s. PDF-Version) veranschaulicht. Sie illustriert, dass sich jede der drei ursprünglichen Sozialordnungen reformiert, da keine als solche unverändert das Ziel der tendenziellen Reformbemühungen ist. Dabei ist der Weg der einzelnen Sozialordnungen zum vermuteten Trendpunkt hin unterschiedlich lang. Übersetzt heißt dies, dass die konservativ-korporatistische Sozialordnung (und damit auch Deutschland) vor größeren Reformen steht als sowohl die sozialdemokratische wie auch die liberale Sozialordnung.

Das empirische Bild einer qualitativen Veränderung der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik wird noch deutlicher, wenn man die Entwicklung der Sozialleistungsquoten berücksichtigt (vgl. Abbildung 2; PDF-Version). Es zeigt sich hierbei, dass die Sozialstaatsreformen in Europa wie auch im Durchschnitt der OECD-Länder nicht zu einem langfristigen Absinken der Sozialleistungsquote geführt haben. Stattdessen sind die Reformen vor allem durch qualitative Verschiebungen im Sozialbudget gekennzeichnet.

Der zeitliche Verlauf der Sozialleistungsquoten zeigt zunächst einen bemerkenswerten Gleichlauf, der die antizyklische Entwicklung der Sozialleistungsquoten im Konjunkturverlauf spiegelt. Je weiter die nationalen Konjunkturzyklen synchronisiert sind, umso stärker ist dieser konjunkturelle Effekt zu beobachten.

Interessanter sind indes die strukturellen Aspekte der nationalen Sozialbudgets, die traditionell eine Rangfolge der Sozialleistungsquoten z. B. zwischen den Niederlanden, Deutschland und Großbritannien anzeigen. An dieser Rangfolge hat sich in den letzten 20 Jahren nur wenig geändert, was auf eine Konstanz der nationalen Präferenz für Institutionen der sozialen Sicherung hindeutet. Insbesondere weisen die Niederlande und Dänemark eine im OECD-Vergleich überdurchschnittlich hohe Sozialleistungsquote auf, also eben jene Länder, deren beschäftigungspolitischer Erfolg unverkennbar ist.

Wohin führt und was ist also der Weg der neuen Mitte? Die obigen Indizien deuten erstens an, dass ein gemeinsamer Trend aus den Reformen (und Reformplänen) der europäischen Sozial- und Arbeitsmarktpolitik herausgelesen werden kann. Hinzu kommt, dass dieser Trend über die letzte Dekade vergleichsweise stabil geblieben ist.

Gleichwohl kann der Endpunkt der Entwicklung empirisch nur grob bestimmt werden, da die Binnendifferenzierung der nationalen Reformansätze leicht eine undurchschaubare Vielfalt zeigt. Veranschaulicht werden sollte daher lediglich, dass der hohe Grad an ökonomischer Integration durch den europäischen Binnenmarkt keineswegs zu einem durchgängigen Abbau (race to the bottom) staatlicher Sozialpolitik und nationaler Sozialstaatstraditionen geführt hat. Es gibt offenbar nach wie vor Raum für sozialpolitische Gestaltungsoptionen.

Empirische Untersuchungen weisen auf strukturelle Ursachen der stabilen Sozialleistungsquoten hin. Diese liegen in einer positiven Korrelation zwischen dem nationalen Niveau der sozialen Sicherung und dem Grad der Außenwirtschaftsorientierung einer Volkswirtschaft, dem Grad der Deindustrialisierung sowie - zukünftig verstärkt - in der demographischen Alterung. Hinzu kommt, dass es in einer offenen Gesellschaft ohne Systemkonkurrenz nicht eine, sondern eine Vielzahl ihrer Varianten gibt. Bei Binnendifferenzierung nationaler Besonderheiten werden sich daher im Detail auch zukünftig verschiedene Typen von Sozialordnungen feststellen lassen.

Der vermutete Trend und Endpunkt pfadabhängiger Entwicklung bedeutet somit keinen konzeptionell "großen Wurf", obgleich neueren Vorschlägen wie z. B. dem Terminus einer "anpassungsflexiblen Sozialen Marktwirtschaft" (Lothar Funk) in der Beschreibung der Entwicklung ein beachtlicher heuristischer Wert zuerkannt werden kann. Wichtiger als die Terminologie erscheint indes die inhaltliche Perspektive, dass durch die international praktizierte Vorgehensweise inkrementaler Reformen eine gewisse Universalisierung in der Anwendung bestimmter Prinzipien und Methoden zu erwarten ist.

IV. Perspektiven

1. Gleichgewicht und Wertkonservatismus

Angesichts der Komplexität der heutigen Verhältnisse gibt es keine Alternative zu einer Politik der Mitte, d. h. der Kooperation zwischen Staat und den ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilsystemen und zwischen den maßgeblichen internationalen Akteuren. Die alte Links-rechts-Achse von Verändern und Bewahren hat kaum noch Aussagekraft. Eine Rückkehr zu den Einseitigkeiten von linken und rechten Richtungsideologien würde nur in Scheinkonflikten und im Misserfolg enden.

Der spezifische Beitrag der neuen politischen Mitte zur Zukunftsfähigkeit liegt im Gleichgewicht unterschiedlicher Perspektiven, die bislang als gegensätzlich empfunden oder aufgebaut wurden. Von daher ist das Fehlen wertkonservativer Elemente und die mangelnde Zusammenarbeit mit der alten Mitte auf Dauer selbstzerstörerisch.

Die Protagonisten der neuen Mitte kommen aus dem Umkreis des alten Fortschrittsdenkens. Die sie kennzeichnende postmoderne Beliebigkeit scheint noch der Saisonideologie vom "Ende der Geschichte" der frühen neunziger Jahre verhaftet zu sein. Stattdessen erleben wir eine Rückkehr in die Geschichte bis hin zu archaisch anmutenden ethnischen Kämpfen, Kultur- und Religionskriegen, von Nationalismus und sozialem Populismus. Mit Visionen wie denen von einer multikulturellen Zivilgesellschaft wird man - nicht nur im Kosovo - solchen Verwerfungen kaum gerecht.

Die Zivilgesellschaft scheint es im Hinblick auf die notwendige "Wende zum Weniger" gar nicht zu geben. Wenn jedoch der Sozialstaat die einzige integrative Kraft der Gesellschaft bleibt, droht sein Umbau zu einer permanenten Zerreißprobe zu werden. Der weltanschauliche Verzicht auf die christlichen Ressourcen unserer Kultur und auf das bürgerliche Pflichtenethos bedeutet eine schwere Hypothek für die geforderten moralischen Anstrengungen. In den USA bildet die ausgeprägte Religiosität die Klammer zwischen liberalem Modernitätsstreben und kulturellem Moralismus. Durch den Mangel an Sinn für Moral und Religion bleibt der "philosophische Konservatismus" hohl, den Anthony Giddens für die neue Mitte in Anspruch nehmen wollte. Mit der Integration eines modernen Konservatismus würden keine Reformen verhindert, sondern eine unideologische, kompetente Verwirklichung von Veränderungen vorangetrieben, die geschichtlich notwendig sind.

2. Komplexität und Kooperation

Der Regierung Helmut Kohl war es zum Verhängnis geworden, dass ihr im Bundesrat eine Opposition mit Blockademacht gegenüberstand. Mit der Steuer- und Rentenreform setzte die neue Mitte in einer Schwächephase der CDU im Grunde jene Elemente durch, die sie zuvor blockiert hatte. Nach der von neuem gegebenen Blockademacht der CDU im Bundesrat zeigt sich das existentielle Problem der politischen Mitte in Deutschland wieder in voller Härte. Alte und neue Mitte liegen inhaltlich so dicht beieinander und sind durch die Strukturen der Willensbildung derart aufeinander angewiesen, dass ihre Konkurrenz einen beinahe kannibalischen Charakter annimmt. Reformstau und Politikblockade werden aber nicht dem Blockierer, sondern der Regierung angelastet.

Das Verhalten der Wähler scheint oft den alten Verdacht zu bestärken, dass das langfristig Notwendige gegenüber dem kurzfristig Wünschenswerten auf verlorenem Posten steht. Die Besitzstandswahrer spielen die beiden Volksparteien gegeneinander aus. Gerade wegen ihrer Ähnlichkeit stehen sich die um die Macht konkurrierenden Volksparteien zwischen Bundestag und Bundesrat im Wege. Solange sie um die politische Macht nur konkurrieren, statt sie gemeinsam, d. h. in einer Großen Koalition für einen "Kooperativen Korporatismus" zu nutzen, bringen sie statt Reform und Aufbruch nur Blockaden und Halbheiten zustande. Populistische Kräfte können sich dieses Politikversagen zunutze machen, indem sie mit einfachen Rezepten eine Lösung von Widersprüchen in Aussicht stellen, die nur durch die wechselseitige Ergänzung unterschiedlicher Perspektiven zu bewerkstelligen ist.

Angesichts der korporativen und bundesstaatlichen "Politikverflechtungsfallen" (Fritz W. Scharpf) könnte die neue Mitte nur mit Hilfe der alten Mitte einerseits gegen den sozialen Populismus des Besitzstandsdenkens und andererseits gegen die gemeinschaftsgefährdenden Auswüchse von Globalisierung und exzessivem Individualismus die Zukunft gestalten. Es wäre daher eine moralische Pflicht der neuen Mitte, die geistige und politische Koalition mit der alten Mitte zu suchen - für die natürlich das Gleiche umgekehrt gilt.

V. Fazit

Die Analyse von Leitbildern und Defiziten der neuen Mitte zeigt ein ambivalentes Bild. Ihr Anspruch ist denkbar hoch, versucht sie doch, durch eine "moderne" Politik gleichzeitig wirtschaftliche Effizienz und soziale Gerechtigkeit zu gewährleisten. Dieser "irenische" (Müller-Armack) Versöhnungsgedanke lag schon der Idee der Sozialen Marktwirtschaft zu Grunde und hat neuerdings in vielen OECD-Ländern eine enorme Popularisierung erfahren.

Ambivalent ist die Politik der neuen Mitte, da einerseits unverkennbar ist, dass als Reaktion auf die veränderten Rahmenbedingungen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik nicht mehr ausschließlich eine radikale Reduktion sozialpolitischer Standards diskutiert wird. Vielmehr hat sich in der Folge der programmatischen Diskussionen in den USA und Großbritannien eine grundsätzliche inhaltliche Perspektive eröffnet, die in den Staaten Europas intensiv diskutiert wird. Die Begriffe der Sozialrechte/Sozialpflichten, Gleichgewicht und Nachhaltigkeit, Kooperation, Chancengleichheit und Flexicurity umreißen die Grundzüge eines Reformmodells, das in der Tat der bundesdeutschen Politik den Weg in eine "anpassungsflexible soziale Marktwirtschaft" weisen könnte.

Andererseits steht jedoch ganz offenkundig die praktische Politik hinter den programmatischen Perspektiven zurück. Sei es, dass das Versprechen verstärkter Bildungsinvestitionen angesichts leerer öffentlicher Kassen weitgehend uneingelöst bleibt, sei es, dass in der praktischen Politik die neue Mitte den Eindruck von Beliebigkeit vermittelt. Man beruft sich auf Grundwerte(kommissionen) und kann durch Kombination von Grundwerten beliebige Maßnahmenbündel als grundwertekonform ausweisen. Man propagiert ein langfristiges Reformmodell und agiert doch wahltaktisch. Es ist kaum zu erwarten, dass die alte Mitte - der wertkonservative Kern der bundesdeutschen Wählerschaft - langfristig über diese beiden Defizite der neuen Mitte hinwegsehen wird. Angesichts der unsicheren Perspektiven des Reformmodells (in den USA und in einigen Ländern der EU) wäre es dringend notwendig, ihm eine solidere Basis durch Glaubwürdigkeit zu schaffen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ihre konzeptionelle Arbeit hatte sich weitgehend auf einen Buchbeitrag von Bodo Hombach beschränkt. Vgl. Bodo Hombach, Aufbruch. Die Politik der Neuen Mitte, München 1998.

  2. Vgl. Franz Walter, Welche "neue Mitte"?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. 8. 1999.

  3. Vgl. Ralf Dahrendorf, Theorie ist wichtiger als Tugend, in: Neue Zürcher Zeitung vom 2./3. 12. 2000.

  4. Vgl. Karsten Rudolph, 25 Jahre neue Mitte, in: Berliner Republik, (1999) 1, S. 34 ff.

  5. Julian Nida-Rümelin deutet die Demokratie als eine besondere Form der Kooperation. Diese Sicht stehe im Gegensatz zu einer verbreiteten Rhetorik, die in der so genannten "Selbstbestimmung des Volkes" die Essenz einer demokratischen Ordnung sieht. Die Idee einer Repräsentation des Volkswillens erschwere die Entwicklung lebensfähiger föderaler Strukturen unterhalb der nationalstaatlichen Ebenen und den Aufbau supranationaler demokratischer Institutionen. Demokratische Institutionen seien nur dauerhaft stabil, wenn sie von einem gemeinsamen Ethos der Kooperation getragen werden. Auch zwischen den institutionellen Strukturen und der zivilgesellschaftlichen Praxis sei das Ethos der Kooperation das Bindeglied.

  6. Die Politikverflechtungsfalle des bundesstaatlichen Systems und die durch die Globalisierung enorm gestiegenen Anforderungen an die Politik erzwinge - so Steinmeier - die Suche nach einem "innovativen Konsens", der an die Stelle des alten "Kungelkonsenses" des traditionellen Korporatismus treten sollte.

  7. Vgl. Lothar Funk/Eckard Knappe, Der Beitrag des Neukeynesianismus zur Erklärung der Arbeitslosigkeit in Europa, Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Tübingen 1996, S. 43 - 57.

  8. Letztere versucht gezielt, individuelle Einstellungshindernisse der Arbeitslosen zu überwinden. In diesem Kontext wurde die Empfehlung zu mehr aktiver Arbeitsmarktpolitik zu einer Standardempfehlung der Politikberatung in der OECD wie auch in der EU.

  9. Vgl. ausführlich: Werner Schönig, Rationale Sozialpolitik. Die Produktion von Sicherheit und Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften und ihre Implikationen für die ökonomische Theorie der Sozialpolitik, Berlin 2001, S. 177 ff.

  10. Vgl. Steffen Mau, Zwischen Moralität und Eigeninteresse. Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat in international vergleichender Perspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 34 - 35/98, S. 27 - 37; Carsten G. Ulrich, Die soziale Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates. Ergebnisse, Kritik und Perspektiven einer Forschungsrichtung, in: Soziale Welt, 51 (2000) 2, S. 131 - 152.

  11. So z. B. John Rawls (System von Verfahrensregeln), Michael Walzer (Reiterativer Universalismus), Karl Homann (Regelsystem), Niklas Luhmann (Legitimation durch Verfahren) und Jürgen Habermas (prozeduralistisches Rechtsparadigma).

  12. Vgl. Jürgen Zerche/Werner Schönig/David Klingenberger, Arbeitsmarktpolitik und -theorie. Lehrbuch zu empirischen, institutionellen und theoretischen Grundfragen der Arbeitsökonomik, München-Wien 2000, S. 174 - 178. Berndt Keller/Hartmut Seifert, Flexicurity - Das Konzept für mehr soziale Sicherheit flexibler Beschäftigung, in: WSI-Mitteilungen, 53 (2000) 5, S. 291 - 300.

  13. Vgl. Günther Schmid, Übergangsarbeitsmärkte im kooperativen Sozialstaat: Entwicklungstendenzen der Arbeitsmarktpolitik in Europa, in: Winfried Schmähl (Hrsg.), Wandel der Arbeitswelt - Folgerungen für die Sozialpolitik, Baden-Baden 1999, S. 123 - 150.

  14. Vgl. Gosta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990.

  15. De-Kommodifizierung meint, dem Faktor Arbeit den Warencharakter zu nehmen, sei es durch Regulierung des Arbeitsmarktes oder durch Lohnersatzleistungen im System der sozialen Sicherung. Je stärker das Ausmaß der De-Kommodifizierung, desto weniger ist der Bürger lediglich Produktionsfaktor und desto weniger steht er unter dem Verwertungszwang seiner Arbeitskraft.

  16. De-Stratifizierung beschreibt, inwieweit eine Sozialordnung in der Lage ist, soziale Schichten durchlässig zu machen. Das Ausmaß der De-Stratifizierung bemisst sich an den'Prinzipien der Transfergewährung (universelle Grundsicherung nach dem Bedarf versus Leistungen nach der Höhe gezahlter Beiträge), am Grad der Umverteilung durch das Steuer- und Transfersystem sowie an der Offenheit von Bildungszugängen.

  17. Vgl. Werner Schönig, Gibt es einen Reformtrend der Sozialordnungen in der EU? Skizze einer Typologie zur Diskussion um einen neuen dritten Weg, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik/Journal of Economics and Statistics 2001, 221 (2001) 4, S. 404 - 417.

  18. Vgl. Maurizio Ferrara/Martin Rhodes, Recasting European Welfare States: An Introduction, in: dies. (Anm. 17), S. 1 - 10.

  19. Vgl. u. a. Dani Rodrik, Has Globalization Gone to Far?, Washington D.C. 1997, S. 53; Torben Iversen, The Dynamics of Welfare State Expansion. Trade Openness, De-Industrialization, and Partisan Politics, in: Paul Pierson (Hrsg.), The New Politics of the Welfare State, Oxford u. a. 2001, S. 45-80; Werner Schönig, Wirtschaft und Soziales bei stark schrumpfender Bevölkerung, in: Die Krankenversicherung, 54 (Juli/August 2002), S. 233 - 237.

  20. Vgl. Lothar Funk, New Economy und die Politik des Modernen Dritten Weges, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B'16 - 17/2001, S. 24 - 31; Hans Jürgen Rösner, Soziale Sicherung im konzeptionellen Wandel - ein Rückblick auf grundlegende Gestaltungsprinzipien, in: Richard Hauser (Hrsg.), Alternative Konzeptionen der sozialen Sicherung, Berlin 1999, S. 11 - 83.

Dr. rer. pol., geb. 1966; Privatdozent für Sozialpolitik an der Universität zu Köln.

Anschrift: Forschungsinstitut für Sozialpolitik der Universität zu Köln, Klosterstraße 79b, 50931 Köln.
E-Mail: E-Mail Link: schoenig@wiso.uni-koeln.de

Veröffentlichung u.a.: (Hrsg. zus. mit R. L‘Hoest) Rationale Sozialpolitik - Die Produktion von Sicherheit und Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften und ihre Implikationen für die ökonomische Theorie der Sozialpolitik, Volkswirtschaftliche Schriften, Heft 517, Berlin 2001.

Dr. phil., geb. 1954; Professor für Politikwissenschaft einschl. Sozialpolitik an der Kath. Fachhochschule Nordrhein-Westfalen in Köln.

Anschrift: KFHNW, Wörthstr. 10, 50668 Köln.
E-Mail: E-Mail Link: h.theisen@kfhnw-koeln.de

Veröffentlichungen u.a.: (Hrsg. zus. mit P. Boskamp) Krisen und Chancen unserer Gesellschaft. Ein interdisziplinärer Überblick, Berlin 2002.