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Kampf der Narrative | Inseln | bpb.de

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Kampf der Narrative Inseln im Fokus geopolitischer Konflikte

Hendrik Schopmans

/ 16 Minuten zu lesen

Immer wieder streiten Küstenstaaten über den Souveränitätsstatus von Inseln – selbst, wenn es sich um unbewohnte Inseln handelt. Diesen Konflikten liegen unterschiedliche Interessen zugrunde.

Der Entdecker Charles Francis Hall befand sich auf einer Expedition zum Nordpol, als er 1871 eine karge Insel im Kennedy-Kanal zwischen Grönland und Kanada erblickte. Hätte Hall seinerzeit geahnt, welch skurriles Schauspiel sich eines Tages um den unbewohnten Felsen abspielen würde, hätte er ihm vielleicht mehr Beachtung geschenkt; so entschied er jedoch lediglich, die bis dato unkartierte Insel nach seinem Expeditionsführer, einem Inuk namens Hans Hendrik, zu benennen, und setzte seine Reise fort. Ein Jahrhundert lang geriet die Hans-Insel daraufhin in Vergessenheit – bis Kanada und Dänemark in den frühen 1970er Jahren beschlossen, den Verlauf der kanadisch-grönländischen Seegrenze auszuhandeln. Als man im Zuge der Verhandlungen auf Karten den winzigen Punkt mit der Bezeichnung Hans-Insel entdeckte, erklärten beide Seiten umgehend ihren Souveränitätsanspruch auf die gerade einmal 1,3 Quadratkilometer große Insel. Entsprechende Rechtfertigungen waren schnell gefunden: Laut Kanada hatte das Vereinigte Königreich die Insel gemeinsam mit seinen anderen arktischen Territorien 1880 an Kanada abgetreten. Dänemark hingegen erklärte, dass die Insel schon seit Jahrhunderten von grönländischen Inuit genutzt und von ihrem Namensgeber Hans Hendrik selbst entdeckt worden sei.

Da zum Abschluss der Verhandlungen 1973 keine Einigung über den Status der Hans-Insel erzielt werden konnte, verständigte man sich darauf, die Souveränitätsfrage zu einem späteren Zeitpunkt beizulegen. Doch das Interesse an der entlegenen Insel war entfacht und in den darauffolgenden Jahren wurde sie zu einem beliebten Anlaufpunkt dänischer und kanadischer Expeditionen. So auch 1984, als der dänische Minister für Grönland-Angelegenheiten, Tom Høyem, die Insel besuchte und neben der Nationalflagge eine Flasche dänischen Schnaps hinterließ. Aus Høyems eigentümlicher Geste entwickelte sich ein Ritual: Bei Besuchen der Insel nahmen Neuankömmlinge die vorhandene Flagge ab, hissten die eigene, und stellten eine Flasche kanadischen Whisky oder dänischen Aquavit für den nächsten Besucher dazu. Abgesehen von sporadischen diplomatischen Protesten ist der Territorialkonflikt bis heute friedlich verlaufen – und bleibt dennoch ungelöst.

Obgleich der Streit um die Hans-Insel in seiner Absurdität einzigartig sein mag, so ist er gleichzeitig repräsentativ für ein geopolitisches Phänomen, das sich in Meeresgebieten auf der ganzen Welt beobachten lässt: Staaten befinden sich zunehmend im Wettstreit um den Souveränitätsstatus von kleinen, oftmals unbewohnten Inseln. Wie Chinas Konflikt mit seinen Nachbarstaaten im Südchinesischen Meer, der Streit zwischen dem Vereinigten Königreich und Argentinien um die Falklandinseln im Südwestatlantik oder der iranisch-arabische Disput um drei Inseln im Persischen Golf zeigen, beschränken sich dabei jedoch nur wenige der Rivalen auf den höflichen Austausch von Fahnen und Schnapsflaschen. Stattdessen sind viele der Konflikte von militärischen Machtdemonstrationen, nationalistisch getränkten Kampfansagen und sogar gewaltsamen Auseinandersetzungen geprägt. Das hohe Eskalationspotenzial wirft zwei Fragen auf: Welche Interessen liegen den Territorialansprüchen zugrunde? Und warum zeigen sich Staaten selbst bei unbewohnten Felsgruppierungen bereit, militärische Konfrontationen zu riskieren?

Handelswege, Ressourcen und Territoriale Integrität

Obwohl die Ursprünge der Inselkonflikte durch den jeweiligen geografischen, historischen und politischen Kontext bedingt sind, lässt sich das generelle Interesse an Inseln anhand von drei Faktoren verallgemeinern: So können diese strategischen, wirtschaftlichen und emotionalen Wert haben. Zum einen sehen Küstenstaaten die günstige Lage mancher Inseln als Chance, wichtige Handelsrouten zu sichern und zu kontrollieren. Chinas jüngste Bemühungen, Außenposten auf umstrittenen Inselgruppen im Südchinesischen Meer auszubauen und militärisch aufzurüsten, werden in erster Linie der strategischen Bedeutung des Meeres zugeschrieben: Jedes Jahr werden Güter im Wert von über 5,3 Billionen US-Dollar – fast ein Drittel des globalen Handelsvolumens – entlang von Handelsrouten im Südchinesischen Meer geschifft.

Ein zweiter Anreiz für Staaten, Souveränitätsansprüche auf Inseln jenseits ihrer Küsten zu erheben, ergibt sich durch deren Status unter dem internationalen Seerechtsübereinkommen (SRÜ). Eines der ursprünglichen Ziele des 1982 unterzeichneten Vertrages war es, die Nutzungsrechte von Küstenstaaten klar zu definieren und somit die friedliche Schlichtung von Souveränitätskonflikten in den Weltmeeren zu ermöglichen. Doch rückblickend sind es ausgerechnet die im SRÜ festgelegten Bestimmungen für Inseln, die viele der heute bestehenden Konflikte zusätzlich anfachen. So legt Artikel 121 des Abkommens fest, dass Inseln Ausschließliche Wirtschaftszonen (AWZ) generieren können. Im Klartext heißt das: Wenn ein Staat Souveränität über eine Insel ausübt, werden ihm in einem Umkreis von bis zu 200 Seemeilen umfangreiche Nutzungsrechte für Fisch, Öl, Gas und andere Ressourcen in den umliegenden Gewässern gewährt. Zwar gilt dies laut SRÜ nur für Inseln, die menschliche Besiedlung und Wirtschaftsleben eigenständig aufrechterhalten können – doch in der Praxis hindert das viele Staaten nicht daran, auch in Gewässern rund um karge Felsgruppierungen wirtschaftliche Nutzungsrechte zu beanspruchen.

Darüber hinaus können auch ideelle Faktoren begründen, warum Staaten ihren Anspruch auf umstrittene Inseln mit Nachdruck verteidigen. So verweisen die Staaten in vielen Konflikten auf die bedeutsame Rolle einer Inselgruppe in der eigenen Nationalgeschichte. In solchen Fällen stehen nicht länger wirtschaftliche Nutzungsrechte oder strategische Interessen im Mittelpunkt des Souveränitätsstreits; vielmehr berührt der Konflikt sensible Fragen der nationalen Identität sowie der territorialen Integrität eines Staates.

Wie die folgenden drei Fallbeispiele aus verschiedenen Regionen der Welt veranschaulichen, lassen sich diese materiellen und ideellen Interessen in der Realität kaum voneinander trennen. Trotz unterschiedlicher Ursachen offenbaren sie eine ähnliche Dynamik: In allen Konflikten bedienen sich politische Akteure historischer Narrative, um ihren Souveränitätsanspruch öffentlich zu rechtfertigen – unabhängig davon, welche Interessen sie verfolgen. In der Folge entbrennt ein Kampf um die Deutungshoheit über die Geschichte der jeweiligen Insel, der durch das Aufgreifen und die Reproduktion nationalistischer Narrative in den Medien und der Bevölkerung zusätzlich angefacht wird. Dabei rückt der eigentlich rechtliche Kern des Streits angesichts aggressiver Rhetorik und symbolträchtiger Handlungen wie dem Errichten der Nationalflagge auf der Insel zunehmend in den Hintergrund.

Dieser in vielen Territorialkonflikten öffentlich ausgetragene Krieg der Worte und Symbole ist auch ein Erklärungsansatz für die zweite der oben genannten Leitfragen – warum selbst Konflikte um scheinbar unbedeutende Felsen ein so großes Eskalationspotenzial bergen. Denn ist ein nationalistisches Narrativ erst einmal als Rechtfertigung für den eigenen territorialen Anspruch angeführt worden, so müssen Politiker nicht nur gegenüber der anderen Konfliktpartei Entschlossenheit demonstrieren, sondern auch vor der eigenen Bevölkerung als unnachgiebige Verteidiger der territorialen Integrität der Nation auftreten. Im Falle eines plötzlichen Einlenkens nach anfänglicher Eskalationsrhetorik riskieren sie andernfalls, durch ihre zunehmend emotionalisierte Anhängerschaft abgestraft zu werden. So sehen sich Politiker gezwungen, von Zugeständnissen abzusehen und jeder Provokation der anderen Konfliktpartei mit Härte zu begegnen.

Senkaku/Diaoyu-Inseln

Der Konflikt um das Senkaku-Archipel im Ostchinesischen Meer, das in China die Bezeichnung Diaoyu trägt, rückte erstmals 2012 in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Damals kündigte Tokios Gouverneur Ishihara Shintaro an, drei der fünf Senkaku-Inseln aus dem Privatbesitz einer japanischen Familie erwerben zu wollen. China, das in den frühen 1970er Jahren ebenfalls Anspruch auf die Inselgruppe erhoben hatte, fasste die Kaufabsichten Ishiharas als Nationalisierungsversuch auf und protestierte prompt. Einer Gruppe Aktivisten aus Hongkong gelang es, zur Insel zu schwimmen und dort chinesische Fahnen zu schwenken. Als die japanische Regierung im September 2012 schließlich vermeldete, sich mit den Privatbesitzern auf einen Kaufpreis geeinigt zu haben, kippte die Stimmung in China: In mehreren Städten brachen Proteste aus, bei denen aufgebrachte Bürger japanische Geschäfte und Fabriken zerstörten. Obwohl die Inseln heute weiter unter japanischer Kontrolle bleiben, schürt China durch provokante Vorstöße chinesischer Schiffe und Flugzeuge in die Gewässer und den Luftraum um die Inseln immer wieder Ängste vor einer militärischen Konfrontation.

Die Anerkennung des Souveränitätsanspruchs ist vor allem aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten interessant: Die größte der Senkaku/Diaoyu-Inseln erfüllt die im SRÜ festgelegten Kriterien für eine eigene AWZ. Der Staat, der Souveränität ausübt, kann somit ausschließliche Nutzungsrechte für die umliegenden Gewässer beanspruchen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass der Disput um die Inseln erstmals in den frühen 1970er Jahren aufflammte, nachdem die Wirtschaftskommission für Asien und Fernost der Vereinten Nationen potenzielle Öl- und Gasvorkommen in der Umgebung der Insel entdeckt hatte.

Um ihren jeweiligen Anspruch zu verteidigen, bedienen sich Japan und China widersprüchlicher Narrative: Japan bestreitet, dass es überhaupt einen Souveränitätskonflikt gibt. Demnach habe das Japanische Kaiserreich die Inselgruppe 1895 als terra nullius – also staatsrechtlich herrenloses Gebiet – eingegliedert und anschließend bis 1945 ununterbrochen Kontrolle ausgeübt. Zwar sei die Verwaltung der Inseln nach Ende des Zweiten Weltkriegs zeitweise an die amerikanische Besatzungsmacht abgetreten, doch bereits 1972 wieder an Japan zurückgegeben worden. Beim Kauf der Inseln 2012 habe es sich demnach um eine rein staatsinterne Angelegenheit gehandelt. China hält dagegen, dass chinesische Seeleute die Diaoyu bereits zu Zeiten der Ming-Dynastie im 14. Jahrhundert entdeckt und sporadisch genutzt hätten. Japan habe die Inseln also nicht als terra nullius vorgefunden, sondern sich das umstrittene Gebiet im Zuge seiner imperialistischen Politik zum Ende des 19. Jahrhundert angeeignet. Laut China wurde die unrechtmäßige Übertragung der Inseln an Japan 1895 durch den Vertrag von Shimonoseki besiegelt, dessen Bedingungen die Kolonialmacht einem geschwächten China nach dem Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg aufgezwungen habe.

Auch wenn Japans Anspruch aus völkerrechtlicher Sicht legitimer scheint – China kann nicht nachweisen, jemals Kontrolle über die Inseln ausgeübt zu haben – ist dessen Anerkennung durch China unwahrscheinlich. Denn dort haben die umstrittenen Inseln längst Symbolcharakter gewonnen und sich zu einem Sinnbild der Demütigungen durch die japanische Kolonialmacht entwickelt – ein Narrativ, das Medien und Politik gleichermaßen reproduzieren. Beim Kauf der Inseln durch die japanische Regierung sprach das chinesische Außenministerium zum Beispiel von der "Besetzung chinesischen Territoriums" und drohte, dass "die Tage, in denen die Nation Chinas durch andere schikaniert und erniedrigt wird", vorbei seien. Vize-Außenminister Zhang Zhijun setzte Japans Politik hinsichtlich der Inselgruppe in direkten Kontext mit anderen emotionalen Streitpunkten in den japanisch-chinesischen Beziehungen, wie etwa der Verleugnung des Nanking-Massakers von 1937 durch Japan. Zudem verteidigte die Zeitung "People’s Daily", das offizielle Sprachrohr der Kommunistischen Partei, die antijapanischen Proteste als "Impulse patriotischen Eifers". Angesichts dieses nationalistisch geprägten Narrativs um die Inselgruppe ist ein Einlenken durch Chinas politische Führung unwahrscheinlich, da das einem Legitimitätsverlust in den Augen der eigenen Bevölkerung gleichkäme.

Tunb-Inseln und Abu Musa

Dass der Kampf um die historische Deutungshoheit auch die Beilegung weniger bekannter Territorialkonflikte erschwert, zeigt die Auseinandersetzung zwischen Iran und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) um eine Inselgruppe im Persischen Golf. Die größte der drei Inseln, Abu Musa, auf die neben Iran das Emirat Schardscha Anspruch erhebt, weist ungefähr eine Fläche von zwölf Quadratkilometern auf und wird von etwa 2000 Menschen bewohnt. Die beiden Tunb-Inseln werden vom Emirat Ra’s al-Chaima und Iran beansprucht und sind weitgehend unbewohnt. Der Wert der Inselgruppe, die zurzeit von Iran besetzt wird, ist vor allem strategischer Natur: Aufgrund ihrer Lage in der Straße von Hormus, durch die fast ein Drittel der globalen Ölexporte per Schiff befördert wird, bieten die Inseln eine militärisch bedeutsame Position zur Kontrolle von Öllieferungen aus dem Mittleren Osten.

Die Ursprünge des Souveränitätsstreits liegen bereits im späten 19. Jahrhundert, als Iran nacheinander Anspruch auf die Tunb-Inseln und Abu Musa erhob. Zu jener Zeit wurden die Inseln von den Scheichtümern Schardscha und Ra’s al-Chaima kontrolliert, die sich auf einen mächtigen Verbündeten verlassen konnten: das Vereinigte Königreich, das die Emirate 1835 effektiv als Protektorate eingegliedert und ab 1892 auch die Außenpolitik dieser sogenannten "Trucial States" übernommen hatte, unterstützte den arabischen Anspruch. Angesichts der militärischen Überlegenheit der Briten beugte sich Iran 1904 dem Druck und nahm iranische Flaggen ab, die es zuvor auf Abu Musa und einer der Tunb-Inseln gehisst hatte. Versuche der Iraner in den darauffolgenden Jahrzehnten, ihren Anspruch auf die Insel geltend zu machen, stießen bei Briten und Arabern auf taube Ohren.

Die Wende im Souveränitätsstreit trat mit dem Rückzug der Briten vom Persischen Golf in den frühen 1970er Jahren ein. Iran nutzte das entstehende Machtvakuum zu seinem Vorteil: Während iranische Truppen die Tunb-Inseln gewaltsam besetzten, handelten die Briten für Abu Musa eine Übereinkunft zwischen Iran und Schardscha aus, das eine Teilung der Insel und Ressourcen in den umliegenden Gewässern vorsah. Dass das Abkommen zwischen den ungleichen Partnern keine dauerhafte Lösung darstellte, zeigte sich bereits 1992: Nachdem Iran arabischen Staatsangehörigen zunächst den Zugang zu Abu Musa verwehrt hatte, dehnte die islamische Republik ihre Kontrolle über die gesamte Insel aus. Darauffolgende Bemühungen der Emirate, den Souveränitätsstatus der Inseln durch bilaterale Verhandlungen oder eine unabhängige Instanz wie den Internationalen Gerichtshof zu klären, lehnte Iran ab.

Den Ansprüchen liegen zwei Narrative über die historische Nutzung der Inseln zugrunde, deren Stichhaltigkeit sich objektiv kaum überprüfen lässt. Iran behauptet, durch Perserreiche wie das Parther- und Sassanidenreich über 2.000 Jahre hinweg ununterbrochen Kontrolle über die Inseln ausgeübt zu haben – bis zur unrechtmäßigen Kontrollübernahme der Briten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Schardscha hält dagegen, dass Araber schon seit Jahrhunderten auf Abu Musa gelebt hätten und verweist dabei insbesondere auf die Verwaltung der Inseln durch die Herrscherfamilie al-Qasimi seit dem 18. Jahrhundert. Zudem sei das Übereinkommen, das 1971 die Aufteilung Abu Musas beschloss, ungültig, da Schardscha dieses nach dem britischen Rückzug nur unter Zwang unterzeichnet habe. Da jedoch fast alle existierenden Dokumentationen über die Inseln aus der britischen Kolonialzeit stammen, lässt sich keines der beiden Narrative abschließend verifizieren.

Auch im Streit um Abu Musa und die Tunb-Inseln greifen die Konfliktparteien auf nationalistische Rhetorik zurück, um ihren Ansprüchen Nachdruck zu verleihen. Nachdem die VAE 1992 beispielsweise ein Ende der iranischen Besatzung der Inseln forderten, kündigte der damalige iranische Präsident Akbar Haschemi Rafsandschani an, die VAE müssten ein "Meer aus Blut" überqueren, wenn sie die Inseln erreichen wollten. 2010 provozierte der Außenminister der VAE wütende Reaktionen aufseiten Irans, als er die iranische Besatzung der Inseln mit der Besatzung "arabischer Gebiete" durch Israel – der erklärte Erzfeind Irans – gleichsetzte. Nur zwei Jahre später sorgte wiederum der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad für einen Eklat, als er Abu Musa als erstes Staatsoberhaupt überhaupt besuchte. In Iran wurde Ahmadinedschad dafür als Verteidiger der territorialen Integrität Irans gefeiert. Die wiederholte Instrumentalisierung des Territorialkonfliktes für innenpolitische Zwecke trübt die Aussichten auf eine friedliche Lösung bis heute – denn je stärker die umstrittenen Inseln im jeweiligen nationalen Bewusstsein verankert sind, desto kleiner wird der Verhandlungsspielraum für Entscheidungsträger auf beiden Seiten.

Imia/Kardak-Inseln

Die zwei Inseln, die in Griechenland als Imia und in der Türkei als Kardak bezeichnet werden, liegen unweit der türkischen Küste und der griechischen Inselgruppe Dodekanes im Ägäischen Meer. Der Streit um die kargen Inseln unterscheidet sich von den beiden vorigen Fällen insofern, als dass die Inseln keinen erkennbaren strategischen oder wirtschaftlichen Wert haben. Das übergeordnete Interesse in diesem Konflikt ist daher in erster Linie symbolischer Natur und Produkt einer historischen regionalen Rivalität. Dass überhaupt ein Konflikt um Imia/Kardak entbrannte, ist einem Zufall geschuldet: Im Dezember 1995 lief ein türkisches Frachtschiff vor den Inseln auf Grund, dessen Kapitän sich daraufhin weigerte, durch griechische Rettungskräfte geborgen zu werden, da er sich seiner Auffassung nach noch in türkischen Gewässern befand. Durch den Zwischenfall realisierten die Regierungen in Athen und Ankara, dass der Souveränitätsstatus der bislang wenig beachteten Inseln ungeklärt war und kommunizierten in Form von diplomatischen Noten umgehend ihre Ansprüche.

Erst als griechische Medien die Auseinandersetzung im Januar 1996 aufgriffen, weckte der Territorialkonflikt ein größeres öffentliches Interesse. Daraufhin setzten Bewohner der Nachbarinsel Kalimnos auf die Inseln über und hissten dort eine griechische Flagge. Nur wenige Tage später revanchierten sich türkische Journalisten der Zeitung "Hürriyet" und ersetzten die griechische Flagge mit einer türkischen, die bereits am folgenden Tag von einem Truppenkontingent der griechischen Marine wieder entfernt wurde. Als daraufhin beide Regierungen Kriegsschiffe entsandten und Spezialeinheiten auf den Inseln landeten, steuerte der Konflikt binnen kurzer Zeit auf eine militärische Eskalation zu. Nur durch eine frühzeitige Vermittlung der USA konnte der Ausbruch von Gewalt zwischen den zwei Nato-Mitgliedern verhindert werden. Obwohl die Konfliktparteien ihr militärisches Engagement auf der Inselgruppe bereits 1996 beendeten, bleibt der Konflikt bis heute ungelöst.

Im Gegensatz zu den vorangehenden Fällen streiten Griechenland und die Türkei in erster Linie um die Interpretation historischer Verträge. Im Mittelpunkt steht dabei der Vertrag von Lausanne von 1923, der nach Beendigung des Türkisch-Griechischen Kriegs (1919–1922) die Grenzen und Gebietsansprüche der Türkei, Griechenlands und ihrer Verbündeten festlegte. In diesem Rahmen trat die Türkei die Inselkette Dodekanes an Italien ab, von wo sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf Griechenland übertragen wurde. Griechenland beharrt darauf, dass auch die Imia/Kardak-Inseln Teil dieser Vereinbarung waren – obwohl sie nicht explizit im Vertrag benannt wurden. Dabei beruft Athen sich auf ein Abkommen zwischen Italien und der Türkei von 1932, dessen Protokoll zufolge die Türkei die Inseln als Teil der Dodekanes anerkannt hatte. Die Türkei argumentiert hingegen, die Inseln seien nicht Teil des ursprünglichen Vertrages gewesen und das Protokoll von 1932 sei nie ratifiziert worden – und deshalb ungültig.

Obwohl also weder Griechenland noch die Türkei behaupten, in der Vergangenheit eine besondere Beziehung zu den beiden Inseln gehabt zu haben, ist die Souveränitätsfrage mittlerweile stark emotional aufgeladen. Dies liegt vor allem daran, dass beide Länder schon seit Jahrzehnten über Souveränitätsrechte im Ägäischen Meer streiten und sich der Konflikt um die Inselgruppe somit in den komplexen Kontext einer langjährigen regionalen Rivalität einordnen lässt. Entsprechend stürmisch waren die Reaktionen der Medien in beiden Ländern auf den Zwischenfall 1996, die die Souveränitätsfrage über die vermeintlich unbedeutenden Felsen rhetorisch einem Nullsummenspiel gleichsetzten: Nur die alleinige und absolute Kontrolle der Inseln konnte einen akzeptablen Ausgang der Krise bedeuten. Besonders griechische Medien schlugen dabei nationalistische Töne an, als sie die Landung der "Hürriyet"-Journalisten als "Invasion" und das Abnehmen der Flagge als "Erniedrigung" bezeichneten; den Abzug griechischer Truppen nach der Entschärfung der Krise betitelte eine andere Zeitung als "Nacht der nationalen Schmach". Auch in der Türkei reagierten Medien mit einem militaristischen Diskurs, der von türkischen Politikern entlang des politischen Spektrums aufgegriffen wurde. Die konservative Mutterlandspartei ANAP schloss Verhandlungen aus und verkündete, dass das Entsenden von Truppen die einzige Lösung sei, während die sozialdemokratische Demokratische Linkspartei DSP den Beginn des "Ägäischen Kriegs" erklärte.

Das Fortbestehen dieses emotionalen Diskurses um die Imia/Kardak-Inseln erklärt, warum sich Politiker in Griechenland und der Türkei noch heute gezwungen gesehen, jeder vermeintlichen Anspruchsbekundung mit Härte zu begegnen. 2015 beispielsweise warf der griechische Verteidigungsminister Panos Kammenos in Gedenken an einen tödlichen Hubschrauberabsturz einen Kranz über den Inseln ab, woraufhin türkische Jagdflieder aufstiegen und in den griechischen Luftraum eindrangen. Der Fall der Imia/Kardak-Inseln illustriert die einflussreiche Rolle, die nationale Medien in der Eskalation eines Territorialkonflikts spielen können. Erst als diese den Streit aufgriffen und die öffentliche Stimmung in beiden Staaten mit militanter Rhetorik anheizten, stieg der Druck auf Politiker beider Seiten, auf Konfrontationskurs zu gehen.

Fazit

"Ehe du für dein Vaterland sterben willst, sieh dir’s erstmal genauer an!", schrieb der deutsche Schriftsteller Arno Schmidt 1953. Nur wenige der Menschen, die von ihren Regierungen eine kompromisslose – und mitunter gewaltsame – Verteidigung von umstrittenen Inseln fordern, werden diese jemals mit eigenen Augen sehen, geschweige denn mit eigenen Füßen betreten. Doch ohnehin ist es selten der augenscheinliche Wert von Inseln, der ihre Bedeutung im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung bestimmt. Vielmehr dienen Inseln oft als Sinnbild und zugleich Austragungsort größerer, unverarbeiteter Konflikte. So bieten sie Nationen eine Möglichkeit, sich für vergangene Demütigungen zu revanchieren oder einem historischen Rivalen die Stirn zu bieten. Zwar mögen Entscheidungsträger in Inselkonflikten in Wirklichkeit wirtschaftliche oder strategische Interessen verfolgen; nach außen hin bedienen sie sich jedoch oftmals eines emotionalen Narrativs, das die Souveränitätsfrage in den Köpfen der Menschen eng mit historischen Traumata und Fragen der nationalen Identität verknüpft.

Wie lassen sich diese von Emotionen und Nationalismus verzerrten Konflikte lösen? Eine Patentlösung gibt es nicht. Die wohl wichtigste Voraussetzung für eine langfristige Beilegung ist jedoch, dass politische Entscheidungsträger der Versuchung widerstehen, die Konflikte für kurzfristige Erfolge zu instrumentalisieren und somit zu ihrer weiteren Emotionalisierung beizutragen. Eine graduelle Entschärfung der Rhetorik sowie vertrauensbildende Maßnahmen, wie etwa die gemeinsame Entwicklung von Ressourcen in den Gewässern um umstrittene Inseln, können als erste Schritte in einem langwierigen Versöhnungsprozess dienen. Derartige Zugeständnisse mögen zwar auf hitzige Kritik in der Bevölkerung und den Medien stoßen und somit einen innenpolitischen Preis haben. Doch verhindern sie langfristig ein weitaus kostspieligeres Szenario: die Eskalation des Konflikts in eine militärische Auseinandersetzung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Christopher Stevenson, Hans Off!: The Struggle for Hans Island and the Potential Ramifications for International Border Dispute Resolution, in: Boston College International and Comparative Law Review 1/2007, S. 263–275.

  2. Vgl. Max Fisher, The South China Sea: Explaining the Dispute, 14.7.2016, Externer Link: http://www.nytimes.com/2016/07/15/world/asia/south-china-sea-dispute-arbitration-explained.html.

  3. Vgl. Robert W. Smith/Bradford L. Thomas, Island Disputes and the Law of the Sea, International Boundaries Research Unit, IBRU Maritime Briefing 4/1998, S. 14.

  4. Vgl. James D. Fearon, Domestic Political Audiences and the Escalation of International Disputes, in: American Political Science Review 3/1994, S. 577–592.

  5. Vgl. Anna Costa, The China-Japan Conflict over the Senkaku/Diaoyu Islands: Useful Rivalry, London–New York 2018, S. 2.

  6. Zit. nach Jessica Weiss, Powerful Patriots: Nationalist Protests in China’s Foreign Relations, Oxford 2014, S. 206.

  7. Vgl. Michael Swaine, Chinese Views Regarding the Senkaku/Diaoyu Island Dispute, in: China Leadership Monitor 41/2013, S. 1–27, hier S. 6.

  8. Vgl. Ian Johnson/Thom Shanker, Beijing Mixes Messages Over Anti-Japan Protests, 16.9.2012, Externer Link: http://www.nytimes.com/2012/09/17/world/asia/anti-japanese-protests-over-disputed-islands-continue-in-china.html.

  9. Vgl. Kourosh Ahmadi, Islands and International Politics in the Persian Gulf, London–New York 2008, S. 47ff.

  10. Vgl. Richard Mobley, The Tunbs and Abu Musa Islands: Britain’s Perspective, in: Middle East Journal 4/2003, S. 627–645, hier S. 642f.

  11. Vgl. Khalid S.Z. Al-Nahyan, The Three Islands: Mapping the UAE-Iran Dispute, London 2013, S. 42.

  12. Vgl. Noura S. Al-Mazrouei, Disputed Islands between UAE and Iran, Gulf Research Centre Cambridge, GRM Papers 2015, S. 6.

  13. Zit. nach Pirouz Mojtahed-Zadeh, Disputes over Tunb and Abu Musa, in: ders. (Hrsg.), Boundary Politics and International Boundaries of Iran, Boca Raton 2006, S. 305–318, hier S. 316.

  14. Vgl. Thomas Erdbrink, A Tiny Island Is Where Iran Makes a Stand, 30.4.2012, Externer Link: http://www.nytimes.com/2012/05/01/world/middleeast/dispute-over-island-of-abu-musa-unites-iran.html.

  15. Vgl. Eintrag Greece-Turkey: Imia/Kardak Island, in: Emmanuel Brunet-Jailly, Border Disputes: A Global Encyclopedia, Santa Barbara 2015, S. 640–649, hier S. 643f.

  16. Vgl. Birol Yesilada, EU-Turkey Relations in the 21st Century, Oxon–New York 2013, S. 54.

  17. Vgl. Alexis Heraclides, The Greek-Turkish Conflict in the Aegean, Houndmills 2010, S. 134.

  18. Vgl. Athanasios Manis, The Role of Media in the Imia/Kardak Crisis, Conference Paper, 4th Hellenic Observatory PhD Symposium on Contemporary Greece, London 25.–26.6.2009, S. 8.

  19. Murat Bayar/Andreas Kotelis, Democratic Peace or Hegemonic Stability? The Imia Kardak Case, in: Turkish Studies 2/2014, S. 242–257, hier S. 247.

  20. Vgl. ebd., S. 249.

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ist Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institute for Advanced Sustainability Studies in Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte sind internationale Meerespolitik, Governance der Arktis und Territorialkonflikte. E-Mail Link: hendrik.schopmans@iass-potsdam.de