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"Insularisches Denken" und das Problem der Kulturbegegnung | Inseln | bpb.de

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"Insularisches Denken" und das Problem der Kulturbegegnung Eine xenologische Skizze

Wolf Dieter Otto

/ 16 Minuten zu lesen

Die Insel-Metapher vereinfacht den komplexen Begriff der "Kultur" – daraus erwächst ihre große Attraktivität –, ist aber nicht unproblematisch. Deshalb sollte auf solche Kulturmetaphern verzichtet werden.

Das Konzept der Insel nimmt in unserem Alltagsbewusstsein und in unserer Alltagssprache einen erstaunlich großen Platz ein, sei es in der spielerischen Frage, was man gerne auf eine einsame Insel mitnehmen würde, sei es im Ausdruck, "reif für die Insel" zu sein, womit ein Leiden an den Lebensumständen ausgedrückt wird und die Suche nach einer heilenden Kompensation dafür. Das Motiv ist Teil der kulturellen und literarischen Sozialisation. Als Beleg mag der berühmte Roman "Robinson Crusoe" (1719) von Daniel Defoe und die lange Reihe verwandter Robinsonaden gelten. Das Motiv ist jedoch bereits in der antiken Dichtung Homers zu finden und kann als Bestandteil der Weltliteratur angesehen werden. Die über Generationen erfolgreiche Rezeption des Jugendbuchklassikers und seiner "Brüder" signalisiert, dass die Thematik ein mentales Bedürfnis der Rezipienten stillt: Wie kaum ein anderer Schauplatz eignet sich die Insel, um über das Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Kultur nachzudenken.

Seit der Zeit der europäischen Expansion und der Begegnung mit Menschen anderer, "fremder" Kulturen verstärkt sich zudem das kulturkritische Motiv, den Zustand der "eigenen" Kultur (auch) aus der Perspektive des Fremden in Augenschein zu nehmen. An dieser Stelle entsteht in Ansätzen ein gleichberechtigte Dialog der Kulturen oder – bei entgegengesetzten Schlussfolgerungen – eine abgrenzende Hierarchisierung von Kulturen durch Dominanz.

In dieser Skizze steht die Insel als kulturelle Metapher im Mittelpunkt. Sie steht dabei für das jeweils "Eigene", der Kontinent für das "Fremde", von außen Eindringende. Als Konzept betrachtet, stellt sie ein vielfältiges Verhaltensrepertoire für zwischenmenschliche Begegnungssituationen mit Menschen vom (metaphorischen) Kontinent bereit. "Insularisches Denken" ist dennoch widersprüchlich und ambivalent, weil es sich abgrenzt vom "kontinentalen Denken", aber gleichzeitig die kulturellen oder historischen Gemeinsamkeiten ebenso verleugnet wie Perioden des Austauschs und der Wechselwirkung mit dem Kontinent und dem kontinentalen Denken. Das Denkmuster der Insel – neben dem Prinzip der Abgrenzung geprägt von Dichotomisierungen, während das kontinentale Denken von der Suche nach Austausch und Dialog geprägt ist – soll im Folgenden mit Rückgriff auf literarische und essayistische Texte verdeutlicht werden. In einem weiteren Schritt geht es um eine Kritik an dem diesem Denken innewohnenden Kulturbegriff und seine auf kulturelle und soziologische Abgrenzung zielende Metaphorik.

Die Skizze ist deshalb xenologisch akzentuiert, denn sie thematisiert zentral die Frage nach dem Umgang mit dem "Fremden". Das widersprüchliche Ergänzungs- beziehungsweise Abgrenzungsverhältnis beider Konzepte ist grundsätzlich keine neue Erkenntnis, dennoch wurde und wird es zu unterschiedlichen Zeiten immer wieder als neu diskutiert. John Donnes (1572–1631) berühmte und immer wieder zitierte Aussage "No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the continent, a part of the main" bringt das hervorragend zum Ausdruck, während die Schlussfolgerungen, so lässt sich angesichts gegenwärtiger Probleme des Umgangs mit dem Fremden vermuten, nur in geringem Umfang bei den Menschen angekommen sind.

Geschlossene Gemeinschaft

Einen insularischen Denk- und Verhaltensstil illustriert ein kleiner Text von Franz Kafka, der den Titel "Gemeinschaft" trägt. Aus einer Gruppe von fünf Freunden wird in den Augen der sie beobachtenden Mitmenschen eine "Gemeinschaft" geformt, nur weil sie einem "Haus" zugehörig sind. Gestört wird die Freundesgruppe, die ihr Leben als "friedlich" empfindet, durch die Versuche eines Sechsten, in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Die Gemeinschaft wird von Kafka als eine Festung geschildert, die sich gegen Neuankömmlinge abschirmt. Der Neue ist "lästig" und will sich immerzu "einmischen", aber sie wollen ihn nicht im geringsten Maße willkommen heißen: "Wir fünf haben zwar früher einander auch nicht gekannt, und wenn man will, kennen wir einander auch jetzt nicht, aber was bei uns fünf möglich ist und geduldet wird, ist bei jenem sechsten nicht möglich und wird nicht geduldet." Die Gruppe der Fünf ist sich der Zufälligkeit ihrer Gemeinschaftsbildung durchaus bewusst, was auch ein Grund sein könnte, eine neue Person zu akzeptieren. Aber apodiktisch heißt es nur: "Außerdem sind wir fünf und wir wollen nicht sechs sein." Ihre Entschlossenheit führt zur Ablehnung jeglicher Kommunikation, da alle "Erklärungen" bereits "fast eine Aufnahme in unsern Kreis bedeuten" würden; die Fünf setzen auch Gewalt ein. Doch "mögen wir ihn noch so sehr wegstoßen", der Wunsch dazuzugehören ist stärker: "Er kommt wieder." Sie werden den Fremden nicht los – er ist da und als Außenseiter durchaus Teil der Gemeinschaft.

Die xenologische Lesart des Textes zeigt, dass es Kafka in diesem sehr kurzen Text prägnant gelingt, einige wichtige Elemente des extremen, ja radikalen insularischen Denkens aufzuzeigen: die Überzeugung, eine geschlossene Gemeinschaft zu bilden, die Verweigerung jeglicher Kommunikation mit den anderen sowie die Bereitschaft zu gewalttätiger Verteidigung des eigenen Bezirks. Gleichwohl bleibt der andere, dessen Unzugehörigkeit fortwährend behauptet wird, anwesend und wird gerade nicht dazu gebracht, auf Zugehörigkeit zu verzichten. Ganz offensichtlich wird er als Eindringling, als Feind angesehen. In jedem Fall ist er überflüssig, der Sechste, den die Gruppe der Fünf nicht aufnehmen will. Er ist, um es mit den Worten des Soziologen Georg Simmel aus dem "Exkurs über den Fremden" auszudrücken, ein "Supernumerarius", ein Überzähliger, und seine soziale Position liegt im "Dazwischen", zwischen Zu- oder Unzugehörigkeit.

Es verwundert nicht, dass Kafka keinerlei Problemlösungen andeutet, vielmehr nur Fragen provoziert: Wer ist dieser Fremde? Auf welchen Gemeinsamkeiten baut die Gemeinschaft der Fünf auf? Sind es Überzeugungen politischer oder religiöser Art, ethnische oder soziale Herkunft beziehungsweise Zugehörigkeit?

Wie eine solche Gemeinschaft zustande kommt, hat die Forschung, insbesondere zum Begriff der Nation, gezeigt: Alle Gruppenbildungsprozesse besitzen ihr zufolge den Charakter eine Konstruktion. Gruppen oder Gemeinschaften "erfinden" sich und machen diese Erfindungen in Narrativen zugänglich. In den Narrativen wird freilich der Konstruktcharakter der Gemeinschaft nicht thematisiert, sondern als eine objektive Gegebenheit unter Rekurs auf "Natur" und "Geschichte" ausgegeben. So wie die eigene Herkunft wird auch die Figur des Fremden als Wunsch- oder Feindbild konstruiert; in jedem Fall handelt es sich um vorurteilsgeleitete Zerrbilder. Verflüssigt werden die gegenseitigen Zuschreibungen erst wieder, wenn es zu Kommunikation und Austausch kommt.

"Überfremdung" durch "Gäste"

Während im Text von Kafka die Grenze zu den Fremden ganz deutlich markiert wird, thematisiert Max Frisch in seinem Essay "Überfremdung" von 1965 die Reaktion der Landesbewohner auf die Ankunft von Fremden, die zum Zwecke der Arbeitsaufnahme angeworben worden waren. Mit diesem Text wandte sich der Schweizer Schriftsteller gegen die nach ihrem Initiator benannte "Schwarzenbach-Initiative", die vor dem Hintergrund der Anwerbeabkommen der 1960er Jahre den Anteil ausländischer Bevölkerung in jedem Kanton auf zehn Prozent beschränken wollte. Seine Aktualität gewinnt der Text angesichts der aktuellen Konjunktur des Begriffs "Überfremdung" in fremdenfeindlichen Diskursen.

Im Kontext der Analyse insularischen Denkens nimmt der Essay jedoch einen anderen Stellenwert ein. Im Unterschied zu Kafkas literarischem Szenarium einer schroffen Entgegensetzung des Eigenen und des Fremden geht Frisch von dem realen Umstand aus, dass die Fremden nur in ihrer Funktion als "Arbeitskräfte" willkommen geheißen wurden, nun aber "Menschen" gekommen seien und die Einheimischen sich durch das "andere" Verhalten der "Gastarbeiter" in ihrem nationalen und kulturellen Selbstverständnis bedroht fühlten. Frisch würde die Bezeichnung "Fremdarbeiter" bevorzugen, weil sie aus der "Fremde" kommen, als Zuwanderer im Sinne des lateinischen peregrinus, das ohne wertende Konnotation eine Person bezeichnet, die von außen kommt. Der Begriff "Fremdarbeiter" war aber aufgrund seiner NS-belasteten Vergangenheit im Deutschen disqualifiziert, was dazu führte, dass sich die Bezeichnung "Gastarbeiter" durchsetzte. Im Gegensatz zu peregrinus schwingt im deutschsprachigen Begriff des Gastes immer die Doppeldeutigkeit von "Gast" und "Feind" mit.

Statt der Gemeinsamkeiten werden die Unterschiede überbetont, was zur schroffen Abgrenzung und dem Wunsch nach Begrenzung der "Überfremdung" durch Kontingentierung führt, um sich nicht "fremd im eigenen Land" zu fühlen. In dieser Figuration der Wahrnehmung des Fremden dominiert der Wunsch nach Kontrolle, nicht zuletzt auch, um das Eigenbild des für seine "Humanität und Toleranz" berühmten "kleinen Herrenvolkes" aufrecht zu erhalten. Max Frisch führt die Fremdenfeindlichkeit seiner Landsleute auf die Folgen der "geistigen Landesverteidigung" während des Zweiten Weltkriegs zurück, einer Haltung, die zur Besinnung auf die "schweizerischen Werte" aufrief. Dieses Selbstbild der eigenen Humanität und Toleranz verfestigte sich nach dem Krieg, anstatt nach überstandener Gefahr überprüft zu werden. Genau dieses Ziel verfolgt Frisch, der zu den ersten Schweizer Intellektuellen gehörte, die eine kritische Hinterfragung der Vergangenheit verlangten, um für neue Herausforderungen wie etwa Migrationsprozesse gerüstet zu sein.

Die Widersprüche in diesem Selbstbild umfassen mehrere Ebenen. Auf der einen Seite steht die funktionale Auffassung der Fremden als Arbeitskräfte, die vor allem nützlich für die Volkswirtschaft sind und zumindest als "Kostenfaktoren" berechenbar und kontrollierbar scheinen. Der Vorteil der ökonomischen Auffassung besteht in der Ausblendung aller kulturellen Faktoren. Auf der anderen Seite lässt sich Humanität und Toleranz als Faktor von "Weltoffenheit" gut mit der Auffassung der Fremden als "Gäste" in Verbindung bringen. Der Vorteil des Gastverhältnisses besteht darin, dass der Aufenthalt per se vom "Hausherrn" begrenzt, also nur von vorübergehender Dauer ist. Der Übergang von einer Willkommenskultur zu eine Abschiebekultur ist auf dieser Ebene fließend möglich.

Die Gastzuschreibung ist ein beliebtes Vorgehen von Inselbewohnern, die gerne unter sich bleiben, aber nicht fremdenfeindlich und zudem weltoffen erscheinen wollen. Dem Gast wird ein Extraraum, der "Transitraum" zugewiesen, er gehört nicht dazu und soll auch nicht dazugehören. Die Migrationsgeschichte zeigt, dass die Gastfunktion und das Gastrecht vor allem in nomadischen Gesellschaften einen wichtigen Zwischenbereich für den Umgang mit dem als bedrohlich empfundenen unbekannten Fremden erfüllte, aber keine Grundlage für seine dauerhafte Integration sein kann. Die funktionale Auffassung der Menschen als bloße Arbeitskräfte gepaart mit dem Gastverhältnis reduziert alle Anstrengungen zur gegenseitigen Vermittlung von Kulturen auf ein Minimum, weil es sich – aufgrund des zeitlich begrenzten Aufenthalts des Gastes – ja "ohnehin nicht lohnt", und erhöht die kulturellen Folgekosten um ein Vielfaches für alle, aber vor allem für die Neubürger, weil zum Beispiel durch vernachlässigte oder nicht erfolgte Bildungsmaßnahmen (Sprachkursangebote, kulturelle Überbrückungsmaßnahmen, monokulturelle Lehrerausbildung) das Gefühl erzeugt wird, Mitbürger zweiter Klasse zu sein. Ein Kristallisationspunkt insularischen Denkens ist hier also die Weigerung, sich als ein Einwanderungsland zu sehen und politisch und kulturell darauf einzustellen.

Frischs kritische Einwände halten den Schweizern ein Selbstbild vor, das an der Realität der schlechten Behandlung der Fremden scheitert. Sie werden ihren eigenen Ansprüchen bezüglich Humanität, Freiheit und Toleranz nicht gerecht. Im erweiterten Sinn stehen diese Einwände im Kontext der Thematisierung des Begriffs Heimat, da sich die Begriffe "Heimat" und "Gast" fast schon zwangsläufig gegenseitig ausschließen, und der Frage, inwieweit die Schweiz eine Heimat sein kann, und zwar auch für jene Neubürger. Für die Frage, welche Bereitschaft und Fähigkeit in einer Gesellschaft existiert, Fremde als gleichberechtigte Bürger aufzunehmen, ist die kritische Inspektion der eigenen Kultur und ihres Wertehaushalts von höchster Bedeutung. In diesem Fall geht es konkret darum, dass Frisch den Verdacht hat, dass Toleranz nur als Wert proklamiert, nicht aber praktiziert wird. Aus diesem Grund erwähnt er am Ende seines Essays die Notwendigkeit, den "Begriff der Schweiz in die Reparatur" zu schicken.

Schiffsverkehr zwischen Insel und Kontinent

Folgt man dem Schweizer Schriftsteller Francesco Micieli, der die Debatten um die Schwarzenbach-Initiative miterlebte, ist diese Reparatur misslungen oder, positiv ausgedrückt, dauert an. Micieli, der als Kind mit seinen Eltern aus Italien in die Schweiz einwanderte, stellt fest, dass sich seit Frischs Diagnose nichts an der Ablehnung von Fremden in Teilen der Gesellschaft wirklich geändert hat. Anlass zu dieser Feststellung ist seine Rückkehr nach Lützelflüh im Emmental 2012, um in seiner "Heimat" einen Vortrag zu "Gotthelf und die Fremden" zu halten. Die Plakate der jüngsten Initiative "Stoppt die Masseneinwanderung!" kann er dabei nicht übersehen. Micieli bringt in diesem Zusammenhang eine Kluft zwischen dem wissenschaftlichen Kulturdiskurs und dem Alltagsdiskurs der Einheimischen über Kultur zur Sprache. Lange Zeit war das auch in den Literatur- und Kulturwissenschaften sichtbar, die mit einem Sprachverständnis operierten, demzufolge die "Muttersprache" die entscheidende Kompetenz für kulturelle Teilhabe ist. Ausländer und Fremdsprachensprecher konnten so zwangsläufig keinen Eingang finden in den Kanon "deutscher" oder "Schweizer" Literatur – sie blieben "Gäste". Mit diesem Vorgehen liefert die Kultur- und Literaturwissenschaft ein paradigmatisches Beispiel für insularisches Denken. Allerdings lässt sich eine Kontinuität der Reparaturbemühungen feststellen, die auch den vermeintlich innersten Bezirk "identitätsstiftender" Literatur ergreift. Dass Literatur- und Kulturwissenschaften vermehrt die Grenzen ihrer jeweiligen Nationalphilologien überschreiten, steht in einem Zusammenhang mit den weltweiten Migrationsbewegungen, die es nicht mehr ohne Begründung erlauben, sich mit Kultur und Literatur verengt auf die Maßgaben eigenkultureller wissenschaftlicher Interessen zu beschäftigen.

Das Neuartige am Beispiel Micieli ist jedoch, dass die "Neubürger", die "fremden Einheimischen", die ehemaligen Migranten, sich selbst aktiv an der "Reparatur" beteiligen und so den Kulturdiskurs der einheimischen Gesellschaft um neue Perspektiven ergänzen. Es findet also ein Kulturaustausch statt, in dem die ausschließliche Konzentration auf die Innenansicht durch kulturelle Außenperspektiven aufgebrochen wird. Zwischen der "Insel" und dem "Kontinent" findet Schiffsverkehr statt. Das für die Inselbewohner Selbstverständliche und Fraglose wird in der kontinentalen Sichtweise ein Grund für Fragen und umgekehrt. Der Austausch widerspricht der Überzeugung, dass die Eigenkultur über ihr gesamtes Entwicklungspotenzial verfügt und sich die Kulturentwicklung aus sich heraus gestaltet.

Ein wesentliches Element des Aufbrechens insularischen Denkens besteht in der Überprüfung der in der eigenen Kultur existierenden Narrative, Überzeugungen und Wertesysteme, auch mit der Beteiligung der "neuen Bürger", mit der Außenwelt also, um einen Anschluss an das kontinentale Denken zu gewinnen. Für Max Frisch bedeutet das eine Auseinandersetzung mit dem schweizerischen Verständnis von Heimat und dem Nationalmythos, dem "Freiheitshelden" Wilhelm Tell, dessen bekannteste Gestaltung sich selbst einer Form des Kulturaustauschs mit dem deutschen Dichter Friedrich Schiller verdankt.

Die Schweiz ist nur ein Beispiel. Vieles trifft auch auf Deutschland zu: So liegt auch hier ein wesentlicher Grund für eine Neuausrichtung nationaler Narrative in der Überprüfung des Geschichtsverständnisses. Verfolgt man den Diskurs nach 1945, wird man schnell bemerken, dass im Unterschied zur Schweiz kaum nur von einer "Reparatur" die Rede sein kann. Hier hat das insularische Denken zu einem Zivilisationsbruch geführt. Nach 1945 ging es für Deutschland um eine Wiederaufnahme in die Gemeinschaft der zivilisierten Völker und eine Rückkehr zum kontinentalen Denken. Zum einen kommen dafür pädagogische Maßnahmen von außen in Form eines reeducation-Programms in Gang, und zum anderen beginnt ein bis heute andauernder vielfältiger internationaler Diskurs über die Gründe, die zur Katastrophe des Zweiten Weltkriegs führten und welche Konsequenzen daraus zu ziehen seien. Bereits ein kurzer Blick auf den Diskurs zeigt, dass an ihm immer "ausländische" Stimmen beteiligt wurden und insbesondere in der Gegenwart sind die "neuen Deutschen" dabei längst wichtige Akteure.

So plädiert Zafer Şenocak, deutscher Schriftsteller türkischer Herkunft, für eine "Reform des Deutschseins", womit er die Abkehr von einem Nationalgefühl meint, das auf ethnischer Abstammung beruht und sich über Abgrenzung beziehungsweise Exklusion reguliert. In einem Radioessay fragte er 2010: "Kann ein guter Deutscher wirklich nur sein, wer kein Türke mehr ist? Das polarisierende Denken löst eine Verkrampfung zwischen nationalen Identitäten aus. Eine Einwanderungsgesellschaft, die erfolgreich sein will, braucht aber ein entspanntes Verhältnis gegenüber den nationalen Identitäten." Für Şenocak ist das kritisierte Nationalgefühl "keine Abstraktion. Es ist ein Ferment der Identität, das im Hinterland der Sprache und des Bewusstseins gelagert ist." Lokalisiert wird die Fundierung des Nationalgefühls in ethnischer Abstammung, die in der Zeit nach 1945 sowie im Kontext der Vereinigung 1990, so Şenocak, nicht oder noch nicht überwunden werden konnte.

Das Stichwort ist hier erneut die Negation der Einwanderungsgesellschaft. In dem über mehrere Jahre laufenden Projekt "Deutsche Zustände" des Soziologen und Erziehungswissenschaftlers Wilhelm Heitmeyer ist dies empirisch als "gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" bestätigt worden. Şenocaks Kritik trifft einen wunden Punkt, von dem aber nicht gesagt werden kann, dass er in der Vergangenheit beschwiegen wurde. Ganz im Gegenteil hat dieser Diskurs sogar symbolhaft Eingang in das Kunstprogramm des Deutschen Bundestages gefunden: Im Westflügel des ehemaligen Reichstagsgebäudes steht eine Installation des Konzeptkünstlers Hans Haacke, die den Titel "Der Bevölkerung" trägt und eine Reaktion auf die Inschrift "Dem Deutschen Volke" im Giebel des Gebäudes ist. Über die Umsetzung der Installation wurde im Bundestag und in den Medien sehr kontrovers gestritten. Hintergrund war die Reform des Staatsbürgerrechts im Jahr 2000, bei der das Abstammungsprinzip um Elemente des Geburtsortsprinzips ergänzt wurde.

Schlussfolgerung

Nachdem im Verlauf dieser Skizze verschiedene Figurationen insularischen Denkens diskutiert wurden, steht die Frage im Raum, worin die Attraktivität dieses Denkstils liegt. Offensichtlich ist sie so groß, dass er in unterschiedlicher Intensität in verschiedenen Kontexten immer wieder in Erscheinung tritt. Es spricht einiges dafür, dass die Insel das Bedürfnis nach einer Übersichtlichkeit von Lebensbezügen, eine Sicherheit des Gewohnten und Fraglosen sowie eine gewisse Einheitlichkeit des Denkens, Fühlens und Wahrnehmens zu befriedigen scheint, deren Vorteil auch darin besteht, mit anderen geteilt zu werden. Die Attraktivität und Verführungskraft liegt somit im enormen Potenzial der Vereinfachung des komplexen Begriffs "Kultur" auf ein räumliches Gebilde mit eindeutigen Grenzen. Einfache und leicht verständliche Antworten zur Frage von Zugehörigkeit und Unzugehörigkeit, also von Identität und Heimat, werden ermöglicht. Ihr bildhafter Ausdruck lässt kaum Fragen aufkommen.

Zur Ambivalenz der Insel-Metapher gehört die Ahnung, dass es eine Verbindung zum "Kontinent" gibt und eine extreme Isolation keine Perspektive auf die "Außenwelt" anbietet, außer der, dass es noch andere "Inseln" gibt. Das ist die Konstellation des extremen Kulturrelativismus, dem ein ebenso extremer Universalismus entgegengesetzt werden kann. Während die einen die Insel und ihre Grenzen hochhalten und durch Mauern befestigen, kennen die anderen keine Grenze und machen keinen Unterschied zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Beides sind Optionen, die den Wirklichkeitsverhältnissen nicht angemessen sind.

Angemessen sind vielmehr Denkstile, die diese Extremismen vermeiden. Die Entscheidung ist dann nicht die zwischen der Insel oder dem Kontinent, sondern vielmehr, wie Insel und Kontinent miteinander kommunizieren und kooperieren können, womit wieder an die eingangs zitierte Aussage von John Donne erinnert sei. Sie soll deshalb so interpretiert werden, dass es um das Bewusstsein von den impliziten Anschlussmöglichkeiten beider Denkstile geht. Konkret heißt das, dass es durchaus eine universale und allen Menschen gemeinsame "Kultur" gibt, die aber in spezifischer Art und Weise ausgelebt wird. Gemeinsamkeit und Unterschiedlichkeit sind dann keine sich ausschließenden Elemente, sondern signalisieren vor allem eine andere kulturelle Praxis. Eine derartige Auffassung ist dem abstrakten Begriff "Kultur" weit angemessener und legt für die Praxis der kulturellen Bildung vor allem den Verzicht auf den verführerischen Gebrauch von Metaphern von Kultur nahe. Was wird durch den Verzicht gewonnen? Die Chance besteht darin, die monokulturelle Bestimmung von "Kultur" in einen dialogischen Prozess zu überführen, in dem Innen- und Außenperspektiven gleichermaßen zur Geltung kommen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für einen Überblick siehe die Stichwörter "Insel" und "Robinson" in: Horst S. Daemmrich/Ingrid G. Daemmrich (Hrsg.), Themen und Motive in der Literatur, Tübingen–Basel 19952.

  2. Für kulturkritische Texte dieser Art siehe die Textsammlung von Gerd Stein (Hrsg.), Ethnoliterarische Lesebücher, 3 Bde., Frankfurt/M. 1984.

  3. Xenologie ist die Bezeichnung für eine interdisziplinär und interkulturell ausgerichtete Fremdheitsforschung. Sie ist in Deutschland im Kontext der Fremdsprachenphilologien und der auslandsbezogenen Germanistik entstanden. Vgl. das Stichwort "Xenologie" in: Ansgar Nünning (Hrsg.), Metzler Lexikon Literatur und Kulturtheorie, Stuttgart 1998, S. 576f.

  4. John Donne, Meditation XVII, zit. nach Externer Link: http://www.online-literature.com/donne/409. Donnes Aussage steht im Kontext des englischen Verfassungsdiskurses des 17. und 18. Jahrhunderts, in der ein "insularischer" von einem "kontinentalen" Diskurs unterschieden werden kann. Vgl. Hans-Christof Kraus, Englische Verfassung und politisches Denken im Ancien Régime: 1689 bis 1789, München 2006.

  5. Franz Kafka, Gesammelte Werke, hrsg. von Max Brod, Frankfurt/M. 1976, Bd. 5, S. 108.

  6. Georg Simmel, Exkurs über den Fremden, in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesammelte Werke, Bd. 2, Berlin 19685 (1908), S. 509–512, hier S. 509.

  7. Vgl. z.B. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Frankfurt/M. 1988, S. 15f.

  8. Max Frisch, Überfremdung, in: ders., Öffentlichkeit als Partner, Frankfurt/M. 1967, S. 100–104.

  9. Vgl. ebd. Die berühmt gewordene Formulierung lautet: "Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen."

  10. Vgl. das Bedeutungsspektrum des Begriffs "fremd" im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Externer Link: http://www.woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GF08627#XGF08627.

  11. Der lateinische Ausdruck für Gast, hospes, bedeutet im Deutschen "Gast" und "Fremder"; im Englischen ist der lateinische Ursprung z.B. im Wort hospitality (Gastfreundschaft) erhalten geblieben. Vgl. Corinna Albrecht/Alois Wierlacher, Kulturwissenschaftliche Xenologie, in: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hrsg.), Konzepte der Kulturwissenschaften, Stuttgart–Weimar 2003, S. 280–306, insb. S. 297.

  12. Vgl. dazu Herfried Münkler/Marina Münkler, Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft, Berlin 2016, S. 149–163, insb. S. 151f., S. 162.

  13. Vgl. ebd. Für eine breite Auffächerung des Themas siehe Alois Wierlacher (Hrsg.), Gastlichkeit. Rahmenthema der Kulinaristik, Berlin–Münster 2011.

  14. Die daraus resultierende Enttäuschung dokumentiert Can Merey, Der ewige Gast. Wie mein türkischer Vater versuchte, Deutscher zu werden, München 2018.

  15. Vgl. auch Frischs Fragebogen zum Thema Heimat in: Max Frisch, Tagebuch 1966–1971, Frankfurt/M. 1979, S. 382–385.

  16. Vgl. Alexander Mitscherlich, Proklamierte und praktizierte Toleranz, in: Alois Wierlacher/Wolf Dieter Otto (Hrsg.), Toleranztheorie in Deutschland (1949–1999). Eine anthologische Dokumentation, Tübingen 2002, S. 143–150.

  17. Vgl. Francesco Micieli: Schwazzenbach. Schlaflos in Lützelflüh. Erzählung. Oberhofen am Thunersee 2012, S. 9–13. In Lützelflüh wuchs Micieli auf; es ist gleichzeitig der Standort des Gotthelf-Zentrums, das der Pflege des aus dem Emmental stammenden Schriftstellers Jeremias Gotthelf gewidmet ist, der in der Schweiz zum Nationalautor stilisiert worden ist. Siehe auch Externer Link: http://www.gotthelf.ch/de.

  18. Vgl. Max Frisch, Wilhelm Tell für die Schule, Frankfurt/M. 1971.

  19. Für einen Überblick über den Diskurs vgl. z.B. Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Deutschland! Deutschland? Texte aus 500 Jahren von Martin Luther bis Günter Grass, Frankfurt/M. 2002.

  20. Münkler/Münkler (Anm. 12).

  21. Exemplarisch seien genannt Navid Kermani, Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime, München 2009; Zafer Şenocak, Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift, Hamburg 2011.

  22. Zafer Şenocak, Migration als Einbahnstraße, 1.8.2010, Externer Link: https://www.deutschlandfunk.de/migration-als-einbahnstrasse.1184.de.html?dram:article_id=185396.

  23. Şenocak (Anm. 21), S. 25

  24. Wilhelm Heitmeyer, Leben wir immer noch in zwei Gesellschaften? 20 Jahre Vereinigungsprozeß und die Situation Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, in: ders. (Hrsg.), Deutsch-deutsche Zustände. 20 Jahre nach dem Mauerfall, Bonn 2009, S. 13–52.

  25. Vgl. Deutscher Bundestag, Hans Haacke. Projekt "Der Bevölkerung" im Reichstagsgebäude, 12.8.2011, Externer Link: http://www.bundestag.de/besuche/kunst/kuenstler/haacke/haacke/198996; Der Bevölkerung, Projekthistorie, Bundestagsdebatte zum Kunstwerk vom 5.4.2000, Externer Link: http://derbevoelkerung.de/das-projekt/. Die Projektwebseite dokumentiert auch die kontroverses Stellungnahmen zu dem Projekt.

  26. Vgl. Christoph Antweiler, Was ist den Menschen gemeinsam? Über Kultur und Kulturen, Darmstadt 20092.

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ist Kulturwissenschaftler und Professor i.R. für Interkulturelle Germanistik an der Universität Bayreuth. Arbeitsschwerpunkte sind Interkulturelle Landesstudien sowie Fragen der Kulturvermittlung und des Kulturaustauschs. E-Mail Link: wolfdieter.otto@icloud.com