Minderheitengeschichte als historische Subdisziplin in Deutschland. Herausforderungen für die Forschung am Beispiel der Minderheit der Sinti und Roma
Der 2018 verstorbene Historiker Reinhard Rürup eröffnete 1984 den deutschen Historikertag in Berlin mit einem kurzen Vortrag, der mit dem Titel "Integration und Identität. Minderheiten und Minderheitspolitik in der neueren Geschichte" überschrieben war.[1] Rürup leitete seinen Vortrag mit den Worten ein: "Der Begriff der ‚Minderheit‘ weist heutzutage eine sehr geringe Trennschärfe auf; (…) so daß jede irgendwie benachteiligte Sozialgruppe (…) als Minderheit bezeichnet wird."[2] Damit formulierte einer der wichtigsten Nachkriegshistoriker Deutschlands, der bereits in den 1960er Jahren mit Veröffentlichungen zur Geschichte der Juden in Deutschland hervorgetreten war,[3] eine grundlegende Skepsis bezüglich des Begriffs "Minderheit". Rürup bezog den Einwand der Beliebigkeit auf die Minderheitenzuschreibung im öffentlichen Diskurs, nachfolgend breitete er eine Palette an zu bearbeitenden Themen aus, die bis heute nicht ansatzweise in Gänze Eingang in die Forschung gefunden haben. Im wissenschaftlichen Programm des Historikertags tauchten Minderheiten bezeichnenderweise dann auch nur in zwei Sektionen auf und dies nur am Rande.[4]Die Historikerin Stefi Jersch-Wenzel griff den Gedanken Rürups auf und hielt anlässlich der Mitgliederversammlung der Historischen Kommission zu Berlin im Februar 1985 einen Vortrag mit dem Titel: "Der ‚mindere Status‘ als historisches Problem – Überlegungen zur vergleichenden Minderheitenforschung". Darin führte sie in die verschiedenen Definitions- und Abgrenzungsprobleme der Minderheitengeschichte ein. Jersch-Wenzel beklagte etwa analog Rürup, dass der Minderheitenstatus nicht quantitativ, sondern qualitativ diskutiert werde, was dazu geführt habe, dass eine historische Erforschung kaum stattgefunden habe. Sie gab auch eine interessante Warnung wieder, die ihr vermeintlich zugetane KritikerInnen mit auf den Weg gegeben hatten, wenn sie sich mit Minderheitenforschung beschäftigen sollte. Sie solle mit ihrer Forschung nicht versuchen, "die Welt aus dem Tautropfen" zu erklären.[5] Solchen skeptischen Einwänden und Warnungen begegnen Forschende, die sich mit Minderheitengeschichte befassen, auch heute noch häufig. Die wissenschaftliche Methodik ist heute indes breiter aufgestellt als Mitte der 1980er Jahre.
Frühe Forschungen etwa zu den Deutschen in Osteuropa standen über Jahrzehnte hinweg unter dem Verdacht der politisch gesetzten Zielrichtung eines Grenz-Revanchismus, weshalb das Thema Flucht und Vertreibung von Minderheiten für viele HistorikerInnen per se für Forschungsprojekte nicht infrage kam.[6] Auch ansonsten zeigte sich eine deutsche Sonderentwicklung in der historischen Forschungslandschaft. Britische Studien zur Minderheitengeschichte wiesen bereits sehr früh eine erstaunliche thematische Breite und Tiefe an historischer Forschung auf. Bereits in den 1990er Jahren erschienen in Großbritannien akteursbezogene Studien, in denen etwa der Konstruktionscharakter von Fremdzuschreibungen untersucht und die Verbundenheit von Inklusions- und Exklusionsprozessen demonstriert wurde.[7].
In der Bundesrepublik haben sich vor allem andere Disziplinen, wie die Soziologie, das Völkerrecht oder die Erziehungswissenschaft, mit Minderheiten aus historischer Perspektive beschäftigt.[8] Zwar verdichteten sich seit den 1990er Jahren Forschungen zur jüdischen Minderheit und zu den "Gastarbeitern" – auch in regionalen Kontexten wurde und wird zum Verhältnis von Minderheit und Mehrheit, auch unter zeitgeschichtlicher Perspektive, intensiv geforscht[9] –, von einer etablierten historischen Minderheitenforschung kann in Deutschland allerdings keine Rede sein. Hier weichen aktuelle Einführungen zur historischen Migrationsforschung einer tief greifenden Beschäftigung mit dem Konzept "Minderheiten" aus.[10] Wie lässt es sich erklären, dass der Begriff nicht aufgegriffen und problematisiert wird?