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Behindertenrecht und Behindertenpolitik in der Europäischen Union | Menschen mit Behinderungen | bpb.de

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Behindertenrecht und Behindertenpolitik in der Europäischen Union

Bernd Schulte

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Mit dem am 1. Juli 2001 in seinen größten Teilen in Kraft getretenen Sozialgesetzbuch (SGB) Neuntes Buch (IX) - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen...

I. Die Lage der Behinderten in Deutschland und in der EU

Mit dem am 1. Juli 2001 in seinen größten Teilen in Kraft getretenen Sozialgesetzbuch (SGB) Neuntes Buch (IX) - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - ist eine umfassende Reform in der deutschen Behindertenhilfe eingeleitet worden, die bei allen zu Recht kritisierten, fortbestehenden Unzulänglichkeiten und Ergänzungsbedürftigkeiten einen wichtigen Schritt nach vorn darstellt. Die mit dieser neuen Gesetzgebung vorgegebenen Weiter-Entwicklungslinien des Rehabilitationssystems beinhalten nämlich zahlreiche Ansatzpunkte dafür, die Angebote für behinderte Menschen und die Strukturen des geltenden Behindertenrechts zu verbessern (wobei diese Ansätze allerdings bisher noch nicht in dem wünschenswerten Umfang in die Praxis umgesetzt worden sind).

Ein Überblick über die deutsche Reformgesetzgebung zeigt, dass sich die in der Neuregelung angelegten Reformstränge sowohl zugunsten behinderter Menschen als auch im Hinblick auf verbesserte Strukturen und Verfahren sowie kooperatives und koordinierendes Miteinander der Rehabilitationsträger keineswegs von selbst ergeben, sondern noch geschaffen werden müssen. Letztlich wird erst ein zu veränderndes Rollenverständnis aller Systemakteure und das einem solchen "reformorientiert-offenen" Verständnis verpflichtete tatsächliche Handeln der Rehabilitationsträger zeigen, ob die Impulse, die in der Neuregelung angelegt sind, aufgegriffen und konstruktiv umgesetzt werden. Schließlich wird ein Augenmerk darauf zu richten sein, ob Strukturentwicklung und Öffnung für ambulante und teilstationäre Leistungsoptionen ebenso stattfinden wie selbstbestimmte Leistungsgestaltungen über Geldleistungen, selbst beschaffte Hilfen und persönliche Budgets.

Die vorstehend skizzierte Situation der Menschen mit Behinderung in Deutschland schließt nicht nur inhaltlich an entsprechende Einrichtungen in anderen europäischen Ländern an, sondern sie ist auch eingebettet in einen rechtlichen, ökonomischen und politischen Rahmen, der in zunehmendem Maße vom Recht und von der Politik der Europäischen Union/Europäischen Gemeinschaft - des "Europäischen Systems" bzw. des "Europäischen Staatenverbundes" (in der Diktion des Bundesverfassungsgerichts) - geprägt wird. Etwa 38 Mio. Menschen aller Altersgruppen in der gesamten EU gelten als behindert, d.h. fast jeder zehnte Unionsbürger ist ein Mensch mit Behinderung.

Zur Herstellung der Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen ist eine breit angelegte Strategie erforderlich, die nicht nur die Bekämpfung der Diskriminierung i.e.S. umfasst, sondern darüber hinaus Menschen mit Behinderungen eine eigenständige Lebensführung erleichtert, welche stärkere soziale Eingliederung fördert, die Möglichkeiten für allgemeine und berufliche Bildung und lebenslanges Lernen sowie Beschäftigungsmöglichkeiten schafft und vorhandene Beschäftigungen verbessert sowie die Verfügbarkeit und die Qualität von Betreuung durch Dritte und durch unterstützende Technologien erhöht. Darüber hinaus besteht eine der größten Barrieren für Menschen mit Behinderung immer noch in der ablehnenden und entmündigenden Haltung ihrer Mitmenschen, ja der Gesellschaft insgesamt.

Am 20. Dezember 1996 ist eine Entschließung des Rates zur Chancengleichheit für behinderte Menschen verabschiedet worden, in der sich die Mitgliedstaaten zum Grundsatz der Chancengleichheit für Behinderte bekennen und zur Beseitigung aller Formen von Diskriminierungen verpflichten. Darin sind die Mitgliedstaaten zugleich aufgefordert worden, die Behindertenperspektive bei der Festlegung von Maßnahmen in allen einschlägigen Bereichen einzubeziehen, behinderten Menschen durch den Abbau von Hindernissen eine uneingeschränkte Mitwirkung am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen und die öffentliche Meinung dahingehend zu beeinflussen, dass sie sowohl den Fähigkeiten von Menschen mit Behinderung als auch Strategien, die auf Chancengleichheit für behinderte Menschen abzielen, aufgeschlossen gegenübersteht.

Die Europäische Sozialagenda, die auf der Tagung des Europäischen Rates vom 7. bis 9. Dezember 2000 in Nizza verabschiedet worden ist, fordert die "Weiterentwicklung, insbesondere im Rahmen des Europäischen Jahres der Behinderten (2003), sämtlicher Maßnahmen zugunsten einer besseren Eingliederung behinderter Personen in alle Bereiche des sozialen Lebens" durch die EU ein.

Die Europäische Kommission hat im Bereich Behinderung bereits einiges geleistet, auch in finanzieller Hinsicht. Derartige Hilfe kommt insbesondere einher in Gestalt von Maßnahmen des Europäischen Sozialfonds zur Unterstützung der Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Auch das Programm EQUAL (2000 - 2006) enthält spezielle Vorgaben für Aktivitäten, mit denen Diskriminierungen von Behinderten bekämpft werden sollen. Mit den für das Europäische Jahr der Behinderten vorgesehenen Mitteln will man ein umfassendes Engagement und Unternehmungen anregen wie z.B. Sensibilisierungsmaßnahmen, Events, Tagungen und Berichte. Ergänzend kommen sonstige Initiativen sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene hinzu.

Nach Artikel 13 EG-Vertrag kann die EU im Wege der Gemeinschaftsrechtsetzung geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Religion oder der Weltanschauung, der Rasse, des Alters, der sexuellen Ausrichtung und eben auch einer Behinderung zu bekämpfen. Auf der Grundlage dieser Bestimmung des EG-Vertrages hat der Rat am 27. November 2000 ein umfassendes Maßnahmenpaket zur Bekämpfung der Diskriminierung verabschiedet, das unter anderem eine Richtlinie zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlungen in Beschäftigung und Beruf sowie ein Aktionsprogramm der Gemeinschaft zur Bekämpfung von Diskriminierungen (2001 - 2006) beinhaltet. Durch die Richtlinie wird ein Rahmen für einklagbare Rechte im Bereich der Beschäftigung geschaffen in Gestalt von Bestimmungen, die sich auf wesentliche Fragen wie den Schutz vor Belästigungen, die Möglichkeit von Förderungsmaßnahmen, geeignete Rechtsbehelfe, Durchsetzungsmaßnahmen u.a. erstrecken. Von besonderem Belang ist, dass aufgrund dieser Richtlinie "angemessene Vorkehrungen" zu treffen sind und dementsprechend beispielsweise eine Verpflichtung begründet wird, den Arbeitsplatz an die Bedürfnisse behinderter Arbeitnehmer anzupassen.

Ziele des "Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen" 2003 sind:

- Sensibilisierung für das Recht der Menschen mit Behinderungen auf Schutz vor Diskriminierung und auf umfassende und gleichberechtigte Ausübung ihrer Rechte;

- Anstöße zu Reflexionen und Diskussionen über Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit für Menschen mit Behinderung in Europa;

- Förderung des Erfahrungsaustauschs über beispielhafte Verfahren und wirksame Strategien, die auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene entwickelt worden sind;

- Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderung, wie sie u.a. in der Grundrechtscharta der Europäischen Union festgelegt sind;

- die Zusammenarbeit aller Beteiligten (staatliche Einrichtungen auf allen Ebenen, Privatsektor, Interessengemeinschaften, Sozialpartner, Wissenschaftler, gemeinnützige Organisationen, Menschen mit Behinderungen und ihre Familienangehörigen);

- Hervorhebung des positiven Beitrags, den Menschen mit Behinderungen zur gesamten Gesellschaft leisten, indem der Wert der menschlichen und gesellschaftlichen Vielfalt unterstrichen und ein positives und wohlwollendes Umfeld geschaffen wird;

- Werbung um Verständnis der Heterogenität der Bevölkerungsgruppe der Menschen mit Behinderung sowie der vielfältigen Formen der Diskriminierung, denen sie ausgesetzt sind.

Der angesetzte Haushaltsplan für das Europäische Jahr der Behinderten ist vorbehaltlich der endgültigen Entscheidung der Haushaltsbehörde auf Europäischer Ebene für 2002 und 2003 auf insgesamt knapp 12 Mio. Euro festgesetzt.

II. Gemeinschaftsrechtliches Diskriminierungsverbot wegen der Staatsangehörigkeit

Der Europäische Gerichtshof hat durch Urteil vom 3. Oktober 2000 in der Rechtssache C-411/98 (Ferlini) entschieden, dass es eine durch Art. 12 Abs. 1 EG-Vertrag verbotene Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit darstellt, wenn eine Gruppe von Leistungserbringern des Gesundheitswesens ohne entsprechende sachliche Rechtfertigung gegenüber Beamten der Europäischen Gemeinschaften einseitig höhere Gebühren für ärztliche und pflegerische Leistungen im Rahmen einer stationären Krankenhausbehandlung - etwa bei einer Entbindung - festsetzt und erhebt als gegenüber Personen, die dem jeweiligen nationalen System der sozialen Sicherheit angeschlossen sind.

Im Ausgangsverfahren hatte eine luxemburgische Krankenanstalt dem Kläger als einer nicht dem nationalen - luxemburgischen - System der sozialen Sicherheit angeschlossenen Person höhere Gebührensätze in Rechnung gestellt, als sie auf Personen Anwendung fanden, die als Pflichtversicherte dem luxemburgischen System der sozialen Sicherheit angehörten. Der Europäische Gerichtshof hat für Recht erkannt, dass eine Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit vorliegt, wenn auf vergleichbare Sachverhalte unterschiedliche Regelungen angewandt werden oder wenn auf unterschiedliche Sachverhalte die gleiche Regelung angewandt wird. Dabei verbieten die Vorschriften über die Gleichbehandlung nicht nur offene (direkte) Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung (sog. mittelbare-indirekte Diskriminierung), die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen. Im vorliegenden Fall bedeutete das von dem luxemburgischen Leistungserbringer (Krankenhaus) verwendete Differenzierungsmerkmal der Zugehörigkeit zum nationalen System der sozialen Sicherheit, auf welchem die Anwendung unterschiedlicher Gebührensätze für die gleichen ärztlichen Leistungen und Krankenhausleistungen beruhte, eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit: Während nämlich die dem luxemburgischen Gemeinsamen Krankenfürsorgesystem und nicht dem nationalen System der sozialen Sicherheit angeschlossenen Personen, die im luxemburgischen Staatsgebiet ärztliche und Krankenhausleistungen in Anspruch nehmen, ganz überwiegend Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, sind die im Inland wohnhaften luxemburgischen Staatsangehörigen ganz überwiegend dem nationalen System der sozialen Sicherheit angeschlossen. Die fragliche Differenzierung wäre nur gerechtfertigt, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruhte, die von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängig sind, und wenn sie gemessen am rechtmäßig verfolgten Zweck verhältnismäßig wäre. Derartige Rechtfertigungsgründe waren im Ausgangsfall nicht gegeben. Diese Erwägungen lassen sich natürlich auch auf Rehabilitationsleistungen zugunsten von Menschen mit Behinderung übertragen und verlangen auch dort Gleichbehandlung von EU-Ausländern und Inländern.

III. Rehabilitation/(Wieder-)Ein- gliederung von Menschen mit Behin- derung und Europäisches Sozialrecht

1. Allgemeines

Der Bereich der Rehabilitation steht in Zusammenhang mit den jüngsten Entwicklungen auf EG-rechtlichem Gebiet vor zwei aktuellen Herausforderungen: zum einen vor der Frage nach der Geltung und Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten, zum zweiten derjenigen nach dem Verhältnis zwischen Rehabilitation und Europäischem Wettbewerbsrecht. Darüber hinaus wird sowohl Rehabilitation als auch die Lage von Menschen mit Behinderung ganz allgemein in wachsendem Maße auch von der allgemeinen Sozialpolitik der Gemeinschaft betroffen, die zunehmend nicht mehr lediglich "Annex (i.w.S.)" der Wirtschaftspolitik ist, wie dies bis in die achtziger Jahre hinein im Wesentlichen der Fall war, sondern die heute rechtlich und in wachsendem Maße auch politisch - vor allem seit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam am 1. Mai 1999 - eine eigengewichtige und gleichgewichtige Bedeutung erlangt hat mit der Folge, dass sich die Europäische Gemeinschaft in zunehmendem Maße auch als Sozialgemeinschaft begreift. Das Kapitel "Solidarität" und die in ihm aufgeführten sozialen Grundrechte der Charta der Grundrechte der Europäischen Union veranschaulichen plastisch diesen Paradigmenwechsel.

Vor diesem gemeinschaftsrechtlichen und -politischen Hintergrund hat sich die deutsche Bundesregierung bereits 1998 dafür ausgesprochen, kontinuierlich soziale Mindeststandards zu entwickeln, die sich europaweit beziehen könnten auf:

- Maßnahmen zur Herstellung von Chancengleichheit Behinderter im Arbeitsleben, insbesondere durch eine möglichst gute Qualifizierung;

- Maßnahmen zum Erhalt von Arbeitsplätzen, z.B. Bereitstellung erforderlicher Hilfsmittel und Arbeitsplatzausstattungen, Leistungen zum Erreichen für Behinderte erschließbarer Arbeitsplätze sowie Schutz vor ungerechtfertigten Entlassungen;

- Bereitstellung der notwendigen Berufsberatungs-, Berufsausbildungs-, Arbeitsvermittlungs- und Beschäftigungsdienste.

Die Europäische Sozialpolitik i.e.S. enthält somit Ansätze für eine Fortentwicklung der nationalen Behindertenpolitiken sowie Elemente einer Europäischen Behindertenpolitik "in nuce".

2. Europäisches koordinierendes Sozialrecht

Von Bedeutung ist schließlich auch das Europäische koordinierende Sozialrecht. Die auf Art. 42 EG-Vertrag gestützten Verordnungen (EWG) Nr. 1408/71 und Nr. 574/72 über die soziale Sicherheit der Arbeitnehmer und Selbständigen, die in der Gemeinschaft zu- und abwandern, und ihrer Familienangehörigen, enthalten eine Anzahl von Sonderregelungen für einzelne Leistungsarten: So werden nach den Vorschriften über Leistungen bei Krankheit (Art. 18 - 36 VO 1408/71) Sachleistungen - z.B. ambulante oder stationäre medizinische Behandlung und medizinische Rehabilitationsleistungen - grundsätzlich vom Träger des Wohn- oder Aufenthaltsortes gewährt, Geldleistungen hingegen unmittelbar vom zuständigen Träger des Beschäftigungsstaates bzw. des Staates der selbstständigen Tätigkeit.

Von zentraler Bedeutung für das Europäische Krankenversicherungsrecht ist die Bestimmung des Art. 22 VO 1408/71, welche die Frage betrifft, unter welchen Voraussetzungen in einem Mitgliedstaat gegen Krankheit versicherte Personen im Rahmen ihrer Versicherung eine Krankenbehandlung im EG-Ausland in Anspruch nehmen können. Gemäß Art. 22 Abs. 1 Buchst. a VO 1408/71 haben Personen bei vorübergehendem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat dort Anspruch auf Sachleistungen auf Kosten des zuständigen Trägers, wenn eine unverzügliche Behandlung notwendig ist (Art. 22 Abs. 1 Buchst. c, Abs. 2 S. 2 VO 1408/71), d.h. - so die Praxis -, wenn die Leistungsinanspruchnahme nicht bis zur Rückkehr in den zuständigen Staat aufgeschoben werden kann. Ansonsten ist eine Genehmigung der zuständigen Krankenkasse erforderlich, wobei ein Rechtsanspruch auf die Genehmigung einer solchen Behandlung im Ausland nur besteht in Bezug auf Leistungen, die im zuständigen Staat nicht in medizinisch angemessener Zeit erbracht werden können (nachdem dies früher vor einer entsprechenden Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen bereits dann der Fall war, wenn im EG-Ausland eine effizientere Behandlung möglich war). Diese Regelung steht in einem Spannungsverhältnis zur Dienstleistungsfreiheit, die auf eine umfassende Leistungsinanspruchnahme auch in anderen Mitgliedstaaten angelegt ist. Darüber hinaus sieht die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 bei Erkrankungen, die im Wohnsitzstaat entstanden sind, Auslandsbehandlungen nur dann vor, wenn die zuständige Krankenkasse dies zur angemessenen Gesundheitsversorgung genehmigt (Art. 22 Abs. 1 Buchst. c VO 1408/71), wobei dem zuständigen Träger ein weites Ermessen zusteht.

Kranken- und renten(versicherungs)rechtliche Rehabilitationsleistungen werden zwar unbestreitbar von der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 erfasst - Art. 4 Abs. 1 b -, es fehlt jedoch an spezifischen Koordinierungsregelungen hierzu. Der Europäische Gerichtshof hat diese Leistungen wie folgt qualifiziert: Soweit es sich hierbei um Sachleistungen handelt, werden sie den Leistungen bei Krankheit - Art. 18ff. VO 1408/71 - zugeordnet, weil die Vorschriften des Kapitels 2 des Titels 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Leistungen bei Invalidität nur Leistungen in Form von Geldleistungen erfassen. Die anzuwendenden Koordinierungsvorschriften etwa hinsichtlich des Übergangsgeldes sind dabei im Einzelnen ebenso unklar wie der Export von Rehabilitationsleistungen insgesamt, der kraft Gemeinschaftsrechts geboten ist. Auch die Zusammenrechnung mitgliedstaatlicher Versicherungszeiten ist entgegen anders lautenden Rechtsauffassungen von Rentenversicherungsträgern auch im Falle von Rehabilitationsmaßnahmen problemlos möglich, und zwar entweder nach Art. 45 VO 1408/71 oder bei Qualifizierung dieser Leistung als Leistung bei Krankheit nach Art. 18 Abs. 1 VO 1408/71. Insgesamt bedarf jedoch diese Leistungsart dringend einer ausdrücklichen und speziellen Koordinierung.

3. Nationales Sozialleistungssystem und Europäische Grundfreiheiten

Der Europäische Gerichtshof hat in seinen beiden Urteilen in den Rechtssachen "Decker" und "Kohll" die grundsätzliche Geltung der wirtschaftlichen Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes auch im Bereich der sozialen Sicherheit betont und für Recht erkannt, dass nationale Regelungen, welche die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen von der Genehmigung des Trägers der sozialen Sicherheit des Versicherten abhängig machen, im Widerspruch zu den Artikeln 30, 36, 43 und 49 EG-Vertrag über die wirtschaftlichen Grundfreiheiten stehen.

Angesichts der vom Europäischen Gerichtshof aufgezeigten grundsätzlichen Möglichkeit der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen stellt sich in den Mitgliedstaaten und auch in Deutschland - nicht zuletzt unter dem Erwartungsdruck der Versicherten, die Leistungen im Ausland in Anspruch nehmen wollen, sowie unter dem Druck der Sparpolitik von Leistungsträgern und Regierungen - die Frage, inwiefern das Sachleistungsprinzip, welches das für die medizinische Rehabilitation maßgebliche Krankenversicherungsrecht prägt, und die nationalen Gesundheitsdienste, welche in ihrer territorial abgegrenzten Ausgestaltung zwangsläufig zu einer Einschränkung der Freiheiten des Warenverkehrs und der Dienstleistungserbringung führen, noch gerechtfertigt werden können.

In diesem Zusammenhang ist zunächst festzuhalten, dass die Zugehörigkeit des Rehabilitationsrechts zum Gesamtsystem der sozialen Sicherheit nicht zur Folge hat, dass sie gleichsam als "Teilmasse" - und damit zugleich als Bereichsausnahme - vom Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts ausgenommen ist. Was das "Monopol" der Sozialversicherungssysteme und der nationalen Gesundheitsdienste in Bezug auf den sozialen Schutz bei Krankheit, Invalidität und Alter (einschließlich der Leistungen bei Rehabilitation) angeht, so ist es auch nach Maßgabe der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs - vorbehaltlich einer missbräuchlichen Ausnutzung eines derartigen "Monopols" - insofern "europafest", als diese Systeme der sozialen Sicherheit auf dem Solidarprinzip beruhen, dementsprechend finanzielle Umverteilungselemente enthalten und sich ausweislich der Beitragsgestaltung nicht nach Versicherungsmaßstäben am jeweiligen individuellen Risiko orientieren, sondern sich nach dem Einkommen der Versicherten richten und sich insbesondere auch im Hinblick auf die besonders umverteilungswirksame Familienversicherung (d.h. die Mitversicherung der nicht oder nur gering verdienenden Familienangehörigen des Versicherten) damit von der am Äquivalenzprinzip und am konkreten individuellen Risiko ausgerichteten Privatversicherung deutlich unterscheiden. Dementsprechend ist die Erbringung von Gesundheitsleistungen zwar eine Angelegenheit der sozialen Sicherheit und ist sozialer Natur, sie hat aber auch eine sehr bedeutsame wirtschaftliche Dimension mit der Folge, dass die Einbindung der Erbringung von Rehabilitationsleistungen in das System der sozialen Sicherheit an dem Waren- und Dienstleistungscharakter dieser Leistungen und damit zugleich an der Zugehörigkeit zum Gemeinsamen Markt bzw. Binnenmarkt und der sich daraus auch ergebenden Anwendbarkeit der entsprechenden gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten und des einschlägigen Europäischen Wirtschaftsrechts (Art. 81ff. EG-Vertrag) nichts ändert. Einschränkungen des Zugangs zu Gesundheitsleistungen im EU-Ausland und entsprechend auch zu Rehabilitationsleistungen bzw. Eingliederungsmaßnahmen etwa in Gestalt der Genehmigungsvorbehalte sowohl des nationalen Rechts (im deutschen Krankenversicherungsrecht in Gestalt der §§ 16-18 SGB V) als auch des supranationalen Rechts (in Gestalt des Art. 22 VO 1408/71) sind somit als Einschränkungen der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten zu begreifen.

Allerdings gibt es Rechtfertigungsgründe für Beschränkungen dieser Grundfreiheiten, die mit der finanziellen Stabilität des Gesundheitssystems, seiner qualitativen Ausgestaltung im Hinblick auf die Effizienz des Gesundheitsschutzes, dem Ziel, die Gesundheitsversorgung flächendeckend und umfassend der gesamten Bevölkerung zu gewährleisten, sowie der Steuerung im Gesundheitswesen zusammenhängen.

Da von der Möglichkeit der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen bisher nur sehr wenig Gebrauch gemacht worden ist (und wohl auch künftig werden wird) - ausweislich der bisherigen Genehmigungspraxis der Krankenkassen und der Erfahrungen der Privaten Krankenversicherung weniger als 0,5 Prozent des Ausgabenvolumens - und da überdies der Anspruch auf Kostenerstattung nach "Decker" und "Kohll" der Höhe nach begrenzt ist auf den Betrag, der für die entsprechende Leistung im Inland aufgewendet würde, so dass durch die Leistungsinanspruchnahme im Ausland dem zuständigen Leistungsträger grundsätzlich keine zusätzlichen Kosten erwachsen (während Einsparungen durchaus möglich sind, wenn die entsprechende Leistung im Ausland kostengünstiger erbracht wird), kommt eine Rechtfertigung aufgrund einer möglichen Gefährdung der finanziellen Stabilität des Leistungssystems in der Regel und insbesondere in Deutschland nicht in Betracht.

Ferner ist angesichts des Leistungsstands und der Dichte der medizinischen Versorgung in Deutschland gegenwärtig auch nicht absehbar, dass bei Zulässigkeit der Leistungsinanspruchnahme im Ausland eine entsprechende Verschlechterung der flächendeckenden gesundheitlichen Versorgung der gesamten Bevölkerung befürchtet werden müsste. So ist selbst für Grenzregionen - insbesondere in den Euregios -, in denen nach den bisherigen Erfahrungen die Hinwendung zu ausländischen Leistungserbringern am wahrscheinlichsten ist und von Grenzgängern, Privatpatienten und in Genehmigungsstätten auch bereits praktiziert wird, nicht erkennbar, dass durch das Ausmaß, in dem dies geschieht, die Versorgung der übrigen Bevölkerung gefährdet wird. Dies gilt jedenfalls - und unbestritten - für den nichtstationären Bereich.

Spezifische Steuerungsinstrumente des Gesundheitswesens einschließlich des Rehabilitationssystems könnten allerdings an Wirksamkeit einbüßen, ließe man die Leistungsinanspruchnahme im EG-Ausland zu, da sie i.d.R. auf dem Territorialitätsprinzip aufbauen, um auf diese Weise die Leistungserbringer vollständig zu erfassen und Budgetierung, Bedarfsplanung, Festbetragsregelungen u. Ä. "greifen" zu lassen. Allerdings ist es auch hier wieder Sache desjenigen, der sich beispielsweise auf mindere Qualitätsstandards im Ausland beruft, um die Versagung der Genehmigung einer Leistungsinanspruchnahme im EG-Ausland zu rechtfertigen, das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen dafür darzutun und ggf. auch zu beweisen.

Auch im EG-Ausland ansässige Leistungserbringer können im Ergebnis künftig im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit ihre Leistungen anbieten und erbringen. Die Rentenversicherungsträger sind verpflichtet, sie bei der Ermessensausübung nach Bedarfsgesichtspunkten einerseits und bei den Gesichtspunkten der Wirtschaftlichkeit andererseits genauso wie die Betreiber einheimischer Einrichtungen zu behandeln sowie ihnen ggf. die Erbringung der Rehabilitationsleistungen zu übertragen.

4. Europäisches Wettbewerbsrecht

Hier stellt sich die Frage, inwiefern der Wettbewerb im Rehabilitationswesen aufgrund der traditionellen Geltung und Praktizierung des Territorialitätsgrundsatzes auf Deutschland beschränkt bleiben kann oder inwieweit er als Teil des Binnenmarktes den EG-rechtlichen Wettbewerbsvorschriften der Art. 81ff. EG unterliegt und demgemäß zu "entterritorialisieren" und zugleich zu "europäisieren" ist.

Der systematische Aufbau der wettbewerbsrechtlichen Vorschriften des EG-Vertrages unterscheidet mit den Mitgliedstaaten einerseits und Unternehmen andererseits zwischen zwei unterschiedlichen Adressaten seiner Regelungen:

In einem ersten Abschnitt - "Vorschriften für Unternehmen" überschrieben (Art. 81-86 EG-Vertrag) - sind Regelungen enthalten, welche Unternehmen betreffen und die insbesondere ein Verbot von wettbewerbsbeschränkenden Absprachen so-wie des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung enthalten.

Die Vorschriften des zweiten Abschnitts - "Beihilfen" (Art. 87-89 EG-Vertrag) - wenden sich an die Mitgliedstaaten, denen es grundsätzlich untersagt ist, den Wettbewerb verfälschende Beihilfen zu gewähren.

Der in Abschnitt 1 Vorschriften für Unternehmen (Art. 81-86 EG-Vertrag) des Kapitels 1. Wettbewerbsregeln verwandte Unternehmensbegriff ist "Europäischer" Natur, d.h., seine Bestimmung hat vor dem Hintergrund der Zielsetzung des EG-Vertrages zu erfolgen, die Freiheit des Wettbewerbs bestmöglich zu gewährleisten. Demgemäß liegt dem Gemeinschaftsrecht - welches den Begriff des "Unternehmens" im Übrigen nicht definiert - ein funktioneller Unternehmensbegriff zugrunde, der sich an Sinn und Zweck der Wettbewerbsvorschriften sowie dem übergreifenden Ziel orientiert, ein System unverfälschten Wettbewerbs im Gemeinsamen Markt zu gewährleisten.

Demgemäß ist "Unternehmen" jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung. Dieser Unternehmensbegriff erfasst natürliche und juristische Personen sowie auch sonstige nichtrechtsfähige Personenvereinbarungen, soweit sie eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben.

"Wirtschaftliche Tätigkeit" im vorstehend bezeichneten Sinne ist jede auf Dauer angelegte Tätigkeit, die darin besteht, Güter und Dienstleistungen auf dem Markt anzubieten. Der Begriff ist weit und umfassend zu verstehen und schließt wirtschaftliche Tätigkeiten jeglicher Art ein. Auf eine Absicht der Gewinnerzielung kommt es nicht an. Auch der Staat ist "Unternehmen" im vorstehend bezeichneten Sinne, soweit er entsprechend unternehmerisch tätig wird.

Allein hoheitliches Handeln des Staates oder seiner Untergliederungen entbehrt des Charakteristikums der Wirtschaftlichkeit im Sinne des Europäischen Wettbewerbsrechts mit der Folge, dass ein entsprechendes Handeln nicht unter die Art. 81ff. EG-Vertrag fällt. Für einen wirtschaftlichen Charakter einer Tätigkeit spricht insbesondere eine synallagmatische Beziehung, d.h. ein unmittelbarer Austausch von Leistung und Gegenleistung. Entsprechendes gilt für das Bestehen eines - aktuellen oder potentiellen - Wettbewerbsverhältnisses zu privaten Unternehmen: Bietet der Staat bzw. ein öffentliches Unternehmen eine Leistung auf dem Markt an, die in derselben Weise auch von privaten Wirtschaftsteilnehmern angeboten wird bzw. angeboten werden könnte, so liegt es nahe, ein wirtschaftliches Verhalten zu bejahen.

Offen ist die Frage, inwiefern die Qualifizierung einer derartigen staatlichen Tätigkeit als im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse liegend - gleichsam die Qualifizierung als "zur Daseinsvorsorge gehörig" (in der deutschen Begrifflichkeit) - im Sinne des Art. 16 EG-Vertrag bzw. des Art. 87 Abs. 2 EG-Vertrag eine andere Beurteilung gebietet. Diese Vorschrift des Art. 16 entbehrt bisher der hinreichenden Konkretisierung und steht im Mittelpunkt entsprechender Aktivitäten der Europäischen Kommission; der Europäische Gerichtshof hat bisher noch keine Gelegenheit gehabt, sich mit dieser Vorschrift zu befassen.

Die genannten Orientierungslinien lassen sich für einzelne Bereiche konkretisieren und präzisieren. Dies gilt insbesondere auch für den Bereich des sozialen Schutzes und der sozialen Sicherheit als seines Kernbereichs. Der Europäische Gerichtshof hat befunden, dass soziale Sicherungssysteme durch zwei Merkmale gekennzeichnet sind:

- Sie dienen einem sozialen Zweck, indem sie an der Durchführung der öffentlichen Aufgabe "soziale Sicherheit" mitwirken;

- die von ihnen ausgeübte Tätigkeit beruht auf dem Grundsatz der nationalen Solidarität, der sich dahingehend auswirkt, dass die Leistungen von Gesetzes wegen unabhängig von der Höhe zuvor erbrachter Vorleistungen in Gestalt von Beiträgen erbracht werden, mit der Folge einer Umverteilung.

Sind die genannten Voraussetzungen erfüllt, so handelt es sich bei der betreffenden Tätigkeit um eine solche nichtwirtschaftlicher Art mit der Folge, dass es sich bei den Trägern der sozialen Sicherheit um keine Unternehmen i.S.d. Art. 81ff. EG-Vertrag handelt. Damit besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Sicherungssystemen, die auf dem Umlageverfahren beruhen und solidarisch ausgestaltet sind, einerseits, und solchen, die auf dem Kapitaldeckungsverfahren beruhen und potentiell im Wettbewerb zu privaten Versicherungsunternehmen stehen, andererseits.

5. Personen mit Behinderung und Europäische Grundrechte

Der Konvent, dem es aufgegeben war, den Entwurf einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu erarbeiten, hat sich grundsätzlich auch für die Aufnahme wirtschaftlicher und sozialer Rechte in dieses Ende des Jahres 2000 auf dem Gipfel in Nizza verabschiedete neue Rechtsinstrument entschieden. Der Entwurf enthält folgende behindertenrechtlich relevanten Bestimmungen: Artikel 21: Nichtdiskriminierung, Artikel 34: Soziale Sicherheit und soziale Unterstützung, Artikel 35: Gesundheitsschutz und Artikel 36: Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse.

Diese Charta der Grundrechte der Europäischen Union entbehrt noch der rechtlichen Verbindlichkeit, gibt aber die Richtung an, in welche die Sozial-Grundrechtlichkeit auf Europäischer Ebene gedacht wird und demnächst - wahrscheinlich auf Vorschlag des Konvents, der derzeit über eine "Verfassungsordnung für Europa" berät - fortentwickelt werden wird. Zugleich illustrieren die behindertenspezifischen und -relevanten Bestimmungen den hohen Stellenwert des Behindertenschutzes und des Diskriminierungsverbots wegen Behinderung gerade auch im Europäischen Recht.

6. Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung

Betrachtet man die internationale Entwicklung, so schien es in der Tat nur eine Frage der Zeit zu sein, wann der Europarechtliche Schutz vor Diskriminierungen im Arbeitsleben - dem im Übrigen aus rechtsvergleichender Sicht eine Vorbildfunktion zukommt - auf andere Merkmale als das Geschlecht ausgedehnt werden würde. Ein entscheidender Schritt vorwärts erfolgte im Jahr 2000. Am 29. Juni 2000 wurde die Richtlinie 2000/43/EG verabschiedet, die (nicht nur) dem Arbeitgeber eine Diskriminierung wegen der Rasse oder der ethnischen Herkunft verbietet, am 27. November 2000 folgte die Richtlinie 2000/78/EG, durch die eine Benachteiligung des Arbeitnehmers wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität verboten werden soll. Die Bedeutung dieser Europäischen Rechtsakte gerade für Deutschland kann kaum überschätzt werden, denn anders als andere Rechtsordnungen hat sich beispielsweise das deutsche Arbeitsrecht nicht am Diskriminierungsschutz orientiert. Der Europäische Gesetzgeber bedient sich hingegen seit Jahren dieses Ansatzes, um immer weitere Bereiche des Arbeitsrechts zu ordnen.

Der Gemeinsame Standpunkt (EG) Nr. 32/2001 im Hinblick auf den Erlass der Richtlinie 2001 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, der vom Rat am 23. Juli 2001 angenommen worden ist, illustriert die Art und Weise, wie Diskriminierungen bekämpft werden können.

Das neue Rechtsinstrument stützt sich u.a. darauf, dass nach Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union die Union auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit beruht, die allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Auch achtet die Union die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarates gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als eine Quelle allgemeiner Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.

Die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und der Schutz vor Diskriminierung ist ein allgemeines Menschenrecht, welches Anerkennung findet in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, im Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung aller Formen der Diskriminierung von Frauen, im Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen sowie in der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die von allen Mitgliedstaaten unterzeichnet wurden.

Die Richtlinie 76/207/EWG achtet die Grundrechte und entspricht den insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Grundsätzen. In dieser Richtlinie werden die Begriffe der unmittelbaren und der mittelbaren Diskriminierung nicht definiert. Der Rat hat auf der Grundlage von Artikel 13 EG-Vertrag die Richtlinie 2000/43/EG vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft und die Richtlinie 2000/78/EG vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf angenommen, in denen die Begriffe der unmittelbaren und der mittelbaren Diskriminierung definiert werden. Daher ist es angezeigt, Begriffsbestimmungen in Bezug auf das Geschlecht aufzunehmen, die mit diesen Richtlinien übereinstimmen.

Die Beurteilung von Sachverhalten, die auf eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung schließen lassen, obliegt den einzelstaatlichen gerichtlichen Instanzen oder anderen zuständigen Stellen nach den nationalen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten. In diesen einzelstaatlichen Vorschriften kann insbesondere vorgesehen sein, dass eine mittelbare Diskriminierung mit allen Mitteln, einschließlich statistischer Beweise, festgestellt werden kann. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs liegt eine Diskriminierung vor, wenn unterschiedliche Vorschriften auf gleiche Sachverhalte angewandt werden oder wenn dieselbe Vorschrift auf ungleiche Sachverhalte angewandt wird.

Artikel 141 Absatz 4 EG-Vertrag gestattet den Mitgliedstaaten, spezifische Vergünstigungen zugunsten des unterrepräsentierten Geschlechts beizubehalten oder zu beschließen. In Anbetracht der aktuellen Situation und unter Berücksichtigung der Erklärung 28 zum Vertrag von Amsterdam sollten die Mitgliedstaaten in erster Linie eine Verbesserung der Lage der Frauen im Arbeitsleben anstreben.

Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nur dann als tatsächlich verwirklicht angesehen werden kann, wenn bei Verstößen gegen diesen Grundsatz den Beschäftigten, die Opfer einer Diskriminierung wurden, eine dem erlittenen Schaden angemessene Entschädigung zuerkannt wird. Er hat ferner entschieden, dass eine im Voraus festgelegte Höchstgrenze einer wirksamen Entschädigung entgegenstehen kann und die Gewährung von Zinsen zum Ausgleich des entstandenen Schadens nicht ausgeschlossen werden darf.

Um Opfern von Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts einen effektiveren Rechtsschutz zu gewährleisten, sollten auch Verbände, Organisationen und andere juristische Personen unbeschadet der nationalen Verfahrensregeln bezüglich der Vertretung und Verteidigung vor Gericht sich zugunsten eines Opfers oder zu seiner Unterstützung an einem Verfahren beteiligen können. Die Mitgliedstaaten sollten auch wirksame Sanktionen festlegen können für den Fall einer Verletzung der entsprechenden Verpflichtungen.

7. Ausblick

Eine Europäische Politik für Menschen mit Behinderung gibt es bereits. Sie bündelt Rechtsregelungen und Politiken, die in den Mitgliedstaaten praktiziert werden, namentlich soziale Leistungen für Menschen mit Behinderung und Maßnahmen gegen Diskriminierung. Darüber hinaus gibt es eine Abstimmung der Behindertenpolitiken der Mitgliedstaaten auf freiwilliger Basis, in jüngster Zeit mündend in die politische Strategie der sog. "offenen Methode der Koordinierung", die nach ihrer Anwendung in der Wirtschafts- und - seit Ende der neunziger Jahre - in der Beschäftigungspolitik auch im Bereich des Sozialschutzes, nämlich in der Politik der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung, der Alterssicherung, im Gesundheitswesen und - demnächst - in der Altenpflege und damit im Bereich der sozialen Dienste praktiziert wird. Tragendes Element dieser Strategie ist die Vereinbarung gemeinsamer Ziele, deren "An-" und "Abnäherung" anhand von gemeinsam konzertierten Indikatoren in einem regelhaften Verfahren, das in einem festen zeitlichen Rahmen eingebettet ist. Dabei wird die jeweilige nationale Entwicklung in einem nationalen Bereich abgebildet, der mit den entsprechenden Berichten der anderen Mitgliedstaaten verglichen und gemeinsam in einem Europäischen Bericht bewertet wird. Hier liegt ein weiterer Ansatzpunkt für eine Fortentwicklung der Behindertenpolitik sowohl auf nationaler als auch auf supranationaler/Europäischer Ebene.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dieser Beitrag ist entstanden im Rahmen des Forschungsprojekts "Behinderung und Menschen mit Behinderung im Politik- und Rechtsvergleich in Asien und Europa", durchgeführt von Professor Dr. Bernd von Maydell, Bonn/München, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht, Professor Dr. Rainer Pitschas, Verwaltungshochschule Speyer, und Dr. Bernd Schulte, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht, München. 1Vgl. zur "Europäischen" (EU/EG) Dimension des Projekts B. Schulte, Einordnung des Forschungsprojekts in das Recht der beteiligten europäischen Staaten und in das Europäische Sozialrecht und die Europäische Sozialpolitik, in: R. Pitschas/B. von Maydell/B. Schulte (Hrsg.), Teilhabe behinderter Menschen an der Bürgergesellschaft in Asien und Europa - Eingliederung im Sozial- und Rechtsvergleich, Speyer 2002, S. 11ff.; ders., Behindertenpolitik und Behindertenrecht in der Europäischen Union als Gemeinschaftsprojekte in: B. von Maydell/R. Pitschas/B. Schulte (Hrsg.), Behinderung in Asien und Europa in Politik- und Rechtsvergleich. Mit einem Beitrag zu den USA, Baden-Baden 2003, S. 478ff.

  2. Vgl. P. Gitschmann, Mehr Selbstbestimmung und Teilhabe für behinderte Menschen. SGB IX als Reformchance, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge (NDV), 52 (2002), S. 16ff.

  3. Zu einem Überblick über das Behindertenrecht der 15 EU-Mitgliedstaaten sowie Islands, Liechtensteins und Norwegens als weiteren EWR-Mitgliedstaaten und der Schweiz vgl. demnächst MISSOC (= Mutual Information System of Social Security), MISSOC-Info, (2003) 1: Sozialer Schutz für Menschen mit Behinderung, Brüssel (i.E.).

  4. ABl. EG Nr. L 303 vom 2.12.2000, S. 16.

  5. Ebd., S. 23.

  6. EuGH. Urt. vom 3. 10. 2000, RS C-411/98 (Ferlini), Slg. 2000, I-8081

  7. Vgl. B. Schulte, Rehabilitation und Europäisches Gemeinschaftsrecht, in: G. Igl/F. Welti (Hrsg.), Die Verantwortung des sozialen Rechtsstaats für Personen mit Behinderung und für die Rehabilitation, Wiesbaden 2001.

  8. So für die deutsche Praxis R. Neumann-Duesberg, Krankenversicherung, in: B. Schulte/H. Zacher (Hrsg.), Wechselwirkungen zwischen dem Europäischen Sozialrecht und dem Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1991, S. 83ff.

  9. Vgl. dazu P. Mavridis, Leistungen bei Erkrankungen und Mutterschaft, in: Kommission der EG (Hrsg.), Die soziale Sicherheit der Personen, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, Soziales Europa 3/92, Luxemburg 1993, S. 32ff., 34.

  10. EuGH, Urteil vom 10. 1.1980, RS 69/79 (Jordens-Vosters), Slg. 1980, 75.

  11. Vgl. hierzu R. Schuler, Invaldität und Alter (Renten), in: E. Eichenhofer (Hrsg.), Die Reform des Europäischen koordinierenden Sozialrechts, Köln 1992.

  12. Vgl. in diesem Sinne etwa - statt aller - Jung, in: E. Grabitz/M. Hilf (Hrsg.), Kommentar zum EU-Vertrag, Bd. 1, Art. 82 EG Rdnr. 22; auch Schröter in: H. v. der Groeben/J.Thiesing/K. D. Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EU-Vertrag/EG-Vertrag Bd. 2/1, Baden-Baden 1999 5 , vor Art. 85 - 89, Rdnr. 26.

  13. Vgl. EuGH, RS 66/92 (Herlitz ./. Kommission), Slg. 1994, II-531ff., 534, Rdnr. 32.

  14. Vgl. EuGH, RS C-343/95 (Diego Cali & Figli), Slg. 1997, I-1549ff., 1587, Rdnr. 16.

  15. EuGH (Anm. 6), Slg. 1987, 2599ff., 2621 (Rdnr. 7).

  16. EuGH, Slg. 1993, I-637ff., 670, Rn. 18ff.

  17. Vgl. G. Thüsing, Handlungsbedarf im Diskriminierungsrecht. Die Umsetzungserfordernisse auf Grund der Richtlinien 2000/78/EG und 2000/43/EG, in: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA), (2001), S. 1061f.; U. Davy, Das Verbot der Diskriminierung wegen der Behinderung im deutschen Verfassungsrecht und im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Deutscher Sozialrechtsverband (Hrsg.), Die Behinderten in der sozialen Sicherung, Wiesbaden 2002, S. 7 ff.

  18. Vgl. zum US-amerikanischen Recht, das eine ähnliche Entwicklung mit etwa 20-jährigem Vorsprung vor Europa genommen hat, J. Lewis, Discrimination Law, New York 1994. Siehe im Übrigen zur US-amerikanischen Antidiskriminierungspolitik in Bezug auf Menschen mit Behinderung den Bericht von Graser in: B. v. Maydell/R. Pitschas/B. Schulte (Anm.1).

  19. ABl. EG 2000 Nr. L 180 S. 20; ABl. EG Nr. L 303, S. 16.

  20. ABl. EG 2001 Nr. C 307/5.

  21. ABl. EG 1976 L 39 vom 14.2.1976, S. 40.

  22. EuGH, RS C-394/96 (Brown), Slg. 1998, I-4185; RS C-342/93 (Gillespie), Slg. 1996, I-475.

  23. EuGH, RS C-180/95 (Draehmpaehl), Slg. 1997, I-2195; EuGH, RS C-271/95 (Marshall), Slg. 1993, I-4367.

Dr. jur.., geb. 1946; wiss. Referent des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht, München.
Anschrift: MPI für ausländisches und internationales Sozialrecht, Amalienstr. 33, 80799 München.
E-Mail: E-Mail Link: Schulte@mpisoc-muenchen.mpg.de

Veröffentlichungen u.a.: Altenhilfe in Europa, St. Augustin 2002; (Hrsg. zus. mit Rainder Pitschas und Bernd Maydell) Behinderung in Asien und Europa im Politik- und Rechtsvergleich. Mit einem Beitrag aus den USA, Baden-Baden 2003.