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Deutschland - Frankreich: Die Herausforderungen für die gemeinsame Zukunft | Deutsch-französische Beziehungen | bpb.de

Deutsch-französische Beziehungen Editorial Deutschland - Frankreich: Die Herausforderungen für die gemeinsame Zukunft 40 Jahre Elysée-Vertrag: Hat das deutsch-französische Tandem noch eine Zukunft? Die Bedeutung der deutsch-französischen Kooperation für den europäischen Integrationsprozess Deutsche und französische Perspektiven einer Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europäisierung nationaler politischer Identitäten in Deutschland und Frankreich Die sozialen und kulturellen Beziehungen Frankreichs und Deutschlands seit 1945

Deutschland - Frankreich: Die Herausforderungen für die gemeinsame Zukunft

Brigitte Sauzay

/ 7 Minuten zu lesen

Deutschland und Frankreich sind durch ein engmaschiges institutionelles Netz miteinander verbunden. Diese bilaterale Kooperation stellt einen Regelungsmechanismus auch für die europäische Ebene dar.

Einleitung

Am 22. Januar 2003 feiern Deutschland und Frankreich den 40. Jahrestag des Elysée-Vertrages. Dieses Jubiläum ist nicht nur Anlass, um Bilanz zu ziehen. Vielmehr bietet dieser "Geburtstag" auch Gelegenheit, über gegenwärtige Entwicklungen im deutsch-französischen Verhältnis und über unsere gemeinsame Zukunft nachzudenken. Der Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit, den Bundeskanzler Konrad Adenauer und Staatspräsident Charles de Gaulle 1963 schlossen, besiegelte und krönte die Versöhnung zwischen unseren Gesellschaften. Gemeinsam sind Deutsche und Franzosen durch die Höhen und Tiefen der Geschichte gegangen. Adenauer und de Gaulle ist es gelungen, den tiefsten Graben - jenen, den Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg hinterlassen hatten - zu überwinden. Und ohne Übertreibung können wir sagen, dass unsere Gesellschaften heute so eng miteinander verflochten sind wie nie zuvor.

Der Elysée-Vertrag hat nicht nur eine einzigartige Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten begründet, die in halbjährlichen Regierungskonsultationen, der permanenten Kommunikation zwischen den Staats- und Regierungschefs, Ministern und Beamten sowie in bilateralen Initiativen im europäischen Rahmen ihren sichtbarsten Ausdruck findet. Vielmehr erwuchs aus ihm eine bis heute einzigartige Verbindung zwischen zwei Nationen. Die Zivilgesellschaften beider Länder füllen zunehmend den Rahmen, den die Politik geschaffen hat. Aus einem Dialog der Regierungen ist ein Dialog der Gesellschaften entstanden. Wie steht es heute um das deutsch-französische Verhältnis?

I. Strukturwandel im deutsch-französischen Verhältnis

Die Wiedervereinigung Deutschlands läutete einen Strukturwandel in den bilateralen Beziehungen ein. Die deutsche Einheit, deren Tragweite vielen Franzosen erst mit dem Umzug der Bundesregierung nach Berlin deutlich wurde, markiert das Wiedererstehen eines selbstbewussten Deutschlands, das sich offen zu seiner nationalen Identität, seinen Interessen und seinen wachsenden internationalen Aufgaben bekennt und sich gleichzeitig seiner Verantwortung für Europa bewusst ist.

Eine noch grundlegendere Veränderung ist zweifellos mit dem Generationenwechsel eingetreten: Die Akteure der deutsch-französischen Beziehungen sind heute nicht mehr von dem Bedürfnis nach Aussöhnung geprägt, das in der Nachkriegszeit noch die stärkste politische und moralische Motivation für die Annäherung darstellte. Diese Feststellung gilt bei weitem nicht nur für die jüngere Generation von Politikerinnen und Politikern, die jene schmerzhafte Erfahrung des Krieges im Allgemeinen nicht gemacht hat; sie gilt für die gesamte neue Generation von Experten der deutsch-französischen Beziehungen, für Studenten und Arbeitnehmer und für jeden Bürger, der Kontakte zum Nachbarland hat. Die Mehrheit von ihnen ist mit außerordentlich engen bilateralen Beziehungen aufgewachsen, sie agieren auf einem bestellten Feld. Sie sind in einem europäischen Rahmen sozialisiert, der den selbstverständlichen Bezugspunkt für jeden Austausch zwischen Deutschland und Frankreich darstellt.

Dies ist ein kaum zu ermessender Erfolg des Elysée-Vertrages, der vielen von uns heute nicht mehr bewusst ist. Viele der Ideale und Ziele, die in der Aussöhnungsphase formuliert wurden, sind erreicht, besonders die Entmystifizierung des Partnerlands. Deutsche und Franzosen stehen heute vor denselben Alltagsschwierigkeiten, was zu einer Normalisierung, ja Banalisierung des bilateralen Verhältnisses geführt hat. Dies wird zuweilen von Kommentatoren beklagt. Die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern "leiden" insofern unter ihrem eigenen Erfolg. Wer diesen Erfolg beklagt, sollte nicht vergessen, dass die gegenseitige Faszination auch im Zusammenhang mit dem historisch konfliktbeladenen Verhältnis, der Tradition des Hasses und der Feindseligkeit einherging.

Kennzeichnend für die jüngere Generation der Akteure auf dem deutsch-französischen Feld ist - auch dies ein Kennzeichen der Normalität - ein unbefangener Umgang miteinander, eine neue Offenheit und Ehrlichkeit, die keineswegs Ausdruck von größerer Distanz, sondern ganz im Gegenteil von größerer Nähe und Vertrautheit ist. Heute sind die deutsch-französischen Beziehungen so weit gediehen, dass es keine Tabus mehr gibt und Meinungsverschiedenheiten offen angesprochen werden. Im Grunde liegt darin die größtmögliche Belohnung für all die Anstrengungen der vergangenen fünfzig Jahre.

Verändert haben sich mit dem Generationenwechsel aber auch die Inhalte der deutsch-französischen Kooperation. Während früher die Bewältigung der Vergangenheit und die Versöhnung die zentralen Themen waren, geht es heute vor allem um die Bewältigung der Zukunft. Das Verhältnis unserer beiden Länder zueinander ist nicht mehr der einzige Zweck der Kooperation, sondern gemeinsame Interessen im größeren - europäischen und globalen - Rahmen prägen nun die Zusammenarbeit. Die deutsch-französische Beziehung ist damit nicht mehr nur Selbstzweck und Inhalt, sondern sie ist Methode geworden, ein Modus und Regelungsmechanismus für Herausforderungen, die von außen an unsere Länder herangetragen werden. Dies dürfte im Zuge der Osterweiterung der Europäischen Union (EU) umso mehr gelten, als ein Europa der 25 von Krisen und Blockaden nicht verschont bleiben wird. Der deutsch-französische Dialog könnte hier wie schon in der Vergangenheit als Modell der Kompromissfindung dienen.

Und schließlich hat in den vergangenen Jahren die Zivilgesellschaft an Gewicht gewonnen. Standen bislang die Regierungszusammenarbeit, der Jugend- und Studentenaustausch und die Städtepartnerschaften im Zentrum, so gewinnen heute Kontakte zwischen Multiplikatoren und Entscheidungsträgern aus allen Gesellschaftsbereichen an Bedeutung. Überlegungen zu Zukunftsthemen finden auf der Basis eines dichten Netzwerkes statt, das Ergebnis eines starken politischen Willens und des konsequenten Engagements von Persönlichkeiten und Institutionen ist. Hier sind die stetige Zunahme der Austauschprogramme - insbesondere im Rahmen des Deutsch-Französischen Jugendwerks - zu nennen sowie der Erfolg politischer, wirtschaftlicher und kultureller Projekte, denken wir nur an die mutige Gründung des europäischen Fernsehkanals ARTE. Bei der Schaffung eines gemeinsamen Europas ist der weitere Aufbau von Netzwerken in allen Teilen der Zivilgesellschaft, auch über die nationalen Grenzen hinaus, von elementarer Bedeutung. Nur so werden die Bürger sich langfristig in Europa zu Hause fühlen.

II. Die Zukunft unserer Beziehungen

Mit dem Generationenwechsel, der Wiedervereinigung, dem Regierungsumzug nach Berlin und mit den neuen Herausforderungen im Rahmen der EU haben sich also die Grundkoordinaten des deutsch-französischen Verhältnisses verändert. Anhand einiger Politikfelder lässt sich skizzieren, wie Deutschland und Frankreich in Zukunft ein Labor für die zunehmende Integration in Europa sein könnten.

1. Europäische Öffentlichkeit

Mit der Einleitung des Post-Nizza-Prozesses und den Arbeiten des Europäischen Konvents rückt die Notwendigkeit einer europäischen Öffentlichkeit als unerlässlicher Bestandteil einer europäischen Demokratie und eines Europas der Bürger verstärkt ins Bewusstsein. Eine gemeinsame Verfassung wird nur dann mit demokratischer Legitimation erfüllt sein, wenn es zwischen den Völkern Europas Kommunikationskanäle für öffentliche Debatten gibt. Deshalb beschäftigte sich der Deutsch-Französische Gipfel in Schwerin im Juli 2002 schwerpunktmäßig mit dem Thema europäische Öffentlichkeit. Die Medien spielen dabei naturgemäß eine Schlüsselrolle. Wir brauchen deshalb:

- eine weitere Stärkung und Verbreitung von ARTE,

- eine verstärkte grenzüberschreitende Berichterstattung,

- einen starken europäischen Film- und Medienmarkt,

- eine europäische Zeitung und ein europäisches Verlagswesen,

- die Präsenz von Journalisten und Moderatoren aus dem Nachbarland,

- die gemeinsame deutsch-französische Ausbildung von Journalisten,

- europäische Talkshows, Presseclubs und Diskussionsrunden in den Medien.

Deutschland und Frankreich werden auch hier eine entscheidende Rolle spielen. Aber die Medien allein können ein Europa des politischen und intellektuellen Dialogs und der grenzüberschreitenden Kommunikation nicht schaffen. Nötig sind dazu auch europäische Parteien mit transnationalen Listen bzw. politischen Identifikationsfiguren. Nur durch grenzüberschreitende Verständigung entsteht auch Verständnis und wird Europa als Lebenswelt Realität. Und nur so wird, frei nach Willy Brandt, in Europa künftig "zusammenwachsen, was zusammengehört".

2. Europäischer Bildungsraum

Die Reform unseres Bildungssystems in der globalisierten Wissensgesellschaft hat eine europäische Dimension. Deutschland und Frankreich werden als Wissenschafts- und Wirtschaftsstandorte umso wettbewerbsfähiger sein, je stärker Europa in diesem Bereich ist. Angesichts des brain-drains, der von amerikanischen Hochschulen und Forschungszentren ausgeht, scheinen europäische centers of excellence für Wissenschaft, Forschung und Anwendung notwendig. Diese müssen das vorhandene Potential an Intelligenz und Kreativität bündeln und nutzen. Um einen europäischen "Bildungsraum" zu schaffen, ist es nötig,

- die Attraktivität der deutschen und französischen Sprache für unsere Schüler zu erhöhen,

- unsere Schulsysteme wie Hochschulen durch Auslandsjahre und die gegenseitige Anerkennung der Leistungen zu öffnen (eine Vorreiterrolle kann hier das von mir initiierte Voltaire-Programm bilden, das auch zahlreiche private Firmen und Stiftungen finanzieren),

- binationale Studiengänge und Doppeldiplome auszuweiten sowie die Deutsch-Französische Hochschule in Saarbrücken zu stärken,

- hochrangige Praktiker aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung in die Lehre an renommierten Hochschulen und Forschungszentren (wie dies z.B. am Institut d'Etudes Politiques und an der ENA in Paris üblich ist) einzubinden.

3. Europäischer Wirtschafts- und Rechtsraum

Deutschland und Frankreich sind füreinander die mit Abstand wichtigsten Wirtschaftspartner. Zunehmende deutsch-französische Kooperationen und Fusionen bilden den Kern für die Entwicklung einer europäischen Unternehmenslandschaft und -kultur, die eine Zwischenstufe zwischen nationalen Traditionen und globalen Entwicklungen darstellen kann. Zudem bieten sie die Chance, den Wirtschaftsstandort Europa zu stärken.

Bei der Gestaltung der Globalisierung kann Europa eine Vorbildfunktion einnehmen durch sein spezifisches Wirtschafts-, Rechts- und Sozialmodell, das geprägt ist von freier Markwirtschaft und Liberalismus, aber auch von Solidarität, gesetzlich verankerten Arbeitnehmerrechten und den Prinzipien nachhaltigen Wirtschaftens in sozialer und ökologischer Verantwortung. Bei der weiteren Harmonisierung des Rechtsraumes Europa kommt Deutschland und Frankreich eine besondere Rolle zu. Denkbar sind hier folgende Ansätze:

- die Reflexion über eine europäische Unternehmensverantwortung und -kultur,

- die Stärkung des europäischen Wirtschaftsstandortes durch deutsch-französische Unternehmenskooperationen und -fusionen,

- die Annäherung des deutsch-französischen Rechtsrahmens und des europäischen Gesellschaftsrechts.

III. Ausblick

Wenn wir in diesen Tagen den 40. Jahrestag des Elysée-Vertrages feiern, so sollten wir uns an den Mut und die Weitsicht erinnern, die Konrad Adenauer und Charles de Gaulle bewiesen haben. Die Generation der Pioniere auf dem "deutsch-französischen Feld" kämpfte für mehr Austausch und den Aufbau enger Beziehungen. Weil diese Frauen und Männer an die deutsch-französische Aussöhnung und das europäische Aufbauwerk glaubten, als Europa sich gerade erst von der grauenhaften Erfahrung des Nationalsozialismus erholte, wurden diese möglich. Ohne die Magnetwirkung, welche die Zusammenarbeit von Deutschland und Frankreich im entstehenden Europa entwickelte, hätte unser Kontinent kaum zu seiner Einheit gefunden. Unsere beiden Länder haben die Welt dauerhaft verändert. Bewahren wir uns diese Kraft zur Veränderung auch für die Zukunft.

geb. 1947; Beraterin des Bundeskanzlers für deutsch-französische Beziehungen; Direktorin des Berlin-Brandenburgischen Instituts für Deutsch-Französische Zusammenarbeit in Europa e.V. in Genshagen; zuvor Chefdolmetscherin der französischen Staatspräsidenten und Leiterin des Sprachendienstes bei der französischen Regierung.
Anschrift: Bundeskanzleramt, 11012 Berlin.

Veröffentlichungen u.a.: Die rätselhaften Deutschen, Bonn 1986; Retour à Berlin. Ein deutsches Tagebuch, Berlin 1999.