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Länder- versus Parteiinteressen im Bundesrat – Realer Dualismus oder fiktive Differenzierung? | Parlamentarismus | bpb.de

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Länder- versus Parteiinteressen im Bundesrat – Realer Dualismus oder fiktive Differenzierung?

Sven Leunig

/ 17 Minuten zu lesen

Die Vetomacht des Bundesrats führe nicht zu Blockaden, sondern zu konkordanzdemokratischen Prozessen. Ziel dieser Politik sei immer der Kompromiss, der aber in einer Mediendemokratie weniger spektakulär ist als Streit und Blockade.

Einleitung*

Der Streit um die "Parteipolitisierung" des Bundesrates ist, auch wenn die gegenwärtigen Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat ihn wieder einmal auf die politische Agenda bringen, nicht neu. Bereits zu Zeiten der sozial-liberalen Regierung Schmidt/Genscher Mitte der siebziger Jahre haben es die von den Oppositionsparteien im Bund regierten Länder mit ihrer Stimmenmehrheit im Bundesrat erfolgreich verstanden, eine Reihe von hochpolitischen Gesetzen im Sinne ihrer (Bundes-)Parteien zu verändern. Dabei stand zunächst die Frage im Mittelpunkt der Diskussion, ob die Landesregierungen ihr Stimmverhalten im Bundesrat überhaupt parteipolitisch begründen dürften und sich nicht vielmehr auf "Landesinteressen" zu beschränken hätten. In der zweiten und dritten Phase divergierender Mehrheiten von 1990/91 bis 1998 und sodann seit 1999 schien diese Frage grundsätzlich zugunsten eines - auch - parteipolitisch agierenden Bundesrats entschieden, jedenfalls soweit es die Staatsrechtslehre betraf. Erstaunlicherweise wurde diese Wende von Teilen der Politikwissenschaft und der "veröffentlichten Meinung" nicht mitvollzogen. So finden sich noch in aktuellen Beiträgen in Fachzeitschriften Aussagen wie "Während der Bundesrat Länderinteressen vertreten und sich seine Vetomacht auf Fragen, die den Kernbereich der Länderinteressen berühren, beschränken soll, vertritt er zumindest in wichtigen Sachfragen regelmäßig Parteiinteressen", und Sätze wie "Länderinteressen, die zu wahren der Bundesrat eigentlich die Aufgabe hat, stehen bei dessen Arbeit selten im Vordergrund - sondern Parteibeschlüsse" sind bei Medienvertretern nicht selten anzutreffen. Zwar geht es in der seit Mitte der neunziger Jahre andauernden Diskussion vor allem um die drohende "Blockade" der Bundesgesetzgebung durch einen "oppositionellen" Bundesrat. Kennzeichen beider Debatten ist aber nach wie vor, dass von der Existenz quasi "objektiver" Länderinteressen ausgegangen wird, die von (bundes)parteipolitischen Interessen der Landesregierungen verdrängt zu werden drohen.

Angesichts dessen, dass sich in den Landesverfassungen naturgemäß keinerlei Aussagen über die jeweiligen Interessen eines Landes finden lassen, verbleibt die Definitionshoheit über diese bei den Landesregierungen. Damit stellt sich die Frage, ob sich aus der Perspektive der ihrerseits aus Parteien zusammengesetzten Landesregierungen nicht auch solche Entscheidungen als dem Landesinteresse gemäß definieren lassen, die dem ersten Augenschein nach (bundes)parteipolitischer Natur sind. Diese Frage steht im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen.

* Professor Stefan Immerfall und Dr. Gudrun Heinrich sei herzlich für hilfreiche Anmerkungen und Anregungen gedankt.

Die Beteiligung des Bundesrates an der Gesetzgebung

Über den Bundesrat "wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes (...) mit". Unter den "Ländern" sind, wie aus Art. 51 I 1 GG hervorgeht, wiederum die Landesregierungen zu verstehen. Die beiden Elemente ihrer Mitwirkung sind in den Artikeln 76ff. (Gesetzgebung) bzw. 84 II und IV, 114 und vor allem Art. 80 (Verwaltung) konkretisiert. Relevant in unserem Zusammenhang ist vor allem die Beteiligung des Bundesrates an der Gesetzgebung.

Der Bundesrat verfügt über ein Initiativrecht und ist zu allen Gesetzesinitiativen der Bundesregierung zu hören (Art. 76 GG). Hat der Bundestag einen Gesetzesbeschluss gefasst, so ist dieser dem Bundesrat vorzulegen, der - je nach Charakter des Gesetzes - entweder Einspruch einlegen oder die Zustimmung verweigern kann. In letzterem Fall ist ein solches Gesetz endgültig gescheitert (Art. 77 GG).

Die Entscheidung, ob eine Initiative in den Bundesrat eingebracht, Einspruch gegen einen Gesetzesbeschluss eingelegt oder einem Beschluss die Zustimmung verweigert werden soll, wird - wie alle Beschlüsse des Bundesrates - mit der Mehrheit seiner Stimmen gefällt, wobei die Stimmen eines Landes einheitlich abgegeben werden müssen (Art. 52 III GG). Das heißt, es obliegt der einzelnen Landesregierung, sich im Vorfeld der Abstimmung intern darüber zu verständigen, welches Votum sie im Plenum des Bundesrates abgeben will. Der Streit über die Parteipolitisierung des Bundesrates entzündete sich daran, inwieweit eine Landesregierung sich bei dieser Entscheidungsfindung allein von so genannten "Landesinteressen" leiten lassen müsse oder ob sie (auch) die (bundes)politischen Interessen der sie bildenden Parteien berücksichtigen dürfe.

Das Grundgesetz selbst schweigt sich über die Motive, die die Landesregierungen zu ihren jeweiligen Entscheidungen bewegen können, wohlweislich aus. Einmal abgesehen davon, dass eine solche Festlegung verfassungsstrukturell nicht üblich wäre, würde sich darüber hinaus die Frage stellen, ob und inwieweit diese Motive abstrakt zu definieren wären.

Der Bundesrat als Hüter der Länderinteressen

Dass ein Staatsorgan, das sich aus Vertretern der Landesregierungen zusammensetzt, primär die Interessen dieser Länder in die Bundesgesetzgebung einbringen soll, war und ist unbestritten. Gleichwohl ist der Bundesrat kein "Gemeinschaftsorgan der Länder zur Vertretung ihrer Länderinteressen"; er soll vielmehr "Bundes- und Länderinteressen in möglichste Übereinstimmung" bringen. Die Länder müssen also sowohl ihre eigenen Interessen als auch die des Bundes "im Blick" haben. In jedem Fall stellt sich die Frage, welches diese "Landesinteressen" sind, und vor allem, wer darüber entscheidet, was im Interesse eines Landes liegt, und was nicht.

Verfolgt man die Diskussion der letzten 30 Jahre, so kann man den Eindruck gewinnen, es gäbe tatsächlich quasi "objektive" Landesinteressen. Danach lassen sich zwei Arten von Landesinteressen unterscheiden:

- landesspezifische Interessen: Diese werden zum einen im Wesentlichen an den wirtschaftsgeographischen Bedingungen eines Landes festgemacht. Handelt es sich um ein Küstenland, so wird es Interesse an der Förderung des Schiffbaues durch den Bund haben. Ist der Weinbau ein besonderer Wirtschaftsfaktor, so sind beispielsweise umweltpolitische Maßnahmen, die diesen möglicherweise einschränken, nicht im Sinne des Landes, und so weiter. Zum anderen ist die finanzielle Situation eines Landes ein wesentlicher Bestimmungsfaktor seines Interesses: Sind die Landeskassen leer, wird es sich verstärkt um Bundesmittel bemühen. Ein "reiches" Land hingegen wird eher darauf achten (können), den "goldenen Zügeln" des Bundes zu entgehen, die ihm die Annahme der häufig mit konkreten wirtschafts- oder fiskalpolitischen Auflagen verbundenen Mittel anlegen würde. Aufgrund dieser - im wörtlichen Sinne - in der "Natur" des Landes oder aber seiner Wirtschaftsstruktur liegenden Gründe kam und kommt es auch immer wieder zu Interessenkoalitionen zwischen den Ländern.

- föderale Interessen: Damit sind diejenigen Interessen gemeint, die allen Ländern im Verhältnis zum Bund gemein sind. Da ist zunächst das Interesse aller Länder, Bundesgesetze mit finanziellen Auswirkungen - sprich: Ausgabenerhöhungen - für ihre Landeskassen oder die ihrer Kommunen zu vermeiden. Hier stehen sie zumeist geschlossen dem Bund gegenüber. Sodann sind alle Konflikte über die Auslegung der jeweiligen Kompetenzen von Bund und Ländern zu nennen, die, werden sie nicht politisch entschieden, letztlich als klassische Bund-Länder-Konflikte vor dem Bundesverfassungsgericht enden. Auch Konflikte über die Ausdehnung von Bundeskompetenzen zu Lasten der Länder wären denkbar, sind in der Praxis allerdings überraschend selten - bekanntlich hat ja nicht zuletzt die bereitwillige Überantwortung legislativer Kompetenzen der Länder an den Bund zur Ausdehnung der Zustimmungsgesetze geführt.

Gleichwohl bleiben diese Kriterien zum einen notwendigerweise abstrakt, sie bedürfen der steten Konkretisierung dessen, was im jeweiligen Einzelfall als Landesinteresse zu verstehen ist. Hinzu kommt, dass nicht selten Kollisionen zwischen einzelnen Landesinteressen denkbar sind, die gelöst werden müssen. Insofern muss es zwangsläufig der jeweiligen Landesregierung und den sie stützenden Fraktionen überlassen bleiben, die "abstrakten Hülsen" der Landesinteressen auszufüllen und einen Ausgleich im jeweils aktuellen Fall ihrer Stellungnahme zu einem Bundesgesetz herzustellen.

Parteipolitik im Bundesrat

Ungeachtet dessen, dass letztendlich die Landesregierungen allein darüber entscheiden, was das Landesinteresse im konkreten Fall ist, wird dieses in der Diskussion doch stets klar von so genannten "parteipolitischen Interessen" unterschieden. Was aber sind "parteipolitische Interessen"?

Angesichts dessen, dass sich der Vorwurf, im Bundesrat Parteipolitik zu betreiben, naturgemäß an die Landesregierungen richten muss, können damit nur die Interessen der jeweiligen Landesparteien gemeint sein, die diese Regierungen stellen. Aufgrund des auf Bundes- und Landesebene weitgehend kongruenten Parteiensystems in Deutschland und der engen Verzahnung der jeweiligen Bundes- und Landesparteiorganisationen wird diesen tatsächlich aber nicht etwa vorgeworfen, "Landesparteipolitik" zu betreiben. Eine solche scheint es weder in der Vorstellungswelt vieler Publizisten und Politiker, Staatsrechtler und Politologen noch in der Praxis zu geben, worüber noch zu reden sein wird. Insofern ist beim Vorwurf der "Parteipolitik" vielmehr stets unausgesprochen die "Bundes"-Parteipolitik gemeint. Diese zu betreiben, so der Vorwurf der Kritiker, sei nicht Sache der Landesregierungen bzw. ihrer Parteien. Ebenso wenig legitim sei es, wenn die Bundeszentralen der Parteien versuchten, ihre Landesparteien im Sinne ihrer politischen Vorstellungen zu instrumentalisieren.

Gleichwohl scheint mit dieser Kritik, obgleich stets allgemein formuliert, keineswegs die gesamte "Parteipolitik" gemeint zu sein, wie man bei genauer Betrachtung der Debatten der siebziger und neunziger Jahren feststellen kann. Verwerflich, so gewinnt man den Eindruck, ist nur der Versuch der jeweiligen Bundestagsopposition, bei divergierenden Mehrheiten "die politischen Vorstellungen, für die sie einen Mehrheitsauftrag in den Wahlen nicht erlangen konnte, auf dem Umweg über den Bundesrat durchzusetzen". Schon die Begründung von der Mehrheitsmeinung des Bundestags abweichender Positionen durch den Bundesrat mit anderen parteipolitischen Grundauffassungen missfiel den Kritikern. Dass natürlich auch die jeweilige Bundestagsmehrheit versucht, "ihre" Länder hinter sich zu scharen, scheint weitaus weniger anrüchig und wird höchstens dann kritisiert, wenn die "R-Länder" (also diejenigen, deren Regierungen ausschließlich aus Parteien bestehen, die im Bund die Regierung stellen) dabei eigene "Landesinteressen" im oben definierten Sinne außer Acht lassen. Dabei spielt es auch keine Rolle, welche Mehrheitsverhältnisse vorherrschen - dass die SPD/FDP-Koalition in den siebziger Jahren versucht hat, die R-Länder auf ihre Seite zu ziehen, wurde ebenso selten kritisiert wie das "regierungsfreundliche" Verhalten der R-Länder während der ersten beiden Amtszeiten Bundeskanzler Helmut Kohls, als von 1983 bis 1990 gleichgerichtete Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat herrschten.

Auf der anderen Seite scheint auch die Orientierung der O-Länder (also jener Länder, in denen die Regierung ausschließlich von Parteien gestellt wird, die sich in der Bundestagsopposition befinden) dann nicht problematisch zu sein, wenn sie sich aus eben diesen Gründen für eine Gesetzesvorlage der Bundesregierung aussprechen. Dies mag auf den ersten Blick unwahrscheinlich sein, geht man von einem konfrontativen Oppositionsstil aus. Entsprechende Untersuchungen haben allerdings gezeigt, dass in der Bundesrepublik ein kooperativer Politikstil der Opposition - und damit häufig auch der O-Länder - überwiegt, bei dem eine Unterstützung der Bundesregierung, zumal in weitgehend unstrittigen und wenig öffentlichkeitswirksamen Fällen, nicht selten ist.

Das Verhältnis von Parteipolitik und Länderinteressen

Wie bereits ausgeführt, wurde den Ländern im Verlauf der Diskussion zumindest in der staatsrechtlichen Literatur und ebenso in Teilen der Politikwissenschaft durchaus zugestanden, ihre Entscheidungen auch parteipolitisch begründen zu dürfen. Hieß es zu Beginn der Debatte noch, Grundlage der Entscheidungen im Bundesrat müssten "die besonderen Erfahrungen, Einsichten, Bedürfnisse der Verwaltung" sowie "das besondere Verhältnis zwischen Bund und Ländern" sein und der Bundesrat habe als "Hüter der partikularistischen Länderinteressen" zu wirken, argumentierte die Gegenseite mit der - bereits erwähnten - Realität des kongruenten Parteienstaats, in dem sich der Parteienwettbewerb im Bund naturgemäß auch auf die Entscheidungsfindung im Bundesrat auswirken müsse. "Eine Verfassung", so der damalige Beauftragte des Landes Rheinland-Pfalz im Bundesrat, Roman Herzog, "die ein Verfassungsorgan wie den Bundesrat aus Landesministern, d.h. aus hohen Landespolitikern (...), zusammensetzt (...), nimmt zumindest in Kauf (...), dass dieses Organ dann in bestimmten Bereichen (...) politisch entscheidet", wobei unter "politischen" Entscheidungen hier parteipolitische zu verstehen sind. Überdies sei der Bundesrat zwar aus Ländern zusammengesetzt, gleichwohl aber ein "Bundesorgan", das - bei aller Berücksichtigung landespolitischer Interessen - immer auch die Auswirkungen seiner Beschlüsse auf den Bund im Auge haben müsse. Diese Position setzte sich in der Staatsrechtslehre schließlich durch.

Parteipolitik im Landesinteresse

Obwohl also das Verhältnis zwischen Landesinteressen und Parteipolitik etwas "entspannter" wurde, hielten Forschung, Politik und öffentliche Meinung weiter an der grundsätzlichen Unterscheidung von beidem fest - und das, obwohl es nicht an Stimmen gefehlt hatte, die schon früh auf das Problem dieser Differenzierung hingewiesen hatten.

Zum einen muss man sich vor Augen führen, dass in vielen Fällen, in denen den Ländern parteipolitische Positionierungen vorgeworfen werden, zumindest auch originäre Landesinteressen im oben definierten Sinn vorliegen. So gibt es kaum ein Gesetz, dass nicht direkt oder indirekt Kosten für die Länder erzeugt. Dies wird zum Beispiel beim jüngst verabschiedeten und zuvor parteipolitisch umstrittenen Zuwanderungsgesetz deutlich. Zwar wurde die ablehnende Haltung der CDU- bzw. CSU-geführten Länder gegenüber dem Gesetzentwurf tatsächlich überwiegend mit grundsätzlichen programmatischen Positionen ihrer Parteien begründet. Gleichwohl lassen sich bei genauer Betrachtung auch bei diesem scheinbar eindeutig bundespolitischen Thema originäre Landesinteressen erkennen, die auch deutlich gemacht wurden: So wies der saarländische Ministerpräsident Müller (CDU) in seiner Rede im Bundestag anlässlich der Verabschiedung des Gesetzes darauf hin, dass auch die Frage, in welchem Maße sich Bund und Länder die Kosten der Integration teilen, eine Rolle bei den Verhandlungen gespielt habe.

Aber selbst wenn man diesem Punkt im Rahmen der gesamten Debatte einen eher marginalen Stellenwert zumisst, bildet der Aspekt der finanziellen Betroffenheit der Länder doch eine Brücke zur generellen Legitimierung parteipolitischer Begründungen von Länderpositionen. Die Beachtung der finanziellen Interessen des Landes resultiert schließlich aus der Verpflichtung jeder Landesregierung, die Bedürfnisse seiner Bevölkerung in ihrer Gesamtheit zu berücksichtigen. Dies weist auf die Verantwortlichkeit der Landesregierung zunächst gegenüber den sie stützenden Fraktionen bzw. Parteien im Landtag und dieser wiederum gegenüber ihren Wählern hin. Auch hier ist eine Argumentation im Rahmen der Zuwanderungsdebatte von Interesse: In der Begründung seines Stimmverhaltens im Bundesrat am 22. März 2002 wies der Innenminister des Landes Brandenburg, Jörg Schönbohm (CDU), darauf hin, das Land sei auch insofern von den Regelungen des Zuwanderungsgesetzes betroffen, als dieses Auswirkungen auf "die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Ausländerextremismus" habe. Die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit kann man gewiss nicht als "spezifisches", originäres Interessen des Landes Brandenburg oder auch nur allgemeines, föderales Landesinteresse verstehen. Die Betroffenheit des Landes wird vielmehr nur verständlich, wenn man die Gesamtverantwortung einer Landesregierung für die Bedürfnisse ihrer Bevölkerung als Bestimmungsfaktor des Landesinteresses betrachtet. Dies bestätigte auch Schönbohm mit seiner Schlussbemerkung, es ginge "bei diesem Gesetz (...) nicht um spezifische Landesinteressen Brandenburgs, aus denen sich eine Abstimmung in der einen oder anderen Weise begründen ließe; es geht um die Frage, wie über ein Gesetz, das auf Bundesebene und für unser Land Bedeutung hat, abgestimmt wird".

Woran kann, woran muss sich die Landesregierung bei der Bewertung der positiven oder negativen Folgen eines Gesetzes auf ihre Bürger orientieren? Im Sinne einer konsistenten Regierungspolitik kann dies hier sinnvollerweise nur ihre generelle Programmatik sein, niedergelegt in ihrer Regierungserklärung, basierend auf dem Programm bzw. den Programmen der sie bildenden Partei(en). Zwar trifft es zu, dass speziell die Regierungserklärungen der Landesregierungen sich im Wesentlichen auf die Bereiche beziehen, die in die Kompetenz der Länder fallen. Gleichwohl lassen sich daraus aber auch Konsequenzen für die Positionierung der Landesregierungen im Bundesrat ziehen: Eine Landesregierung, die ihre Wirtschaftspolitik an liberalen Grundsätzen orientiert, wird dirigistischen Maßnahmen in einem Bundesgesetz kaum zustimmen können. Eine Partei, die in ihrem Land durch entsprechende Maßnahmen beispielsweise der Integration der dort lebenden ausländischen Mitbürger den Vorzug vor der Aufnahme neuer Immigranten gibt, kann im Bundesrat schlechterdings einem weiteren Zuzug von Ausländern nicht zustimmen, ohne bei ihren Wählern unglaubwürdig zu werden. Hinzu kommt, dass aufgrund der proaktiv gestellten Frage bei Zustimmungsgesetzen die Enthaltung eines Landes bei vermeintlich die Länder nicht betreffenden Gesetzen faktisch die Zustimmung zu dem betreffenden Gesetz bedeuten würde. Die O-Länder müssten also einem Gesetz zustimmen, das ihre Regierungsmitglieder als Parteivertreter ablehnen bzw. damit auch die Mehrheit ihrer Landeswählerschaft nicht wollen kann!

Schließlich enthalten die Wahlprogramme der Parteien zu Landtagswahlen nicht selten dezidiert bundespolitische Forderungen, die - unabhängig davon, ob der Wähler diesen Unterschied nun erkennt oder nicht - durch die Landesregierung selbst bei einem Wahlerfolg nicht umsetzbar wären, weil sie in die Kompetenz des Bundes fallen. Ein Beispiel dafür sind die in allen Wahlprogrammen der niedersächsischen Grünen seit 1978 erhobenen atompolitischen Forderungen (Stopp der Wiederaufbereitungspläne, Kein Endlager in Schacht Konrad etc.). Die Landesparteien formulieren also schon in ihren Wahlprogrammen bundespolitische Positionen, nicht zuletzt, um ihren Wählern das Vorgehen einer von ihnen gebildeten Regierung im Bundesrat bereits vor der Wahl zu verdeutlichen. Auch an diesen Festlegungen wird eine Landespartei und die von ihr gegebenenfalls gebildete Regierung gemessen; hinter diese kann sie nicht zurück.

Dass die in diesen Landeswahlprogrammen erhobenen Forderungen und formulierten Positionen mit denen ihrer jeweiligen Bundesparteien, jedenfalls soweit sie sich auf bundespolitische Themen beziehen, weitgehend identisch sein werden, wird niemanden erstaunen. Daraus nun den Schluss zu ziehen, die Landesregierungen betrieben Bundespolitik, ist nach dem bisher Gesagten nicht überzeugend. Damit wird zugleich der Argumentation der Gegner einer parteipolitischen Ausrichtung der Landesregierungen im Bundesrat der Wind aus den Segeln genommen: Landesregierungen betreiben, wenn sie sich an der Programmatik ihrer Landesparteien orientieren, Landes- und nicht "Bundesparteipolitik". Die Ausrichtung an landesparteipolitischen Interessen kann aber sehr wohl als notwendiger und legitimer Teil der Bestimmung der Landesinteressen betrachtet werden. Damit fällt die bisherige Differenzierung zwischen "Landes"- und "Parteiinteressen" praktisch weg - es sei denn, eine Landesregierung würde sich tatsächlich ihren eigenen programmatischen Erklärungen widersprechend im Sinne ihrer Bundespartei verhalten. Ob und wie oft dies der Fall (gewesen) ist, bliebe anhand von Fallstudien zu klären.

Fazit

Natürlich soll das bisher Dargestellte nicht verschleiern, dass es sehr wohl stets Versuche seitens der Bundesparteien von SPD und CDU gegeben hat, ihre jeweilige parteipolitische Mehrheit im Bundesrat zur Durchsetzung von Zielen einzusetzen, die sie als Bundestagsopposition nicht erreichen konnten. Dies war unter Helmut Kohl in den siebziger Jahren ebenso der Fall wie in den neunziger Jahren bei Oskar Lafontaine. Auch Angela Merkel bemüht sich immer wieder um einen "Schulterschluss" der CDU/CSU-geführten Länder zur Beeinflussung von Gesetzen der rot-grünen Bundesregierung. Dass dies freilich nur dann erfolgversprechend ist, wenn keine strukturellen oder föderalen Landesinteressen dagegen sprechen, zeigt zuletzt der gescheiterte Versuch, eine geschlossene Front der Oppositionsländer gegenüber der Steuerreform 2000 zu Stande zu bringen. Andererseits belegt das gemeinsame Vorgehen der O-Länder bei der Gesundheitsreform 2003 und den Arbeitsmarktreformen 2003/04 ebenso wie beim bereits genannten Zuwanderungsgesetz, dass es durchaus möglich ist, das Verhalten von Bundestagsopposition und O-Ländern zu koordinieren. Dass darf aber nicht zu dem Schluss verleiten, man habe es - auch in Fällen, in denen keine strukturellen oder föderalen Landesinteressen vorliegen - mit der systemwidrigen Übernahme bundespolitischer Forderungen durch die Landesparteien zu tun. Vielmehr ist hier von einer - wenig überraschenden - Übereinstimmung der Ziele von Bundes- und Landespartei auszugehen. Der immer noch vielfach postulierte Dualismus zwischen Landes- und Parteiinteressen beruht also in dieser Hinsicht auf einer im Grunde fiktiven Differenzierung, die sich bei genauerer Betrachtung aufgrund der Definitionshoheit der Landesregierungen über "ihr" Landesinteresse als nicht haltbar erweist. Es gibt keine "objektive" Unterscheidbarkeit von Landes- und Parteiinteressen - vielmehr sind es die Landesregierungen selbst, die in jedem Einzelfall abwägen müssen, was im Interesse ihres Landes liegt. Dies kann aus spezifischen oder föderalen Faktoren resultieren, aber ebenso auch aus der Programmatik der Landesparteien. Damit bleibt die Beachtung der Landesinteressen im bisherigen Verständnis gewahrt, wie auch die langjährige Praxis im Bundesrat gezeigt hat. Wissenschaft, Publizistik und Parteien sollten sich aber von dem lange gepflegten und - soweit es die Parteien betrifft - aus strategischen Überlegungen heraus von Zeit zu Zeit immer wieder gern gezeichneten Bild eines Interessendualismus zwischen Landes- und Parteiinteressen verabschieden. Dies würde vor allem der politischen Kultur unseres Landes zugute kommen: Es wäre ein Schritt dahin, die Bürger mit der Realität unseres politischen Systems wieder etwas zu versöhnen und könnte den von Werner Patzelt so anschaulich dargestellten "latenten Verfassungskonflikt" auflösen helfen - die Vorstellung eines ständig von Parteien missbrauchten Verfassungsorgans ist dazu gewiss nicht angetan.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Diskurs findet sich pointiert in den Beiträgen des damaligen Parlamentarischen Geschäftsführers der SPD-Bundestagsfraktion, Gerhard Jahn, und des damaligen Beauftragen des Landes Rheinland-Pfalz, Roman Herzog, wieder, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), 7 (1976) 3, S. 293.

  2. So der Tenor der überwiegenden Zahl aller Veröffentlichungen zum Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, vgl. z.B. Ulrich Battis/Christoph Gusy, Einführung in das Staatsrecht, Heidelberg 19913, § 4 Rdnr. 166; Roman Herzog, Stellung des Bundesrates im demokratischen Bundesstaat, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1987, Bd. II, § 44 Rdnr. 16ff.

  3. Gerd Andreas Strohmeier, Zwischen Gewaltenteilung und Reformstau: Wie viele Vetospieler braucht das Land?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), B 51/2003, S. 20.

  4. Sebastian Lovenz, Einen New Deal denken, in: Freitag vom 4. 10. 2002.

  5. Vgl. Henning Böhne, Die blockierte Republik, Hamburg 1998.

  6. Vgl. Alfred Rührmair, Der Bundesrat zwischen Verfassungsauftrag, Politik und Länderinteressen, Reihe: Beiträge zum Parlamentsrecht, Band 50, Berlin 2001; Uwe Jun, § 14 Der Bundesrat, in: Raban Graf von Westphalen (Hrsg.), Deutsches Regierungssystem, München-Wien 2001, S. 339 - 362.

  7. Art. 50 GG.

  8. Die einzelnen Länder verfügen - je nach Bevölkerungszahl - über drei bis sechs Stimmen, Art. 51 II GG.

  9. Karl-Heinz Seifert/Dieter Hömig, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Taschenkommentar, Baden-Baden 19945, Artikel 50, Rdnr. 2.

  10. Vgl. in diesem Sinne R. Herzog (Anm. 1), S. 300.

  11. Regionalparteien mit konstanter Vertretung in den Länderparlamenten ohne - zumindest angestrebte - Repräsentanz im Bundestag gibt es mit Ausnahme des Südschleswigschen Wählerverbandes (SSW), der die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein vertritt, in Deutschland praktisch nicht. Anderen Gruppen, wie der STATT-Partei in Hamburg oder dem Bündnis "Arbeit für Bremen", war bislang nur ein kurzes parlamentarisches Leben beschieden. CSU und PDS dagegen sind im hier verstandenen Sinne keine Regionalparteien, da sie dezidiert bundespolitischen Einfluss anstreben und auch nicht ausschließlich die Interessen einer bestimmten Region vertreten wollen.

  12. So ist es wohl geradezu symptomatisch, dass sich dieser Begriff nicht im Duden finden lässt und auch eine willkürliche Internet-Recherche nur ein einziges (!) Suchergebnis zutage fördert.

  13. Zwischen 1972 und 1982 besaßen die von den damaligen Oppositionsparteien CDU und CSU geführten Landesregierungen eine absolute bzw. relative (1. 3. 1977 - 21. 6. 1978) Mehrheit. Eine fortlaufend aktualisierte Darstellung der Mehrheitsverhältnisse seit 1949 findet sich auf http://de.geocities.com/svenleunig/.

  14. So der ehemalige SPD-Justizminister G. Jahn (Anm. 1), 293.

  15. Vgl. ebd., S. 294.

  16. Dass diese parteiinterne Koordination im Übrigen keineswegs immer gelingt, steht auf einem anderen Blatt und soll in diesem Zusammenhang nicht eingehender diskutiert werden. Verwiesen sei hier nur auf die ausführlichen Fallstudien in Sven Leunig, Föderale Verhandlungen. Bundesrat, Bundestag und Bundesregierung im Gesetzgebungsprozess, Frankfurt/M.-New York 2003, sowie zusammenfassend ders., Öl oder Sand im Getriebe? Der Einfluss der Parteipolitik auf den Bundesrat als Veto-Player im Gesetzgebungsverfahren, in: ZParl, 34 (2003) 4, S. 778 - 791.

  17. Vgl. Klaus von Beyme, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, Opladen-Wiesbaden 2001, S. 299ff.

  18. G. Jahn (Anm. 1), S. 294.

  19. Hans Hugo Klein, Parteipolitik im Bundesrat, in: Die öffentliche Verwaltung (DÖV), (1971), S. 325ff.

  20. Vgl. Heidrun Abromeit, Die Funktion des Bundesrates und der Streit um seine Politisierung, in: ZParl, 13 (1982) 4, S. 465.

  21. R. Herzog (Anm. 1), S. 302.

  22. Vgl. Frank Borchardt, Die Zulässigkeit parteipolitischen Verhaltens im Bundesrat, Münster-Hamburg-London 2002.

  23. Vgl. dazu. die Argumentation von R. Herzog (Anm. 1), S. 300f.

  24. Vgl. Peter Müller, Es ist ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz. Dokumentation der Debatte zum Abschluss der Verhandlungen über das Zuwanderungsgesetz. 118. Sitzung des 15. Deutschen Bundestages am 1. Juli 2004, in: Das Parlament vom 5. 7. 2004, S. 23.

  25. Rede des Innenministers des Landes Brandenburg Jörg Schönbohm (CDU) zum Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) im Bundesrat (22. 3. 2002), in: (www.documentArchivd.de/brd/2002/rede_schoenbohm_zu wanderungsgesetz.html).

  26. Roman Herzog drückte dies in seinem Beitrag 1976 unter Bezug auf die damals diskutierte Frage des Schwangerschaftsabbruchs noch anschaulicher aus, indem er feststellte: "Keiner von uns hätte sich etwa in der Frage des § 218 oder in anderen hochpolitischen Fragen als Ministerpräsident eines Landes vor seinen Wählern sehen lassen können, wenn er ja gesagt hätte." (Anm. 1), S. 203.

  27. Anm. 25.

  28. Vgl. in diesem Sinne auch Everhardt Franßen, der feststellt: "Mit seiner Zustimmung zu einem zustimmungsbedürftigen Gesetzesbeschluss des Bundestages übernimmt der Bundesrat die politische Mitverantwortung für den gesamten Inhalt des so zustande gekommenen Gesetzes." Ders., Der Vermittlungsausschuss - politischer Schlichter zwischen Bundestag und Bundesrat?, in: Hans Jochen/Helmut Simon (Hrsg.), Die Freiheit des Anderen. Festschrift für Martin Hirsch, Baden-Baden 1981, S. 275.

  29. Dies gilt umso mehr, als Landesparteien in einzelnen Bereichen durchaus andere Positionen als ihre Bundespartei einnehmen können. Ein gutes Beispiel lässt sich - wiederum in der Atompolitik - in den Beschlüssen der baden-württembergischen SPD Ende der siebziger Jahre sehen, die - anders als die damalige SPD-Bundesregierung - bereits dezidiert den Ausstieg aus der Atomenergie forderte, eine Position, die sich in der Bundes-SPD erst nach dem Regierungswechsel 1982 durchsetzen konnte.

  30. Vgl. Werner J. Patzelt, Politikverdrossenheit, populäres Parlamentsverständnis und die Aufgaben der politischen Bildung, in: APuZ, B 7 - 8/99, S. 31 - 38.

Dr. phil., geb. 1967; Lehrbeauftragter an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.
Anschrift: Klosterberge-Privatweg 5, 39104 Magdeburg.
E-Mail: E-Mail Link: aundsl@compuserve.de

Veröffentlichungen u.a.: Verfassungsverhandlungen in Thüringen 1991 bis 1993. Reihe: Heidelberger Studien zur Entstehung von Verfassungen nach 1945, hrsg. von Frank R. Pfetsch, Frankfurt/M. 1996; Föderale Verhandlungen. Bundesrat, Bundestag und Bundesregierung im Gesetzgebungsprozess, Frankfurt/M. 2003.