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Von der Partei zur Bewegung? | Parteien | bpb.de

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Von der Partei zur Bewegung? Stand und Perspektiven einer politischen Vergesellschaftungsform

Jasmin Siri

/ 15 Minuten zu lesen

Nicht nur in Deutschland entstehen neue Parteien, die anders zu funktionieren scheinen, als es die Parteienforschung beschrieben hat. Um diese Veränderungen in der organisierten Politik zu erklären, lohnt der Blick auf relevante Einflussfaktoren ihrer gesellschaftlichen Umwelt.

Das Parteiensystem der Bundesrepublik ist in Bewegung. Nicht nur in Deutschland, in ganz Europa entstehen neue Parteien, die anders zu funktionieren scheinen und ein anderes Selbstverständnis für sich beanspruchen als jene, die die Parteienforschung der vergangenen Jahrzehnte beschrieben hat. Auch in den USA fordert die Präsidentschaft von Donald Trump die personellen wie normativen Strukturen der republikanischen Grand Old Party heraus.

Viele neue Parteien in Europas Parlamenten, denken wir an Podemos in Spanien oder die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien, sind aus sozialen Bewegungen hervorgegangen. Das war einst auch bei den sozialdemokratischen, kommunistischen oder grünen Parteien der Fall, die aus der Arbeiter- oder der Umweltbewegung hervorgingen. Doch Medienwandel und der von ihm induzierte Wandel politischer Öffentlichkeiten verändern das Gesicht der neuen sozialen Bewegungen, sie verändern ihre innere Struktur und die Art und Weise, wie sie sich organisieren und wie sie mit Bürgerinnen und Bürgern kommunizieren. So ist zum Beispiel das publizistische wie aktivistische Umfeld des aktuellen US-Präsidenten durchaus bewegungsförmig. Zugleich unterscheidet es sich deutlich von den Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts, sei es hinsichtlich seiner Organisiertheit, seiner Ausrichtung auf charismatische Führung, der Event-Kultur oder auch des Medieneinsatzes.

Die Konsequenz dieser aktuellen Konstellation ist eine Art "innere Unruhe" des Parteiensystems in den demokratischen Systemen der Weltgesellschaft. Alte Mehrheiten wanken, neue lassen sich noch nicht sicher organisieren. Und zugleich findet all dies in einer Gesellschaft statt, in der es mehr politische Akteure gibt als Parteien und Bewegungen. Der Beitrag der politischen Soziologie zur Erklärung des Verhältnisses von Partei und Bewegung muss entsprechend darin bestehen, Parteien und Bewegungen nicht nur an und für sich zu untersuchen, sondern in Wechselwirkung zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt. Denn die wahrnehmbaren Veränderungen von Parteien und Bewegungen, so meine These, sind Konsequenzen eines umfassenderen strukturellen Wandels der modernen Gesellschaft. Daher gilt es, sich relevanter Einflussfaktoren der gesellschaftlichen Umwelt anzunehmen, bevor man das aktuelle Verhältnis von Partei und Bewegung in den Blick nimmt. Insbesondere sind das im Umfeld der Parteien der Journalismus, die politische Öffentlichkeit und die Verwaltung. Soziale Bewegungen reflektieren zusätzlich insbesondere weltgesellschaftliche soziale Entwicklungen.

Im Fortlauf des Textes wird daher zunächst das Verhältnis von Politik und Journalismus, von Politik und Öffentlichkeit sowie von Politik und Verwaltung in den Blick genommen, wobei unter Politik – der Fragerichtung des Titels "Von der Partei zur Bewegung?" folgend – die organisierte Politik besonders berücksichtigt wird. Anschließend wird die Frage diskutiert, inwiefern weltgesellschaftliche Phänomene wie Globalisierung und Medienevolution dazu beitragen, das Geschäft der Parteien und der sozialen Bewegungen zu verändern.

Bye-bye Gatekeeper

Der Journalismus ist eine wichtige Beobachtungsinstanz demokratischer Politik. "Die modernen Kommunikationsmittel (…) verfügen über ein hohes Maß an Macht in der Gesellschaft. Wird diese publizistische Macht missbraucht, ist die freiheitlich-demokratische Ordnung in Gefahr." Das Zitat des SPD-Politikers Peter Glotz aus dem Jahr 1966 steht für eine lange Tradition der Reflexion über die Nähe des Journalismus zur Macht. Dies nicht zuletzt, weil Journalismus und Politik in der Praxis der beiden Berufsfelder aufeinander angewiesen sind, weshalb viele Beobachterinnen und Beobachter eine zu starke Nähe zwischen diesen beiden Welten konstatierten. Man diskutierte zum Beispiel Demokratiedefizite, die sich aus dem Zusammenspiel von Medien und Politik ergaben, Eigensinnigkeiten der Massenmedien, die aus ihrer Eigenlogik wie aus der kapitalistischen Struktur des Mediensystems resultierten, oder auch die Verquickung von Politik und Medien in einer Melange aus Netzwerken, Befindlichkeiten und Anerkennungssystematiken wie in jener vom Medienwissenschaftler Lutz Hachmeister in "Nervöse Zone" beschriebenen Berliner Blase.

Die Parteiendemokratie, so der Politikwissenschaftler Thomas Meyer 2002, sei zu einer Mediendemokratie geworden: "Die Regeln der medialen Politikdarstellung – unterhaltsam, dramatisierend, personalisiert und mit Drang zum Bild, allesamt der Darstellungskunst des Theaters entlehnt – greifen in zunehmendem Maße und mit beträchtlichen Folgen auf das politische Geschehen selbst über. Die Selektion spektakulärer Ereignisse, die effektsichere Inszenierung der Profis, die weite Teile des Mediensystems bestimmen, regieren immer mehr auch die Politik." Man muss nicht lange nachdenken, um Beispiele zu finden, auf die diese Phänomenbeschreibung auch heute noch präzise zutrifft. Allerdings ergeben sich aus der digitalen Durchdringung der Gesellschaft einige zusätzliche Veränderungen.

Der Journalismus befindet sich – vielleicht noch mehr als andere gesellschaftliche Felder – im Griff der Digitalisierung. So steht er vor der Herausforderung eines umfassenden Medienwandels, der die Struktur des Berufsfeldes und die Art und Weise stark beeinflusst, wie sich Journalismus und Medienorganisationen finanzieren. So ist mit Blick auf die Berichterstattung im politischen Bereich wenig übrig von den scheinbar allmächtigen Redaktionen der Bonner Republik, die Themen wie Menschen hoch- und herunterschreiben konnten, Eingang gewährten oder Exklusion praktizierten und mittels dieser Selektionen die Fiktion einer Öffentlichkeit im Singular erst ermöglichten. Während die vordigitalen Massenmedien sich recht gut abstimmen konnten, welches Thema ein wichtiges ist, welche prominenten Personen Gehör finden sollten oder welche politischen Entwicklungen besonders spannend sind, ist die heutige Medienlandschaft diverser, pluralistischer und somit auch weniger überschaubar. Es gibt freilich noch Themenkarrieren, und es gibt auch noch Prominenz. Deren Konstruktion ist aber sehr viel prekärer und weniger dauerhaft. Aufmerksamkeit, so scheint es, gibt es nur noch unter den erschwerten Bedingungen der pluralisierten Arenen einer diversen, sich stets verändernden Öffentlichkeit.

Die neuen Anreizsysteme der sozialen Medien, die Anerkennung durch Clicks und Likes vermitteln, führen dazu, dass insbesondere meinungsstarke, sich auf aktuelle Konflikte positionierend beziehende Beiträge erfolgreich sind, während sachliche Kommentare weniger digitalen Applaus produzieren. Kombiniert mit der Durchbrechung der privaten und der öffentlichen Rolle in den sozialen Medien führt dies dazu, dass viele journalistisch Tätige immer häufiger als politische Akteure sichtbar und adressierbar werden. Die Performances folgen dabei interessanterweise oft dem Muster der Links-Rechts-Unterscheidung, an der die Forschung bereits seit vielen Jahrzehnten kritisiert, dass sie sich nur sehr eingeschränkt zur Beschreibung der modernen politischen Landschaft eignet.

Ende der Öffentlichkeit im Singular

Instabil wird so auch die Idee der Öffentlichkeit im Singular als einer repräsentativen Schau der aktuellen Konflikte, Themen, wichtigen gesellschaftlichen Gruppen und Personalangebote in einem nationalen Rahmen. Um kein Missverständnis zu erzeugen: Auch bevor die Digitalisierung in das Verhältnis von Bürgerinnen und Bürgern, Politik und Journalismus eingriff, war man sich in der Wissenschaft einig, dass Öffentlichkeit und öffentliche Meinung im Singular aufwendige soziale Konstruktionen sind. Der Soziologe Armin Nassehi stellt fest, dass die Herausforderung moderner Politik weniger darin bestehe, zu kollektiv bindenden Entscheidungen zu kommen, als darin, für diese Entscheidungen "Sichtbarkeit und Zurechenbarkeit", also auch ein verlässliches und verständiges Publikum zu erzeugen. In der Politik sind dies unterstellte Kollektivitäten wie "die Deutschen", "die Arbeiterschaft" oder "die Rechten/die Linken", für die, so Nassehi, "Sichtbarkeit und Transparenz kollektiv wirksamer Kausalitäten ebenso hergestellt wie diese dadurch erst erzeugt werden".

Öffentlichkeit bietet in so einer Gesellschaft der vielen möglichen Arenen kaum mehr Orientierung, was Suchbewegungen sowohl der journalistisch als auch der politisch Tätigen sowie vonseiten des Publikums auslöst. Zum einen ist diese Entwicklung des Verhältnisses von Politik, Medien und Publikum der Globalisierung geschuldet, die den Rahmen der berichtenswerten Ereignisse potenziell gen unendlich laufen lässt und dabei auch vorführt, wie beschränkt die nationale Perspektive im Rahmen weltgesellschaftlicher Entwicklungen ist. Das Kollektiv des Nationalen wird damit einerseits unplausibler, andererseits trotzdem und deshalb auch attraktiver, wovon die rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien Europas zeugen. Doch auch der digital vorangetriebene Medienwandel verändert die Idee politischer Öffentlichkeiten auf revolutionäre Art und Weise. So wird die bereits früher konstatierte Konstruiertheit einer Öffentlichkeit im Singular auch abseits gelehrter Diskurse für alle Medienkonsumentinnen und -konsumenten alltäglich erfahrbar. Beschreibungen wie "alternative Fakten" und der Vorwurf der "Fake News" sind ein empirisches Beispiel für die Irritation, die unterschiedliche publizistische und politische Publika beim Betrachten der Diskurse der "Anderen" empfinden. Wenn sich politische Freunde und politische Feinde in abgrenzbaren publizistisch-politischen Netzwerken gegenseitig Achtung und Missachtung vermitteln, ist der Weg zum konstruktiven Gespräch zwischen den Lagern weit.

Für den eingangs zitierten Peter Glotz war zur Sicherung der Demokratie vor allem wichtig, dass die Kontrolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gut funktioniere. Damit meinte er insbesondere, dass die "Rundfunkräte wirklich ein Modell der Gesellschaft im Kleinen" sein müssten, um die Meinungsfreiheit zu garantieren. Im Hinblick auf diese Problembeschreibung, die sich vor allem vor Monopolbildung und Einflussnahme der Politik auf die Berichterstattung sorgt, haben die anarchischen digitalen Medien zunächst ein "Mehr" an Demokratie verursacht. In der Politik der sozialen Medien wird aber auch deutlich, dass alleine das Äußern der freien Meinung noch nicht das demokratische Gespräch erzeugt, das für Peter Glotz "die Seele der Demokratie" war.

Verwaltung und politische Organisation

Die schreibende und sendende Zunft hat die Idee einer Öffentlichkeit im Singular aufgegeben, zugleich aber ist unklar, welche neuen Rahmen, Finanzierungsmodelle und Selbstdarstellungen für die neue Zeit funktional und angemessen sind. Eine ganz ähnliche Unsicherheit hinsichtlich der verteilten Rollen und der angemessenen Selbstdarstellung im Gefüge der Herstellung politischer Entscheidung findet sich – und auch hier ist der Einfluss des Medienwandels relevant – in der Verwaltung. Der Soziologe Max Weber beschrieb die Logik der Verwaltung als maximal entfernt von der Logik des Politischen. Während Politik sich vor allem dem Streben nach Machtanteilen in einem Gesellschaftsgefüge widme, strebe die Verwaltung nach der korrekten Umsetzung von gesetzlich vorgegebenen Verfahren. Er nennt dies die "legale Herrschaft". Die bis heute hohe politische Bedeutsamkeit der Verwaltung liegt auf der Hand, ebenso die Verquickung von Politik und Verwaltung, die sich zum Beispiel in der Bestellung "politischer Beamter" vollzieht.

Aktuell lässt sich in mehreren Demokratien beobachten, dass sich das Verhältnis von Politik und Verwaltung neu austariert. So hat beispielsweise die Trump-Regierung in den USA viele Stellen in der Verwaltung nicht besetzt und auch career officials, also solche Beamte, die keine politischen Beamten sind und eine Verwaltungslaufbahn verfolgt haben, entlassen. Auch in der Bundesrepublik lassen sich – wenngleich vielleicht weniger spektakuläre – Beispiele für die Politisierung von Verwaltung und Behörden erkennen, und diese muss nicht nur von der Regierung in Richtung der Verwaltung laufen.

So erstaunte 2018 der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, mit einem Interview in der "Bild"-Zeitung, in dem er Mutmaßungen über rechtsradikale Ausschreitungen anstellte, die dem Ermittlungsstand sachlich nicht entsprachen und Verschwörungstheorien anheizten. Konkret stellte er die angesichts der Möglichkeiten seiner Behörde bemerkenswerterweise ungeprüfte Vermutung an, dass ein Video gefälscht worden sei, um einen "Mord" zu vertuschen. Die Äußerungen Maaßens in dieser Causa konterkarierten in mehrerlei Hinsicht das Ideal einer Trennung von Politik und Verwaltung. So ließen sie sich, da die Sachebene verlassen wurde, als kritische politische Einlassung zur Politik der Bundesregierung verstehen. Der Jurist Maaßen sprach zudem von Mord, wo ein Totschlag angeklagt wurde – ebenfalls eine überraschende Formulierung. Das Beispiel ist so erstaunlich, weil es die Trennung von Politik und Verwaltung auf mehreren Ebenen gezielt einreißt und damit die Legitimationsstruktur der Gewaltenteilung berührt.

Weitere Beispiele wie die offene Einflussnahme auf und Diskreditierung von Ermittlungsbehörden durch die US-Regierung oder auch die Zwangspensionierung von Richtern durch die polnische Regierung deuten darauf hin, dass es in den Demokratien des 21. Jahrhunderts Akteure gibt, die die etablierte Trennung von Politik und Verwaltung nicht mehr für sinnvoll erachten. Das bedeutet nicht, dass die Verwaltung bis dato dem politischen Einfluss entzogen war. Seit Gründung der Bundesrepublik hat es einen erheblichen Einfluss erst der Alliierten, dann der Volksparteien auf die Verwaltung gegeben – man denke allein an Ämterpatronage per Parteibuch. Der Unterschied zur heutigen Situation liegt darin, dass zuvor nicht die Sinnhaftigkeit einer Trennung von Verwaltung und Politik selbst unter Beschuss stand – so weisen Begriffe wie "Patronage" bereits darauf hin, dass das Parteibuch kein legitimes Argument für die Bestellung eines Beamten war, selbst wenn die informelle Praxis solche Entscheidungen ermöglichte.

Parteien in der Weltgesellschaft

Ein Blick auf die aktuelle Verfasstheit der politischen Öffentlichkeit, den Journalismus und die Verwaltung zeigt, dass die Strukturen der modernen Demokratien einem Wandel unterliegen. Dieser Wandel ergreift auch die politische Organisation. "Man kann nicht ernsthaft an die Abschaffung der Organisationen denken, denn das liefe praktisch auf Anarchismus hinaus", schrieb der Soziologe Niklas Luhmann in den 1990er Jahren angesichts der damaligen Diskussion über Politik- und Parteienverdrossenheit. Und doch ist die Frage empirisch wie auch gesellschaftstheoretisch überaus berechtigt: Ist die Partei des 20. Jahrhunderts ein Auslaufmodell? Übernehmen neue, bewegungsförmige Parteien nicht nur die Straße, sondern auch die Parlamente?

"Alle Parteikämpfe sind nicht nur Kämpfe um sachliche Ziele, sondern vor allem auch: um Ämterpatronage", so Max Weber in seinem bekannten Vortrag "Politik als Beruf". Parteien organisieren laut Weber das Staatswesen und entscheiden intern außerdem über Themen und Karrieren. Dies alles findet beziehungsweise fand in recht ordentlichen nationalen und auch vordigitalen Öffentlichkeiten statt. Niklas Luhmann formuliert die Aufgabe von Parteien dergestalt, dass sie Probleme und Themen für öffentliche Debatten definieren und den Meinungsmarkt politisieren. Parteien tragen so dazu bei, kollektiv bindende Entscheidungen vorzubereiten. Blickt man auf die aktuelle Situation europäischer Demokratien, so scheint es, dass zumindest die Aufgabe der Mobilisierung des Meinungsmarktes inzwischen eher den sozialen Bewegungen und auch den Eigendynamiken der digitalen Medien selbst zufällt.

Auch an der Art und Weise, wie Parteien Personal auswählen, wurde bereits ab ihrer Gründungszeit Ende des 19. Jahrhunderts Kritik geübt. Patronage, so vermuteten kritische Stimmen, führe nicht unbedingt zur Bestenauslese. Kritisch äußerten sich oft Vertreterinnen und Vertreter der sozialen Bewegungen selbst – so zum Beispiel der Arbeiterbewegung oder später der Umweltbewegung. Wenn diese Bewegungen durch den Erfolg im politischen Kampf selbst die Parteiform annahmen, so traf diese Kritik bald auch sie selbst, und sie suchten nach Möglichkeiten wie Zeitbegrenzungen für Ämter oder Geschlechterquoten, um oligarchische Tendenzen in den Griff zu bekommen. Heute werden solche Themen vor allem unter der Chiffre Partizipation und Basisdemokratie als ewige Probleme der politischen Organisation bearbeitet.

Die Entzauberung der Parteien hat aber nicht nur mit mangelnder innerparteilicher Demokratie oder Systemen der Patronage zu tun, sondern vor allem damit, dass ihre Machtoption in einer globalisierten Weltgesellschaft geschrumpft ist. Während die Massenparteien des frühen 20. Jahrhunderts auch deshalb die Massen anzogen, weil man von guten Erfolgsaussichten für die zugrundeliegenden nationalen Politiken ausging, müssen die Parteien in der heutigen Weltgesellschaft an sich selbst lernen, dass sie viele politische Probleme gar nicht lösen können, so sehr sie auch wollen. Denn eine besondere Herausforderung der Parteiarbeit im 20. und 21. Jahrhundert besteht darin, nationale Antworten auf weltgesellschaftliche Probleme zu finden. Dies ist eine komplexe und auch durch nationalistische Politikangebote nicht umgehbare Aufgabe. Zugleich müssen internationale Bewegungen und Anliegen in nationale Politikangebote übersetzt werden.

Anarchismus statt Organisation?

Parteien sind also mit einer schier unlösbaren Herausforderung konfrontiert. Zugleich treffen in ihnen Ideale der Partizipation auf die Realität der Organisation.

Und doch, so spricht es auch aus dem Luhmann-Zitat, kann man sich bis dato kaum vorstellen, wie demokratische Politik ohne Parteien funktionieren soll. Ein wichtiges Argument dabei ist, dass der demokratische Parlamentarismus nach Parteiorganisationen verlangt und erfolgreiche soziale Bewegungen daher immer die Organisationswerdung vollziehen müssen, um die Machtoption der Vertretung im Parlament für sich zu nutzen. Und durchaus sehen wir gerade in den USA, welche Instabilitäten die Folge einer Regierung sind, die zugunsten der Ziele einer heterogenen, aber doch vorhandenen rechtsnationalen Bewegung auf Expertise aus gewachsenen Strukturen verzichtet.

Aber wie viel Partei alten Typs ist noch zu finden in den neuen Parteien à la AfD oder Fünf-Sterne-Bewegung? Der Soziologe Dieter Rucht bietet für die Unterscheidung von Partei und Bewegung drei Dimensionen an: Erstens haben Bewegungen anders als Parteien keine klar definierten Mitgliedschaftskriterien, keine Satzung und keine formelle Führungsebene. Zweitens nutzen Bewegungen öffentlichen Druck und Protest, um ihre Ziele zu erreichen, Parteien nutzen dazu Wahlen und die Besetzung von Ämtern. Und drittens agieren Bewegungen und Parteien auf "unterschiedlichen Spielfeldern, für die jeweils spezifische Regeln gelten. Das Feld sozialer und politischer Bewegungen ist der nur schwach staatlich regulierte außerparlamentarische Raum mit seinen diversen Öffentlichkeitsformen (…). Parteien sind auch in diesem Feld vertreten und können fest in der Zivilgesellschaft verankert sein, aber für sie ist die Öffentlichkeit eine Bühne, die dem Terrain politischer Entscheidungen vor- oder nachgelagert ist. Ihr eigentliches Feld ist der stark verregelte parlamentarische und gouvernementale Raum."

Die Vergegenwärtigung dieser Unterscheidungen macht deutlich, dass wir es aktuell immer häufiger mit Mischformen zu tun bekommen. Worin liegt diese Entwicklung begründet? Wenn wir den Einfluss der Digitalisierung auf die Gesellschaft so ernst nehmen wie den der Druckerpresse, und es spricht vieles dafür, dass wir dies tun sollten, so ist es wahrscheinlich, dass die in der alten Medienwelt geborenen Organisationen entweder dysfunktional werden oder sich massiv reformieren und an die veränderte Gesellschaftsstruktur anpassen werden müssen. Zu diesen alten Organisationen gehören Parteien ebenso sehr wie Gewerkschaften oder Umweltverbände, wie die Tageszeitung und der Fernsehsender.

Die Medienentwicklung führt zu neuen Experimenten und durchbricht alte Unterscheidungen. Gewachsene Strukturen wie die der klassischen Partei oder der klassischen Verwaltung werden durch neue Möglichkeiten und oft ohne konkrete Absicht infrage gestellt. Aktuell führt dies dazu, dass Politik lauter und unbeständiger wird. Denn durch die neuen Möglichkeiten öffentlicher Kommunikation treten Akteure auf den Plan, die sich die "Dekonstruktion" – so etwa wörtlich US-Präsident Trumps ehemaliger Chefstratege Stephen Bannon – der alten Welt auf die Fahnen schreiben, ohne dabei neue Lösungen zu präsentieren. Die neuen Protagonisten der anarchischen Dekonstruktion scheren sich nicht um die Frage, wie ein friedliches Gemeinwesen zu organisieren ist. Häufig ist es nicht einmal Ziel ihrer Politik, den sozialen Frieden zu bewahren. Momentan führt dies dazu, dass unsere Öffentlichkeiten mehr von Lagerbildungen, von Freund-Feind-Unterscheidungen und Tribalisierungen geprägt werden denn von Expertise, Sachlichkeit und ruhigem Nachdenken.

Die allgemeine Erregung – verbunden mit und unterstützt von den beschriebenen Veränderungen des Journalismus – kommt jenen politischen Akteuren zugute, die wenig auf Grautöne und viel auf Krawall geben. Der Populismus ist daher in dieser medialen Konstellation zunächst im Vorteil. Mit Blick auf den Erfolg der Populisten lassen sich zudem auch Vertreter der "alten Organisationen" anstecken. Wenn wir uns fragen, wie sich die (Partei-)Politik durch die Veränderung politischer Öffentlichkeiten wandelt, so lohnt zum Beispiel ein Blick auf die Medienstrategie der AfD, die vorhat, einen eigenen Medienkanal zu erstellen. Die Deutschen sollten "irgendwann AfD und nicht ARD" schauen.

Die durch die Digitalisierung relevant werdenden Veränderungen der politischen Öffentlichkeit führen zu Orientierungslosigkeit auf mehreren Feldern, die die Herstellung kollektiv bindender Entscheidung – also die Politik – betreffen. Daraus resultiert die oben beschriebene Rollenunsicherheit in Politik, Verwaltung und Journalismus, aber auch ein Misstrauen gegenüber den alten demokratischen Institutionen. Demokratische Errungenschaften wie die Gewaltenteilung oder die allgemeine Gültigkeit der Menschenrechte scheinen in dieser Situation leichter infrage gestellt werden zu können. Zugleich aber beweist sich das populistische Prinzip bis dato zwar als mobilisierungs-, nicht aber als regierungsfähig. Die Instabilität, mit der die Abkehr von den Prinzipien der Organisation zu bezahlen ist, ist hoch. Die sich für heutige Demokratien stellende Frage ist daher, wie Stabilität und Zuverlässigkeit demokratischer Verfahren unter veränderten sozialstrukturellen Bedingungen organisiert werden können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Man könnte durchaus mehr Einflussgrößen bestimmen und fruchtbar durchdenken, so zum Beispiel eine Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und sozialen Bewegungen wie auch eine Wechselwirkung zwischen verschiedenen Beratungskontexten wie Public Relations, wissenschaftlicher Politikberatung und Parteipolitik. Im Sinne der recht kurzen Anlage des Textes folgte die Auswahl der Annahme, dass mit den oben stehenden Faktoren die relevantesten für die Beantwortung der Frage nach der Verfasstheit aktueller Parteien und Bewegungen genannt sind.

  2. Peter Glotz, Demokratisierung der Gesellschaft durch Reform der Institutionen: Massenmedien, in: Wolfgang R. Langenbucher/Hans Wagner (Hrsg.), Das Gespräch ist die Seele der Demokratie. Beiträge zur Kommunikations-, Medien- und Kulturpolitik, Baden-Baden 2014 (1966), S. 81–92, hier S. 81.

  3. Vgl. Thomas Meyer, Mediokratie – Auf dem Weg in eine andere Demokratie?, in: APuZ 15-16/2002, S. 7–14.

  4. Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 1990 (1962).

  5. Lutz Hachmeister, Nervöse Zone. Politik und Journalismus in der Berliner Republik, München 2007.

  6. Meyer (Anm. 3), S. 7. Vgl. Andreas Dörner, Politainment – Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft, Frankfurt/M. 2001.

  7. Vgl. Friedrich von der Heydte/Karl Sacherl, Soziologie der deutschen Parteien, München 1955, S. 22f. Siehe auch den Beitrag von Frank Decker in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  8. Vgl. für viele Pierre Bourdieu, Die öffentliche Meinung gibt es nicht, in: ders., Soziologische Fragen, Frankfurt/M. 1993, S. 213–223; Armin Nassehi, Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 2006.

  9. Nassehi (Anm. 8), S. 345; vgl. ders., Politik des Staates oder Politik der Gesellschaft? Kollektivität als Problemformel des Politischen, in: Kai-Uwe Hellmann (Hrsg.), Das System der Politik, Opladen 2002, S. 38–59.

  10. Nassehi (Anm. 8), S. 345.

  11. Glotz (Anm. 2), S. 87.

  12. Zit. nach Wolfgang R. Langenbucher/Hans Wagner, Vorwort der Herausgeber, in: dies. (Anm. 2), S. 7–12, hier S. 7.

  13. Vgl. Max Weber, Politik als Beruf, Tübingen 1994 (1919), S. 36ff.

  14. Ebd., S. 37.

  15. Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2002, S. 233f.

  16. Weber (Anm. 13), S. 45.

  17. Vgl. ebd., S. 137ff., S. 215.

  18. Zur Realität der Parteiorganisation vgl. die instruktiven und umfassenden Erörterungen von Elmar Wiesendahl, Parteien in Perspektive, Opladen 1998, insb. S. 140–219.

  19. Vgl. Dieter Rucht, Rechtspopulismus als Bewegung und Partei, 2017, Externer Link: http://forschungsjournal.de/sites/default/files/fjsbplus/fjsb-plus_2017-2_rucht.pdf.

  20. Ebd., S. 2.

  21. Alice Weidel zit. nach Benedict Neff, Alice Weidel: "Unser ambitioniertes Fernziel ist es, dass die Deutschen irgendwann AfD und nicht ARD schauen", 19.5.2018, Externer Link: http://www.nzz.ch/-ld.1384297.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Jasmin Siri für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist promovierte Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Ludwigs-Maximilians-Universität München. E-Mail Link: jasmin.siri@soziologie.uni-muenchen.de