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Ethnonationalismus und das politische Potenzial nationalistischer Bewegungen | Nation und Nationalismus | bpb.de

Nation und Nationalismus Editorial Zeitgeschichte zwischen Nation und Europa Nation und Nationalismus in der deutschen Geschichte Ethnonationalismus und das politische Potenzial nationalistischer Bewegungen "Behausung des Menschen in einer unbehausten Welt" Die Deutschen - eine Nation?

Ethnonationalismus und das politische Potenzial nationalistischer Bewegungen

Antje Helmerich

/ 16 Minuten zu lesen

Ethnonationalismus ist ein universelles Phänomen. Gerade in Zeiten besonderer politischer oder sozialer Unsicherheit gelingt es nationalistischen Bewegungen, Generationen übergreifend erfolgreich zu sein.

Einleitung

Massiver, zuweilen aggressiv vertretener Ethnonationalismus prägt heute weltweit politische Prozesse. Mobilisierte Ethnizität tritt als politisches Instrument vor allem in Krisensituationen in Erscheinung, so im Verlauf von Wirtschaftskrisen, die zu Verteilungskonflikten zwischen verschiedenen kulturell bzw. ethnisch definierten Gruppen führen, oder in Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen, insbesondere wenn sie in der Öffentlichkeit als "ethnische" wahrgenommen werden. Allerdings sind längst nicht alle diese Konflikte wirklich ethnischen, auf eine Volksgruppe bezogenen Ursprungs. Zuweilen kommt es zu einer "Ethnisierung", um den Konflikten einen scheinbar unabwendbaren Charakter zu verleihen. Claus Offe spricht in diesem Zusammenhang von einem "Trend zur ethnischen Dramatisierung".

Für ethnonationalistische Bewegungen eröffnet sich vor allem immer dann ein breites Aktionsfeld in noch nicht stabilisierten Institutionen- und Parteiensystemen, wenn der Systemübergang nicht nur den Umbau des Regierungssystems, sondern auch eine "offene nationale Frage" betrifft. Vor allem Systemwechsel wie die in Europa nach dem Untergang des Ostblocks sind Situationen besonderer Unsicherheit. Parallel zur Demokratisierung verlaufende Nation-Building-Prozesse wie seit Ende der achtziger Jahre in den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion und Jugoslawiens bieten günstige Voraussetzungen für die Entstehung von Ethnonationalismus. In anderen Fällen, etwa in Spanien nach 1975, wurde die Demokratisierung von der Dezentralisierung eines ehemals zentralistischen Staates begleitet.

Die Kraft des Ethnonationalismus

Selten kommt es zum aktiven Aufbegehren all derer, die sich als Teil einer Nation begreifen. Deshalb treten ethnonationalistische Bewegungen als die maßgeblichen sozialen Akteure in Erscheinung. Ihnen obliegt die notwendige Politisierung der ethnischen Identität, die Formulierung nationalistischer Forderungen und Ziele sowie die Mobilisierung von Mitgliedern und Sympathisanten. Ethnizität wird hier nicht als naturgegebenes, ewiges gesellschaftliches Ordnungsprinzip, sondern als konstruiertes bzw. "erdachtes" Ergebnis eines Prozesses sozialen Handelns von Akteuren definiert. Differierende kulturelle Merkmale sind Ressourcen, die den Akteuren zur eigenen Abgrenzung dienen, jedoch zunächst aktiviert werden müssen. Entscheidend ist der subjektive Wille, sie als Grundlage für politische Strategien zu verwenden. Kollektive, auch ethnische Identität wird dabei in erster Linie im täglichen Diskurs kreiert. Politischen Meinungsbildnern kommt hier besondere Bedeutung zu, da sie Identifikationsangebote bereitstellen und so die kollektive Identität wesentlich prägen. Wichtig für die Herstellung und Stabilisierung ethnischer Identität scheint insbesondere das so genannte kollektive Gedächtnis zu sein, das für den Einzelnen sinn- und identitätsstiftend wirkt.

In ethnisch gemischten Gesellschaften kann ethnische Zugehörigkeit als "emotionale Sicherheitskategorie" fungieren: "Ethnic affiliation provides a sense of security in a divided society, as well as a source of trust, certainty, reciprocal help, and protection (...)." So kann Ethnizität positiv und konstruktiv zur Beschreibung und Festigung des Selbstverständnisses einer Gruppe in einer größeren Gemeinschaft genutzt werden. Allerdings stützt sie sich stets auf einen "Ab- und Ausgrenzungsdiskurs", der nicht nur das Selbstbild der Ethnie, sondern immer auch die Klassifikation des Anderen beinhaltet. In der Folge stellt sich zwangsläufig die konfliktfördernde Frage nach Dominanz und Unterwerfung im Verhältnis der ethnischen Gruppen zueinander.

Ethnonationalismus ist somit als moderne Spielart des Nationalismus zu kennzeichnen. Nationalistische Vorstellungen orientieren sich unabhängig von ihren historisch-konkreten Erscheinungsformen immer an der Idee einer Nation, die es zu verteidigen oder aber erst zu konstruieren gilt. Grundsätzlich kann zwischen zwei Nationsverständnissen unterschieden werden: dem der politisch-subjektiven, etatistischen Nation, die auf gemeinsamen Wertvorstellungen sowie auf dem Bekenntnis zu einem gemeinsamen Staat basiert, und dem der kulturell-objektiven, auf vermeintlich vorgegebenen, unwandelbaren Kriterien gründenden Nation. Der Ethnonationalismus greift immer auf die zweite Auffassung zurück.

Mittlerweile hat sich die noch vor wenigen Jahren weit verbreitete Vermutung, Nationalismus sei im Zeitalter der Globalisierung eine längst überwundene politische Kraft, als falsch erwiesen. Die bis in die sechziger Jahre hinein einflussreiche modernisierungstheoretische These, sozio-ökonomischer und technologischer Fortschritt werde dem Aufbegehren unzufriedener Minderheiten allmählich ein Ende bereiten, ist von der neueren politikwissenschaftlichen Forschung längst umfassend revidiert worden. Gerade in den letzten Jahren ist die Rückkehr des ethnischen Nationalismus - ob als "Ersatzideologie" für den obsolet gewordenen Marxismus-Leninismus oder als Antwort auf die Effizienz- und Legitimitätskrise westlicher Staats- und Gesellschaftsmodelle - nicht mehr zu übersehen. Es scheint, als sei das Abgrenzungs- und Selbstbehauptungsbedürfnis in den letzten Jahren gar gestiegen. Ethnizität wurde in diesem Sinne als soziales Organisationsprinzip begriffen, das in modernen, industrialisierten Massengesellschaften eine Antwort auf den erhöhten organisatorischen Bedarf an Kollektiven bereithalte. Es wurde sogar die Meinung vertreten, dass sich Minderheitskulturen zuweilen ihrer Besonderheit erst in Auseinandersetzung mit der Mehrheitskultur bewusst geworden seien und erst dann begonnen hätten, ernsthaftes Interesse an der Bewahrung des Eigenen zu entwickeln und öffentlich zu äußern.

Diskurse, Ziele und Strategien nationalistischer Bewegungen

Der Charakter nationalistischer Bewegungen wird vor allem durch ihre Diskurse, Zielsetzungen und Strategien geprägt. Vereinfacht gesagt, haben sie entweder das Ziel, einen bestimmten gesellschaftlichen oder politischen Status quo aufrechtzuerhalten, oder sie streben nach dessen Veränderung. Das Spektrum der Zielsetzungen reicht von Forderungen nach erhöhter politischer Mitbestimmung im bestehenden System bis hin zur völligen Loslösung aus dem existierenden Staatsverband. Oft greifen nationalistische Wortführer auf populistische Strategien und Rhetorik zurück. Generell liegt nationalistischen Diskursen die Absicht zu Grunde, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Zentralstaat zu erschüttern und durch eine andere politische Loyalität zu ersetzen. So geraten nationalistische Bewegungen trotz ihrer antizentralistischen Protesthaltung paradoxerweise in die Abhängigkeit von eben diesem Zentrum.

Unabhängig von der Reichweite ihrer Zielsetzungen geht es ethnonationalistischen Bewegungen stets um die Gestaltung der Beziehungen der Minderheit zur Mehrheit. Ihre Diskurse verweisen in der Regel auf wahrgenommene Missstände und Entwicklungsdefizite in den betroffenen Gebieten und Regionen, geben dem Zentralstaat durch die Inszenierung einer "rhetorischen Feindschaft" einen erheblichen Teil der Schuld und sehen in der Zunahme eigener Kompetenzen die einzige Chance für langfristige Verbesserungen. Einen wichtigen Bestandteil ethnonationalistischer Diskurse machen Werte und Begriffe aus, mit denen die eigene "Besonderheit" illustriert und positiv hervorgehoben werden soll. Geeignet erscheinen insbesondere Merkmale der kollektiven Identität, die von den Betroffenen als besonders relevant eingeschätzt werden und sich besonders wirkungsvoll inszenieren lassen, so zum Beispiel eine eigene sprachliche Tradition, kulturelle Werte und nicht zuletzt auch die kollektive Erinnerung an in der Vergangenheit bestehende Rechte und Institutionen.

Begründen lässt sich die Existenz nationalistischer Bewegungen ganz allgemein zum einen mit dem Gefühl der Diskriminierung der von ihnen Vertretenen auf politischer, wirtschaftlicher oder gesellschaftlich-kultureller Ebene. Jochen Blaschke nennt dies in Anlehnung an den ursprünglich von Michael Hechter formulierten Ansatz des "internen Kolonialismus" die "innere Peripherie". Nationalismus ist hier ein Instrument sowohl zur Abwehr von Peripherisierung als auch zur Durchsetzung eines eigenen, alternativen Entwicklungsprojekts. Zum anderen kann jedoch auch das Bewusstsein eigener Überlegenheit bzw. Überentwicklung zur Herausbildung nationalistischer Bewegungen führen. Dies ist dann der Fall, wenn sozioökonomisch weit fortgeschrittene substaatliche Einheiten sich dagegen zur Wehr setzen, ihren Wohlstand mit anderen, weniger entwickelten Einheiten innerhalb eines Gesamtstaates teilen zu müssen. Dieter Senghaas spricht in diesem Zusammenhang von "Besitzstandswahrung" und von dem Versuch, den "Ressourcenabfluss" zu stoppen.

Anthony D. Smith unterscheidet sechs Zielsetzungen nationalistischer Bewegungen: Isolierung, Anpassung, Kommunalismus (der Versuch der Selbstbehauptung auf lokaler Ebene mit nur begrenztem Einfluss auf die politische Willensbildung), Autonomie, Separatismus und Irredentismus, d.h. das Streben nach Vereinigung mit dem Staat, in dem die eigene ethnische Gruppe die Mehrheit bildet. Föderalisten begreifen gesamtstaatliche und substaatliche Territorialität als miteinander vereinbar; innerhalb nationalistischer Bewegungen finden ihre Argumentationsmuster kaum Beachtung. Autonomisten hingegen lehnen die These von der Unteilbarkeit staatlicher Souveränität ab und wenden sich gegen die Übermacht der zentralen politischen Instanzen. Deshalb sind sie innerhalb nationalistischer Bewegungen besonders stark vertreten. Im Mittelpunkt ihrer Forderungen steht die Ausgestaltung des Bezugsrahmens zwischen dem eigenen Subjekt und dem Zentrum unter Wahrung der Eigenständigkeit. Die territorial begrenzten Sonderinteressen der jeweiligen Nation oder Region werden dabei als eigenständige politische Dimension begriffen. Separatistisch orientierte nationalistische Bewegungen stellen die Geltungslegitimität des gesamtstaatlichen politischen Systems in Abrede und erheben für ihre Nation, Ethnie oder Region den Anspruch auf Gründung eines souveränen Staates. Dann sind eine gleichzeitige Anerkennung subnationaler und gesamtstaatlicher Territorialität sowie die Vereinbarkeit von eigener und gesamtstaatlicher Identität nicht mehr möglich.

Oft ist es kaum möglich, eine eindeutige Klassifikation nationalistischer Bewegungen anhand ihrer Zielsetzungen vorzunehmen. So können sich die Ziele im Laufe der Zeit verändern. Ursprünglich radikale Forderungen lassen sich durch politische, sozioökonomische oder kulturelle Maßnahmen, Kompromisse, Annäherung an den Zentralstaat oder (freiwillige) Assimilation entschärfen. Dezentralisierung, Autonomie oder Minderheitenrechte ermöglichen den substaatlichen Einheiten eine verbesserte Integration und Mitwirkung im Gesamtstaat sowie die Übernahme von Eigenverantwortung in Bereichen, die sie als besonders wichtig erachten.

Allerdings können sich die Diskurse auch stetig verschärfen. Verschiedene Ursachen dafür sind denkbar: Erstens können die konsequente Missachtung ihrer Forderungen durch den Gesamtstaat, die Ablehnung von Verhandlungen sowie Diskriminierung oder Unterdrückung eine nationalistische Bewegung in die Radikalität drängen. Zweitens kann jedoch auch gerade die erfolgreiche Dezentralisierung in demokratischen, auf politischem Wettbewerb basierenden Systemen zu einer Verschärfung nationalistischer Strategien und Ziele führen. Diese auf den ersten Blick paradoxe Entwicklung ist dann zu erwarten, wenn Begriffe und Konzepte wie Autonomie oder Selbstbestimmung zum "Allgemeingut" geworden sind und nationalistische Parteien deshalb das Monopol über einst "ureigene" Themen einbüßen. Um sich auch weiterhin ein im politischen Wettbewerb auf Dauer unterscheidbares Profil zu sichern, sehen sie sich in der Folge oft dazu gezwungen, zu noch radikaleren Forderungen überzugehen. Nur wenn sie glaubhaft machen können, dass das bisher Erreichte nicht als Endzustand akzeptiert werden kann, ist das Überleben nationalistischer Bewegungen als "natürliche" Interessenvertretung der Nation bzw. Ethnie langfristig garantiert.

Ein derartiges Szenario zeigt sich beispielsweise im spanischen Baskenland. Dort war die gemäßigt nationalistische PNV (Partido Nacionalista Vasco, Baskisch-Nationalistische Partei) während des Systemwechsels Mitte der siebziger Jahre die Kraft, die besonders engagiert und erfolgreich für die Kompetenzverlagerung von Madrid in die Region eintrat, während insbesondere die konservativen nicht-nationalistischen Parteien Dezentralisierung und Autonomie ablehnten. Spätestens seit Beginn der neunziger Jahre bejahen jedoch auch die Nicht-Nationalisten im Baskenland die Autonomie. Als ihr "Alleinvertretungsanspruch" baskischer Interessen ins Wanken geriet, radikalisierte sich der Diskurs der PNV: Wo es früher um eigene Kompetenzen und Institutionen für die Region ging, wird heute immer vehementer die vollständige Unabhängigkeit von Spanien gefordert.

Die Ziele nationalistischer Bewegungen sind vage, unbestimmt oder auch widersprüchlich. Der Grund dafür mag darin liegen, dass sie verschiedene gesellschaftliche Gruppen "bedienen" müssen, vor allem, wenn sie nicht nur auf substaatlicher Ebene politisch aktiv sind, sondern auch an der Willensbildung des Gesamtstaates teilhaben. "Doppelzüngigkeit" ist insbesondere dann zu erwarten, wenn die erwünschte Kooperation mit dem Zentrum eine Mäßigung der Ziele verlangt, die eigene regionale Wählerschaft jedoch auf der Wahrung und Förderung der "Besonderheiten" und der spezifischen Interessen pocht. Je unbestimmter und vieldeutiger die Parolen sind, desto eher scheinen sie geeignet, zu mobilisieren und zugleich der nationalistischen Bewegung den notwendigen Handlungs- und Argumentationsspielraum für unterschiedliche politische und gesellschaftliche Konstellationen zu gewähren.

Im spanischen Baskenland beispielsweise kündigte die von der PNV geführte Regionalregierung über Jahre hinweg ein Referendum über die "Selbstbestimmung" (autodeterminación) an, weigerte sich jedoch lange, deren Inhalte zu präzisieren. Es scheint, als habe die PNV bewusst auf die Klarstellung der Frage verzichtet, ob Selbstbestimmung tatsächlich die Sezession des Baskenlandes vom spanischen Staat bedeutet. Zwar gab und gibt es in der PNV Anhänger dieser Forderung; ob sie allerdings mehrheitsfähig ist, muss bezweifelt werden.

Nationalistische Handlungen umfassen mehr oder weniger bewusste, automatisierte Strategien. Allerdings wird politisches Handeln auch durch strukturelle Gegebenheiten, zeitliche Zwänge und eine Reihe anderer politischer und sozioökonomischer Faktoren beeinflusst. Idealtypisch kann zwischen konstruktiven, bewahrenden bzw. rechtfertigenden sowie verändernden bzw. destruktiven Strategien unterschieden werden. In der Regel treten sie in "gemischter" Form auf. So wird zumeist gleichzeitig versucht, ein beschädigtes Selbstbild zu reparieren und zu stärken, bestimmte Forderungen und Verhaltensweisen zu rechtfertigen und den bestehenden Status quo zu verändern.

Nationalistische Bewegungen als Parteien

Nationalistische Bewegungen verfügen über unterschiedliche politische Reichweiten. Insgesamt sind ihre Möglichkeiten im Rahmen mehrheitsdemokratischer politischer Entscheidungsprozesse jedoch begrenzt. Außerparlamentarische, meist intellektuell geprägte Gruppen beschränken sich gezwungenermaßen auf die Beeinflussung des regionalen Meinungsklimas. Im Gesamtstaat gehen ihre Forderungen leicht verloren oder aber werden von anderen Kräften aufgegriffen und in deren Programmatik integriert. Ihre geringe Durchsetzungskraft kompensieren diese Bewegungen daher oft mit spektakulären Schwerpunktaktionen im regionalen oder gar lokalen Rahmen. Die Unzufriedenheit bestimmter Schichten, Sektoren oder Gruppen wird so als Folge der nicht vollends garantierten Lebens- und Funktionsfähigkeit der Region oder des lokalen Kontextes dargestellt. Nicht-parlamentarische nationalistische Bewegungen müssen versuchen, regionale Sonderinteressen so stimmig, überzeugend und plakativ wie möglich zu inszenieren und dadurch politischen Druck auszuüben. Nur so sind sie auch ohne institutionelle Verankerung unter Umständen in der Lage, zentrale Institutionen oder Akteure in deren politischem Handeln zu beeinflussen. Besondere Wirkungskraft ist dann zu erwarten, wenn es deutlich sichtbare, für den einzelnen Menschen leicht nachvollziehbare ethnische Spezifika gibt, mit denen sich Forderungen einerseits und Kritik andererseits begründen lassen. Zudem ist es günstig, wenn innerhalb der nationalistischen Bewegung ein gewisser Konsens über die Inhalte der Forderungen und insbesondere deren antizentralistische Stoßkraft herrscht.

In modernen, liberal-demokratischen Staaten versuchen nationalistische Bewegungen meist, als politische Parteien aufzutreten. Bisweilen gelten demokratische Mehrparteiensysteme gar als besonders geeignete "Aktionsfelder" für politisierten (Ethno-)Nationalismus. Als Parteien können nationalistische Bewegungen an Wahlen teilnehmen und in Institutionen mitarbeiten. Besonders auffällig ist die Fähigkeit nationalistischer Parteien, über Klassen- und Generationengrenzen hinweg Menschen zu mobilisieren. Dabei wird zwischen "neotraditionellen" Parteien, die sich auf frühere ethnonationalistische Bewegungen besinnen und insbesondere religiöse, kulturelle und sprachliche Forderungen vertreten, "klassenübergreifenden" Parteien, die sich nicht an spezifische sozioökonomische Gruppen, sondern an die gesamte Bevölkerung der substaatlichen Einheit wenden, "selektiv-protektiven" Parteien, die sich als Sprachrohr der am meisten benachteiligten regionalen Gruppe verstehen, und "selektiv-entwicklungsorientierten" Parteien unterschieden. Diese vertreten den aufstrebenden regionalen Bevölkerungsteil, der glaubt, durch Autonomie bzw. Unabhängigkeit an Einfluss zu gewinnen.

Interessant ist das Verhältnis zwischen nationalistischen und nicht-nationalistischen Parteien. Kommt es zwischen ihnen zur Zusammenarbeit, oder stehen sie sich in scharfer ideologischer Konfrontation gegenüber? Eine tiefe Kluft zwischen nationalistischen und nicht-nationalistischen Akteuren, zu der es umso eher kommt, je radikaler die Forderungen der Nationalisten sind, vermindert die Chancen zu Kooperation und zur Aushandlung von politischen Kompromissen. Darüber hinaus birgt die Gegenüberstellung von Nationalisten und Nicht-Nationalisten im Parteiensystem stets die Gefahr, sich auf die Gesellschaft zu übertragen und so auf Dauer das Zusammenleben der Menschen im Staatswesen zu erschweren.

Unabhängig von der Stärke und dem Erfolg formalisierter nationalistischer Parteien im staatlichen Institutionensystem werden diese kaum auf außerparlamentarische Strategien verzichten. Protestmärsche, Streiks oder symbolische Aktionen erscheinen auch deshalb notwendig, weil sich nationalistische Parteien bzw. Bewegungen stets als überparteiliche Vertreter aller Mitglieder der Nation bzw. Ethnie begreifen und somit auch dazu tendieren, "für alle" sprechen zu wollen. Dabei wird selten unterschieden zwischen denen, die sich tatsächlich vertreten lassen wollen und nationalistische Ziele befürworten, und denen, die keinen Dissens zwischen ihrer parallelen Zugehörigkeit zu einer substaatlichen Einheit und einem multiethnischen Staat sehen.

Insbesondere in Systemwechselprozessen stellt sich für nationalistische Bewegungen bereits früh die grundlegende Frage nach ihrer Bereitschaft, im neu entstehenden demokratischen System mitzuarbeiten. In größerem Ausmaß als in bereits vollständig institutionalisierten, stabilen politischen Systemen bieten sich beim Übergang eines Staates vom Autoritarismus zur Demokratie Handlungsspielräume für nationalistische Bewegungen und Parteien. Unter Umständen gelingt es ihnen, sich konstruktiv am Verfassungsgebungsprozess zu beteiligen. So können nationalistische Forderungen, Ziele und Werte Bestandteil des neuen demokratischen Staats-"Gerüstes" werden. Juan J. Linz weist zu Recht darauf hin, dass gerade die Befürwortung der Mitarbeit im neuen System zur Spaltung der nationalistischen Bewegung führen kann, da sich mutmaßlich auch Teile derselben für den Boykott der neuen Strukturen aussprechen. Am ehesten sei eine einheitliche nationalistische Bewegung dann zu erwarten, wenn keine Aussicht bestehe, künftig an der politischen Macht teilzuhaben.

Einfache Lösungen in schwierigen Zeiten

Die Wiederkehr des Nationalismus auch in Europa steht spätestens seit den neunziger Jahren außer Frage. Das enorme Potenzial nationalistischer Bewegungen ist vor allem in Situationen besonderer politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Unsicherheit keinesfalls gering zu schätzen. Es scheint, als ob das Bedürfnis an deutlich erkennbaren und leicht erklärbaren Gemeinsamkeiten in dem Ausmaß wächst, in dem Anonymisierungsprozesse das Leben in modernen Gesellschaften kennzeichnen. Insbesondere in Identitäts- und Legitimitätskrisen sind nationalistische Bewegungen geeignet, durch die Propagierung eines auf der Nation bzw. der Ethnie beruhenden Gemeinschafts- und Solidaritätsgefühls ein als schmerzlich empfundenes Ideen- und Wertevakuum zu füllen. In Umbruchzeiten, so scheint es, ziehen sich die Menschen auf kollektive Identitäten und scheinbar "natürliche" Kategorien wie Nation, Ethnie, Religion oder auch Rasse zurück, die ihnen größere Sicherheiten zu vermitteln scheinen. Die Diskurse nationalistischer Bewegungen versprechen den verunsicherten Menschen Orientierung und Halt, suchen die Schuld an den bestehenden unbefriedigenden Verhältnissen beim Gesamtstaat und zeigen vermeintlich einfache Lösungen auf.

Die Stärke des Nationalismus liegt offenbar gerade in seiner inhaltlichen Unbestimmtheit und Wandlungsfähigkeit. So sind nationalistische Bewegungen in der Regel in der Lage, sich an verschiedene Ideologien anzulehnen und sich unterschiedlicher Programme zu bedienen, je nachdem, welche Rahmenbedingungen die Krisensituation setzt: "Ethnoregional parties may (...) change their ideological type in response to crisis."

Nationalistische Bewegungen verfügen daher in politischen und gesellschaftlichen Krisen über einen erheblichen Mobilisierungsvorteil gegenüber anderen, "normalen" Parteien. Und bei ihnen handelt es sich um deutlich mehr als bloße Übergangsphänomene in Zeiten gesellschaftlicher Transformation. Vielmehr kann der demokratische politische Wettbewerb zur Zementierung des ethnonationalistischen Cleavages und zur Radikalisierung des nationalistischen Diskurses führen. Auch wenn man hoffen mag, dass der neu entstandene Ethnonationalismus in West- und Osteuropa in Zukunft Schritt für Schritt an Aggressivität verlieren wird: Nationalistische Bewegungen und Parteien werden - so darf vermutet werden - auch weiterhin eine wichtige Rolle in den politischen Prozessen vieler europäischer Staaten spielen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. In diesem Beitrag wird Ethnonationalismus als Ideologie von Völkern verstanden, die sich als staatenlose Nation begreifen, auf die Bildung eines eigenen Nationalstaates abzielen und dies durch tatsächliche oder angebliche ethnisch-kulturelle "Besonderheiten" rechtfertigen. Oft wird auch die Bezeichnung (Ethno-)Regionalismus verwendet; vgl. Hans-Jürgen Puhle, Staaten, Nationen und Regionen in Europa, Wien 1995, S. 46.

  2. Vgl. Urs Altermatt, Das Fanal von Sarajewo - Ethnonationalismus in Europa, Paderborn u.a. 1996, S. 13; Saul Newman, Ethnoregional Conflict in Democracies. Mostly Ballots, Rarely Bullets, Westport 1996, S. 5.

  3. Claus Offe, Tunnel am Ende des Lichts, Frankfurt/M. 1994, S. 146.

  4. Vgl. Klaus Roth, Zu einer "Politik der interethnischen Koexistenz": Kann Europa von den historischen Vielvölkerstaaten lernen?, in: Südosteuropa Mitteilungen, (2000) 1, S. 3 - 21; Pierre Hassner, Neue Strukturen in Europa und die neuen Nationalismen, in: Magarditsch A. Hatschikjan/Peter R. Weilemann (Hrsg.), Nationalismen im Umbruch. Ethnizität, Staat und Politik im neuen Osteuropa, Köln 1995, S. 14 - 28, hier: S. 21; Peter R. Weilemann, Die Schwierigkeiten, mit dem Selbstverständnis zu leben: Nationen und Nationalismen in Europa, in: ebd., S. 7 - 13, hier: S. 7f.

  5. Vgl. Daniel Bell, Ethnicity and Social Change, in: Nathan Glazer/Daniel P. Moynihan (Hrsg.), Ethnicity. Theory and Experience, Cambridge, Mass. 1975, S. 141 - 174, hier: S. 172.

  6. Vgl. Paul B. Hill/Rainer Schnell, Was ist Identität?, in: Hartmut Esser/Jürgen Friedrichs (Hrsg.), Generation und Identität. Theoretische und empirische Beiträge zur Migrationssoziologie, Opladen 1990, S. 25 - 42, hier: S. 26 ff; Rainer Schnell, Dimensionen ethnischer Identität, in: ebd., S. 43 - 72; Friedrich Heckmann, Ethnos - eine imaginierte oder reale Gruppe? Über Ethnizität als soziologische Kategorie, in: Robert Hettlage/Petra Deger/Susanne Wagner (Hrsg.), Kollektive Identität in Krisen, Opladen 1997, S. 46 - 55.

  7. Vgl. Bernhard Giesen, Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit, Frankfurt/M. 1991, S. 12.

  8. Vgl. Ruth Wodak u.a., Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität, Frankfurt/M. 1998, S. 35.

  9. Georg Elwer, Nationalismus, Ethnizität und Nativismus - über die Bildung von Wir-Gruppen, in: Peter Waldmann/ders. (Hrsg.), Ethnizität im Wandel, Saarbrücken 1989, S. 21 - 60, hier: S. 46.

  10. Donald L. Horowitz, Democracy in Divided Societies, in: Journal of Democracy, (1993) 4, S. 18 - 38, hier: S. 32.

  11. Vgl. Jaroslav Stritecky, Identitäten, Identifikationen, Identifikatoren, in: Eva Schmidt-Hartmann, Formen des nationalen Bewusstseins im Lichte zeitgenössischer Nationalismustheorien, München 1994, S. 53 - 66, hier: S. 53; Aleida Assmann, Zum Problem der Identität aus kulturwissenschaftlicher Sicht, in: Leviathan, (1993) 2, S. 238 - 253, hier: S. 240.

  12. Vgl. Richard Jenkins, Social Anthropological Models of Inter-Ethnic Relations, in: John Rex/David Mason (Hrsg.), Theories of Race and Ethnic Relations, Cambridge 1986, S. 170 - 186, hier: S. 177.

  13. Vgl. Christian J. Jäggi, Nationalismus und ethnische Minderheiten, Zürich 1993, S. 20ff.

  14. Vgl. Ellen Krause, Nationalismus als Folge psychischer, sozialer und kultureller Identitätsverluste, in: Gerd Mayer (Hrsg.), Die politischen Kulturen Ostmitteleuropas im Umbruch, Tübingen 1993, S. 67 - 80, hier: S. 67.

  15. Vgl. Walker Connor, Nation-Building or Nation-Destroying, in: World Politics, 24 (1972), S. 319 - 355; Daniele Conversi, Domino Effect or Internal Development? The Influences of International Events and Political Ideologies on Catalan and Basque Nationalism, in: West European Politics, 16 (1993), S. 245 - 270, hier: S. 248.

  16. Vgl. Frederic Barth (Hrsg.), Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Differences, Bergen-Oslo 1969, S. 9.

  17. Vgl. Peter Waldmann, Ethnoregionalismus und Nationalstaat, in: Leviathan, 21 (1993), S. 391 - 406, hier: S. 394.

  18. Vgl. Andreas Wimmer, Interethnische Konflikte. Ein Beitrag zur Integration aktueller Forschungsansätze, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, (1995) 3, S. 464 - 493, hier: S. 473.

  19. Michael Hechter, Internal Colonialism: the Celtic Fringe in British National Development, 1536 - 1966, London 1975.

  20. Jochen Blaschke, Volk, Nation, Interner Kolonialismus, Ethnizität. Konzepte zur politischen Soziologie regionalistischer Bewegungen in Westeuropa, Berlin 1985.

  21. Dieter Senghaas, Vom Nutzen und Elend der Nationalismen im Leben von Völkern, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 31 - 32/92, S. 23 - 32, hier: S. 27.

  22. Vgl. Anthony D. Smith, Theories of Nationalism, London 1972, S. 15ff.

  23. Vgl. S. Newman (Anm. 2), S. 10.

  24. Vgl. Antje Helmerich, Nationalismus und Autonomie. Die Krise im Baskenland, Stuttgart 2002.

  25. Vgl. dies., Die Baskisch-Nationalistische Partei (PNV) und die Krise im Baskenland: eine Partei zwischen ideologischem Radikalismus und Systemkonformität, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, (2003) 2, S. 90 - 110.

  26. Vgl. ebd.

  27. Vgl. S. Newman (Anm. 2), S. 9.

  28. Vgl. Alvon Rabushka/Kenneth Shepsle, Politics in Plural Societies: A Theory of Democratic Instability, New York 1972.

  29. Vgl. S. Newman (Anm. 2), S. 10f.

  30. Vgl. Juan J. Linz, Staatsbildung, Nationbildung und Demokratie. Eine Skizze aus historisch vergleichender Sicht, in: Transit, (1994) 7, S. 43 - 62, hier: S. 58.

  31. Vgl. Arnold Suppan/Valeria Heuberger, Nationen und Minderheiten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa seit 1918, in: Valeria Heuberger/Othmar Kolar/Arnold Suppan/Elisabeth Vyslonzil (Hrsg.), Nationen, Nationalitäten, Minderheiten. Probleme des Nationalismus in Jugoslawien, Ungarn, Rumänien, der Tschechoslowakei, Bulgarien, Polen, der Ukraine, Italien und Österreich 1945 - 1990, Wien 1994, S. 11 - 32.

  32. Vgl. U. Altermatt (Anm. 2), S. 23.

  33. S. Newman (Anm. 2), S. 10.

  34. Cleavages bezeichnen in der Wahlforschung grundlegende Konfliktlinien, welche die Wahlentscheidung beeinflussen.

Dr. phil., geb. 1971; Habilitandin am Geschwister-Scholl-Institut (GSI) für Politische Wissenschaften, Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München.
Anschrift: GSI für Politische Wissenschaften, LMU München, Oettingenstraße 67, 80538 München.
E-Mail: E-Mail Link: helmerich.antje@t-online.de

Veröffentlichungen u.a.: Nationalismus und Autonomie. Die Krise im Baskenland 1975 - 1981, Stuttgart 2002; (Hrsg., zus. mit Ellen Bos) Neue Bedrohung Terrorismus. Der 11. September und die Folgen, Münster 2003.