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Die Deutschen - eine Nation? | Nation und Nationalismus | bpb.de

Nation und Nationalismus Editorial Zeitgeschichte zwischen Nation und Europa Nation und Nationalismus in der deutschen Geschichte Ethnonationalismus und das politische Potenzial nationalistischer Bewegungen "Behausung des Menschen in einer unbehausten Welt" Die Deutschen - eine Nation?

Die Deutschen - eine Nation?

Thilo Ramm

/ 21 Minuten zu lesen

Eine Bilanz der deutschen Nationsbildung ist negativ, denn es hat stets die Freiheit gefehlt. Das föderalistisch-parlamentarisch-bürokratische Herrschaftssystem scheint weiterhin den Weg zur Nation zu versperren, denn es schließt das Volk von politischen Grundentscheidungen aus.

Einleitung

"Was ist eine Nation?" fragte der französische Religionswissenschaftler Ernest Renan (1823 - 1892) vor mehr als einhundertundzwanzig Jahren. Seine Antwort: "Eine Nation ist ein geistiges Prinzip, das aus tiefgreifenden Verbindungen der Geschichte resultiert, eine spirituelle Verbindung." Zweierlei sei wichtig, um jene große Solidargemeinschaft zu begründen: zum einen die Vergangenheit, der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, zum anderen die Gegenwart, der Wunsch, zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten: "Die Existenz einer Nation ist ein Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt."

Renan stellte eine Gretchenfrage und beantwortete sie mit der Rückschau auf die Geschichte und deren Annahme in der Gegenwart. Beide Male geschieht dies subjektiv: als Sicht und als Wille, und beide Male ist die Einheit bereits vorgegeben. Für Gegenwart und Zukunft ist die Subjektivität als Appell verständlich. Doch gilt dies auch für die Geschichte? Renan lehnte es ab, sie objektiv zu bestimmen oder zu bewerten. Im Gegenteil, er verwarf frühere Definitionen der Nation, etwa anhand einer bestimmten Bodenbeschaffenheit, anhand der Rasse, Sprache, Interessen, Religion, Geographie oder militärischer Notwendigkeiten. Neu war die Behauptung einer Einheit, die in der Rückschau auf die Vergangenheit als gewordene empfunden wurde.

Was fangen die Deutschen heute mit Renan an? Seine Aussagen einfach zu übernehmen macht verlegen, denn es fehlt die subjektive Gewissheit und Sicherheit: über die Vergangenheit und für den Appell in der Gegenwart. Wenn etwa Politiker versichern, sie seien stolz darauf, Deutsche zu sein, so ist dies eher eine Minderheitsmeinung. Der Deutsche Bundestag hat mehrheitlich die historische Widmung des restaurierten Reichstagsgebäudes, "Dem Deutschen Volke", dadurch ergänzt (oder ihr widersprochen?), dass er in der Vorhalle einen Erdhaufen "der deutschen Bevölkerung" gewidmet hat, zu dem jeder Abgeordnete einen Eimer Heimaterde schütten sollte.

Wer als "Verfassungspatriot" (Dolf Sternberger) das Grundgesetz aufschlägt, findet in der Präambel zwar den Begriff "Deutsches Volk", danach aber ist die Rede von den "Deutschen in den Ländern", und die Staatsrechtslehre verweist auf den föderalistischen Staatsaufbau, nach dem es das Bundesvolk und 16 Landesvölker gibt. Immerhin schließt die Aufzählung der Staatsangehörigen in Artikel 116 GG auch die aus den ehemaligen Ostgebieten Geflohenen oder Vertriebenen "deutscher Volkszugehörigkeit" ein. Dieser Volksbegriff ist somit umfassender als der juristische.

Im Herbst 1989, vor dem Fall der Mauer, lautete nach dem Bekenntnis zur Demokratie ("Wir sind das Volk!") der zweite Sprechchor vieler DDR-Bürger: "Wir sind ein Volk!" Angehörige der westdeutschen politischen Elite protestierten damals gegen das Wort "Wiedervereinigung". Und Willy Brandt nahm mit seiner Äußerung, nun werde "zusammenwachsen, was zusammengehört", die Einheit der Nation jedenfalls nicht als Gegebenheit an. Verweisen Versicherungen, das deutsche Volk habe unbeschadet der politischen Teilung als solches weiter existiert, nur auf das Überdauern familiärer Beziehungen? Oder übertrugen sie die juristische Behauptung der Präambel des Grundgesetzes, mit ihm stellvertretend für "alle" Deutschen gehandelt zu haben, und ihre Fortsetzung durch die Hallsteindoktrin, welche die völkerrechtliche Anerkennung des zweiten deutschen Teilstaates lange verhinderte, auf die politische Wirklichkeit? Wer die Geschichte der deutschen Teilung schreibt, wird sie kaum als ruhmreiches Zeugnis für eine nationale Politik würdigen können. Er wird im Nationenvergleich davor zurückscheuen, etwa das aufrüttelnd-beharrliche "Noch ist Polen nicht verloren" als Maßstab zu verwenden.

Verständigung über Begriffe

Die Ursache für eine solche Verwirrung der Aussagen liegt vor allem in der Begriffsverwendung. Nation und Volk sind nicht dasselbe. Der Jurist verwendet den Begriff "Volk" bei seiner Definition des Staates neben "Staatsgebiet" und "Staatsgewalt". Unter "Volk" bzw. "Staatsvolk" versteht er alle Menschen, die ein Gebiet bewohnen und der Staatsgewalt unterworfen sind. Sie können mit diesem Gebiet einem anderen Staat einverleibt werden, und sie können die Staatsgewalt selbst in Anspruch nehmen. Doch was geschieht, wenn sie aus diesem Gebiet vertrieben werden? Und wird, wenn das Volk die Staatsgewalt übernimmt, deren bisherige Struktur verändert, oder wird sie ungeachtet der Behauptung der "Volkssouveränität" beibehalten und dient dann dazu, eine neue Herrschaftsordnung zu legitimieren?

Dem Begriff "Nation" fehlt eine solche Missverständlichkeit. Mit ihm verbinden sich Unabhängigkeit und Freiheit, und zwar sowohl die innere wie die äußere. Die Nation ist das souveräne Volk. Allerdings führt auch dies zu einer Ambivalenz: Wird die Abgrenzung nach außen, die Unabhängigkeit von Fremden, als primär angesehen, dann hat die Machtverteilung im Innern des Staates nur sekundäre Bedeutung und äußert sich als Forderung, sich nicht von außen in die inneren Verhältnisse einzumischen. Umgekehrt kann der innerstaatliche Machtkampf zwischen Bevölkerungsgruppen, ganz gleich, wie diese bezeichnet werden, als Stände, Klassen oder Schichten, dazu führen, dass die Unabhängigkeit nach außen vernachlässigt wird.

Dies sind freilich nur die Perspektiven innerhalb einer Nation. Allgemein verwandt können sie für deren äußere Beziehungen eine übereinstimmende Begriffsbildung erzeugen, der die Gleichwertigkeit zugrunde liegt: internationale Ordnung, internationales Recht oder auch Nationalitätenfrage, bei der Minderheiten Anspruch auf Freiheit und Unabhängigkeit oder zumindest auf Gleichbehandlung innerhalb der Nationalstaaten erheben. Stellt eine Nation die Gleichheit anderer in Frage, erhebt sie einen Herrschaftsanspruch, so kann dieser, notfalls durch Krieg, zurückgewiesen oder eine übernationale Ordnung begründet werden. An die Stelle des Vertrags zwischen Rechtsgleichen tritt eine neue Herrschaftsordnung.

Heute ist das Wort "Nation" in Deutschland geradezu verpönt. Dies kann nach dem "tausendjährigen Reich" der Nationalsozialisten nicht überraschen. Verwunderlich bleibt jedoch, dass die Deutschen auch fast 60 Jahre nach dem Ende des "Dritten Reiches" ihre Unbefangenheit gegenüber der eigenen Geschichte nicht wiedergewonnen haben - obschon sich doch schon zwei Generationen darum bemüht haben. Dieser Prozess ist schwierig, vor allem, wenn er nicht vom Vorwurf des Tuns oder Unterlassens gegen den Zeitgenossen getrennt wird, wenn ein zweites Mal, nach dem Kriegsschuldvorwurf des Versailler Friedensvertrags, eine kollektive Schuld der Deutschen behauptet und aus ihr Individualschuld abgeleitet wird.

Wer Deutschland durchstreift, entdeckt eine Vielzahl von Gedenkstätten - zumeist einstige Konzentrationslager, in denen Juden, Sinti und Roma, Angehörige "minderwertiger" Völker vernichtet, aber auch die deutschen politischen Gegner misshandelt und ermordet wurden. Was ist die Botschaft dieser Mahnmale und Gedenkstätten? Die Täter von damals sind ganz überwiegend gestorben. Handelte es sich bei ihnen um die Angehörigen einer Generation, die in einer vielleicht exzeptionellen historischen Situation versagt haben, die ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden sind? Oder ist die ganze Generation, ja das deutsche Volk als überzeitliche Einheit, schuldig geworden? Den Schluss von der Individualpsychologie auf die Kollektivpsychologie zu ziehen, lag in der alten Bundesrepublik nahe - vor allem für die unbelastet gebliebenen jungen Deutschen. Doch kann sich niemand dem historischen Erbe entziehen. Die Bürde muss bewältigt werden.

Richard von Weizsäckers berühmte Rede über die vom Nationalsozialismus befreiten Deutschen 1985 hilft nicht weiter - selbst wenn die Wortverbindung von national und sozialistisch aufgelöst würde. Sein Versuch, die Deutschen nach vierzig Jahren mit dem Ergebnis der Katastrophe von 1945 zu versöhnen, musste misslingen, weil seine Interpretation des äußeren Geschehens historisch anfechtbar und Befreiung eben nicht schon Herstellung der Freiheit ist.

Will der Deutsche Deutscher sein? Die Geschichte seit 1945 unter diesem Aspekt zu befragen erscheint nicht unberechtigt. Das Werden eines politischen Europas ist objektiv gesehen nicht der Zusammenschluss Gleichberechtigter gewesen. Der westdeutsche Teilstaat hat die Wiederaufnahme in den Kreis der Nachbarstaaten begehrt, und diese waren auf seine Wirtschaftskraft angewiesen. Doch war subjektiv die Politik der Bonner Republik von Selbstzweifeln geplagt, von dem Wunsch etwa, selbst keine weit tragenden Entscheidungen treffen zu müssen, um vor der eigenen, eben der nationalen Verantwortung fliehen zu können.

Für Renan war klar, wer Franzose war - aber hat dies jemals auch für den Deutschen gegolten? Renan hatte mit seiner subjektiven Definition der Nation nichts anderes getan, als deren Bejahung der Nation für die Zukunft, das Plebiszit, auf die Vergangenheit zu übertragen. Mit seiner Kritik an den objektiven Kriterien seiner Zeit verschleierte er, dass er die Nation als solche, als Einheit, tatsächlich als gegeben ansah: Sie war der historisch gewordene Staat, der Staat in seiner reinsten Abstraktion - ohne Bezugnahme auf seine Struktur, insbesondere auf die Organisation der Staatsgewalt, und ohne die Festlegung auf ein Gebiet. Doch alle von ihm verworfenen objektiven Kriterien waren Elemente der historischen Einheitsstiftung, und sie blieben es auch für die Zukunft. Dem Plebiszit konnten auch diejenigen zustimmen, die Elsass-Lothringen zurückgewinnen oder das linke Rheinufer als natürliche Grenze erobern wollten, die Anhänger der Wiederherstellung des Königtums oder des Kaisertums und die Republikaner. Auf die Einheit des Staates sollten die politischen Kräfte zentriert werden.

Renans Orientierung der Nation am Staat erleichtert es den Deutschen, sich über ihn zu verständigen. Schließlich war ihnen eine solche Orientierung schon mit dem "Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation" vorgegeben. Jenes "alte Reich" erhob den Anspruch, das weströmische Imperium fortzusetzen, und stand als "heiliges" in der Tradition Kaiser Konstantins, der das Christentum zur Staatsreligion erhoben hatte. Die Deutschen waren danach das auf diese Staatszwecke bezogene Trägervolk. Dieses bestand aus "Stämmen", die der Kaiser auf den imperialen Anspruch verpflichtete und damit zu einigen suchte. Der Einheit des Reichs stand aber die Vielfalt gegenüber. Das 1922 zur Nationalhymne erklärte Deutschlandlied von 1841 spricht daher nicht von Einheit, sondern von "Einigkeit". Sicherlich konnte diese im Deutschen Bund und sogar noch im "Zweiten Reich", das ein erbliches Kaisertum geschaffen hatte, als politisches Ziel angesehen werden. Die 1918 geschaffene Republik beseitigte den fürstlichen Anachronismus, behielt aber die föderalistische Grundstruktur bei. Sie restaurierte den Staat und machte die politischen Parteien zu neuen Herrschern. Das "Dritte Reich" beseitigte sie, ohne dass es selbst das Reich neu gegliedert hätte. Nach 1945 schufen die Siegermächte Institutionen politischer Selbstverwaltung. Im Westen wurden diese mit dem Bund als Zentralgewalt zur Bundesrepublik Deutschland vereinigt. Die DDR verkörperte den Einheitsstaat. Sie schaffte 1952 die Länder ab - bis sie bei der Wiedervereinigung Auferstehung feierten.

Der Vergleich mit Renan lässt die Merkwürdigkeit der deutschen Entwicklung scharf hervortreten: Der politische Zusammenbruch von 1918 hatte zwar den Weg zu einer wahren nationalen Einheit freigemacht, er wurde aber dennoch nicht beschritten. Bedurfte es dazu erst des Diktators? Und warum ist die politische Entscheidung der Sieger des Zweiten Weltkriegs nicht nach Aufhebung der deutschen Teilung rückgängig gemacht worden? Das "reiche Erbe der deutschen Geschichte" steht zur kritischen Überprüfung an.

Zum Selbstverständnis der Deutschen

Schon vor dem Untergang des "alten Reichs" war dieses nicht mehr von der "teutschen Nation" angenommen worden. Friedrich der Große fand als Rebell gegen das Reich Anerkennung, und dem Gebilde blieb nur Spott und Verachtung. Goethe und Schiller fragten 1796 in den "Zahmen Xenien": "Deutschland? Aber wo liegt es?/ Ich weiß das Land nicht zu finden,/ Wo das gelehrte beginnt,/ hört das politische auf." Die Klassiker endeten mit der resignierenden Feststellung: "Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche vergebens." Doch mittelbar, über die Literatur, war es immerhin möglich. Goethe (im "Egmont") und Schiller (vor allem mit dem "Wilhelm Tell" und der "Jungfrau von Orleans") schufen Bestandteile eines Nationalbewusstseins. Die Charakterisierung der Deutschen als Volk der Denker und der Gelehrten und seine objektive Distanz zur Politik machten Schule. Goethe beschrieb in "Hermann und Dorothea" (1798) das Idyll des unpolitischen Deutschen, und Spitzweg malte es mehr als zwei Generationen später.

Ernst Moritz Arndt erweiterte im Anschluss an Johann Gottfried Herder den Volksbegriff um dieemotionale, demokratische Komponente. Er führte 1814 die Sprache und als emotionale Werte Zuverlässigkeit, Treue, Liebe, aber auch Mut an. Seiner Beschreibung des deutschen Charakters fügte er den Zorn auf "welschen Tand" und auf den "Franzmann" hinzu. Er tat dies während des "Befreiungskriegs". Indessen taugt jener nicht dazu, zum nationalen Freiheitskrieg erhoben zu werden, war er doch nur ein preußischer "Befreiungskrieg", kein deutscher; dagegen stand die staatliche Struktur Deutschlands. In der Vielvölkerschlacht vor Leipzig kämpften Truppen der Rheinbundstaaten auf Napoleons Seite - was das Überlaufen der Sachsen und Württemberger freilich nicht verhinderte. Der preußische Volkskrieg gegen Napeolon I. und die Franzosen erfolgte in Übereinstimmung mit der beibehaltenen Herrschaftsordnung der Monarchie und des Adels. Die mit Napoleon verbündeten Rheinbundfürsten, die immerhin ein Drittel seiner Russlandarmee gestellt hatten, vollzogen nach Österreichs Beitritt zur preußisch-russischen Koalition den politischen Schwenk und retteten damit ihre Herrschaft. Noch mehr: Der Rheinbund diente dem Deutschen Bund von 1815 als politisches Modell.

Verband sich der süddeutsche Konstitutionalismus im Vormärz mit der Freiheitsidee? Der Verfassungsstaat war ein Mittel der Staatsbildung, das neben den klassischen Mitteln dynastische Kontinuität, Verwaltung, Armee und Strafrecht durch die Gewährung von Mitbestimmungs- und Freiheitsrechten für die Untertanen ein rechtliches Gegengewicht zu den Standesherren, den Mediatisierten, schuf. Die Revolution von 1848/49 knüpfte an ihn an - und scheiterte an Preußen, dessen König die ihm angebotene Kaiserkrone ablehnte.

Das Verhältnis zu Frankreich war für die Deutschen stets bedeutungsvoll - und zwiespältig. Frankreich bot politisch Verfolgten Asyl und galt als Exportland für Umstürze. Stets revolutionsbereit und -willig taugte es als politisches Vorbild wenig, nachdem die Revolution in der Herrschaft Napoleons und später in der Restauration der Bourbonen geendet war - ganz abgesehen davon, dass der deutsche Hang nach "Ruhe und Ordnung" als Reaktion auf die Schrecken des Dreißigjährigen Kriegs, aber auch auf die Verwüstungen der Pfalz durch den "Sonnenkönig" und die fast zwanzig Jahre währenden napoleonischen Kriege verständlich war. Frankreich blieb eine unberechenbare Bedrohung. Als seine Intellektuellen erneut die Rheingrenze als "natürliche Grenze" einforderten, entstand ein deutsches Nationalbewusstsein, von dem die "Wacht am Rhein" und das Deutschlandlied zeugen. Letzteres übernahm das "alte Reich" als ungefähre geographische Einheit: "von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt". Es war der Bereich der deutschen Kulturnation, der gegen Frankreich geschützt werden sollte.

War der Deutsche "Der Untertan", wie ihn Heinrich Manns berühmter Roman 1914 beschrieb? Der "Soldatenkönig" Friedrich Wilhelm I. hatte seine Untertanen geprügelt und dies mit der Aufforderung begleitet, sie sollten ihn lieben. Mit dem Zuruf "Hunde, wollt Ihr ewig leben" hatte Friedrich der Große seine Grenadiere bei Kunersdorf in den Tod gejagt. Doch ist das Verhältnis der Preußen zur Obrigkeit vielschichtiger. Diese war zur Beschützerin der Glaubensfreiheit geworden und wurde durch einen "aufgeklärten Absolutismus" geprägt. Das "Räsonniert, aber gehorcht" markierte zunächst die Grenze, die der premier serviteur de l'état zog. Doch war der Bürger bereit, mit Kants kategorischem Imperativ, mit der Bereitschaft des Individuums, sein Interesse dem Gemeinwohl unterzuordnen, der Staatsgewalt entgegenzukommen. Dabei blieb es, obschon der preußische König nach dem Wiener Kongress sein Verfassungsversprechen nicht erfüllte. Der Staat honorierte dies mit der Gewährung der Gewerbefreiheit, und er sorgte für die Arbeiter mit der Sozialgesetzgebung. Beides waren wesentliche Schritte zur Nationsbildung.

Wie überall war der Krieg auch in Deutschland ein Mittel zur Einheitsstiftung. Dies gilt für den Krieg von 1813/14 als Kampf gegen die Fremdherrschaft und den Krieg von 1870/71 als Fortsetzung, denn er wehrte Frankreichs Anspruch auf Einmischung in die deutschen Verhältnisse ab. Als Einigungskrieg, der die süddeutschen Fürsten zur Aufgabe ihrer Souveränitätsideologie zwang und von ihrer Rheinbundmentalität löste, war er ein Schritt der deutschen Kulturnation zur Staatsnation, und dies auch noch in anderer Hinsicht: als Wiedergutmachung des von Ludwig XIV. begangenen historischen Unrechts, denn das Elsass gehörte zur deutschen Kulturnation. Nur prägte nicht sie das Reich, sondern der preußische Militarismus - wie die Ereignisse in Zabern und das eine Generation währende Ausnahmerecht für das "Reichsland" zeigten.

Der Erste Weltkrieg förderte im Deutschen Reich die Einheit, aber auch die Konzentration der Macht. Insofern gab es keinen Unterschied zum Zweiten Weltkrieg, der den Charakter des Volkskriegs als Vernichtungskrieg offenlegte. Der Kampf mit der Sowjetunion übertrug den deutschen Bürgerkrieg, den Kampf gegen die inneren Feinde, die als Kommunisten Gegner der Nation waren, auf den äußeren Feind. Hitler bediente sich der Protestbewegung gegen den Versailler Frieden und verband sie mit der Rasseideologie, welche die Unterdrückung und Ausrottung "minderwertiger" Rassen und Völker legitimieren sollte. Der Antisemitismus mündete im Holocaust. Die drakonische Erzwingung des Durchhaltens und die bevorstehende militärische Niederlage zerstörten den Anspruch des "Führers", das nationale Interesse Deutschlands zu repräsentieren - wie nicht zuletzt das Attentat vom 20. Juli 1944 zeigte.

Im historischen Rückblick ist die Bilanz negativ. Die deutsche Kulturnation ist nicht Staatsnation geworden. Dem stand geographisch die Option für "Kleindeutschland" entgegen, zunächst 1848/49 und sodann 1866/71. Und es fehlte stets die Freiheit, eindeutig in der Zeit des Deutschen Bundes. 1848 scheiterte die Nationsbildung an der Monarchie. Es bedurfte im Kaiserreich einer langen Zeit, bis die Verwirklichung des Rechtsstaates ein Mehr an Freiheit bedeutete. 1918 brachte die Revolution einen bloßen Herrschaftswechsel, den weder Volk noch Elite annahmen. Die "goldenen Jahre" der Weimarer Republik waren nur die hypertrophe Blüte des Individualismus als Reaktion auf den Obrigkeitsstaat. Das "Dritte Reich" bedeutete mit seiner Freiheitsfeindlichkeit, mit der Zwangsemigration seiner Kulturträger und dem Widerruf der jüdischen Assimilation, mit der Gewaltherrschaft und den Konzentrationslagern, mit seiner Vernichtung "minderwertiger" Völker und der ganzen Primitivität seines rassischen Herrschaftsanspruchs das vorläufige Ende der deutschen Kulturnation.

Die Kulturnation zu erneuern und aus ihr die deutsche Staatsnation zu begründen, ist nach 1945 erneut gescheitert: mit der Abtrennung Deutsch-Österreichs, dem Verlust der Ostgebiete und der deutschen Teilung, der Errichtung zweier konträrer Herrschaftssysteme. Die auf Befehl der westlichen Siegermächte errichtete Bundesrepublik schuf sich ein föderalistisch-parlamentarisch-bürokratisches Herrschaftssystem, welches das Volk von politischen Grundentscheidungen ausschloss und mit der Übertragung der Kulturhoheit auf die Länder Deutschland in die Zeit vor der Reichsgründung (1871) und der Weimarer Republik (1919) zurückversetzte. Die Aufhebung der deutschen Teilung im Oktober 1990 hat zwar die äußere Einheit wieder hergestellt, indem sie den westlichen Teilstaat um den östlichen erweitert hat. Doch ist die föderalistische Barriere auf dem Weg zurück zur deutschen Kulturnation geblieben. Es ist mühsamer geworden, ihn zu gehen.

Was tun?

Die bedingungslose Kapitulation von 1945 hat dennoch den Weg vorgezeichnet: Die Deutschen können seitdem die Vergangenheit weder annehmen noch über sie hinwegsehen und in Geschichtslosigkeit fliehen. In der Generationenabfolge nach 1945 konnte diese als Verdrängung selbst erlebter Vergangenheit praktiziert und sodann der Vätergeneration vorgeworfen werden. Nunmehr könnte sie das Bewusstsein einer neuen Generation, etwa der Zwanzig- bis Dreißigjährigen, wiedergeben. Die deutsche Geschichte lässt sich nicht durch den Vergleich mit anderen Völkern umgehen, auch wenn über deren Entwicklung Grillparzers Wort "Von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität" steht und die Nationalgeschichte demnach stets als eine nur in Einzelheiten abweichende Verbrecher- und Verbrechensgeschichte (mit dem "Schurkenstaat" als Vergleichskategorie?) aufzufassen wäre.

Die Deutschen sind der Geschichte gegenüber offen, denn sie haben den Prozess ihres Werdens zur Staatsnation noch nicht abgeschlossen. Sie sind auch dem Vergleich mit anderen Völkern gegenüber offen; der Bewertungsmaßstab ist der Anspruch an die Nation. Die deutsche Kulturnation gibt den Maßstab für diese Auseinandersetzung vor, die ohne Vorbedingung, ohne Konzession an den jetzigen oder an einen früheren Zeitgeist zu erfolgen hat. Geschichte ist Vergangenheit, "wie sie wirklich gewesen ist". Sie ist die Geschichte der Herrscher, der eigenen wie der fremden, und sie ist ebenso die Geschichte der Beherrschten, der Untertanen und der Opfer der Herrschaft. Beide Aspekte gehören zusammen. Es geht um Legitimation von Herrschaft und um ihre Ausübung, um Verantwortung für das politisch Geschehene, das Tun und Lassen in bestimmten entscheidenden Situationen.

Die Historiker stehen vor wichtigen Aufgaben. Können sie überhaupt erfüllt werden? Die Bestandsaufnahme ist schwierig. Es gibt eine Überfülle von geschichtlichen Arbeiten, doch sind sie nur allzu häufig Fragestellungen des Zeitgeistes verpflichtet, während erhebliche Lücken in der Forschung bei Grundfragen und deren Aufbereitung bestehen. Zudem hat sich der Adressatenkreis vergrößert, und die Medien haben einen anderen Erwartungshorizont geschaffen. Es geht nicht mehr nur um Geschichtsschreibung, sondern um kollektive Erinnerung: Die Vergangenheit soll unmittelbar nachvollzogen, soll erlebt werden. Essoll eine Brücke zu den früheren Zeitgenossen und deren Verhältnis zum kollektiven Geschehengeschlagen werden. Doch erschwert die Barriere des Kulturföderalismus die historische Analyse, denn die heutigen Länder entsprechen nicht den früheren und werden weder der RollePreußens noch der Österreichs und schon gar nicht dem Reich gerecht. Zum Gebot der Wahrheit tritt die Forderung nach gerechter Würdigung. Sie ist für die Zeit des Nationalsozialismus besonders dringlich. Der Jurist sollteüber die Recht- oder Unrechtmäßigkeit des"Dritten Reichs" urteilen.

Es bleibt die Hoffnung, dass der Bundespräsident als vergleichsweise machtloser Nachfahre des "aufgeklärten Absolutismus", als selbstloser Berater das gelehrte, unpolitische Deutschland aktiviert. Sicherlich ist der Bundespräsident kein Geschichtslehrer. Selbst mittelbar einzuwirken, die Richtung der wissenschaftlichen Arbeit oder gar deren Ergebnis vorzugeben, ist ihm versagt, ohne dass er damit freilich aus der wissenschaftlichen Diskussion ausgeschlossen werden sollte. Seine Aufgabe ist es, die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die der Freiheit der Wissenschaft entgegenstehen, und für den unmittelbaren Zugang des Bürgers zur Kultur, zu Wissenschaft und Kunst zu sorgen. Der Bundespräsident ist der unentbehrliche organisatorische Helfer. Er nutzt seine Autorität, um die bereits vorhandenen Kräfte - und sie stehen in ausreichendem Maße zur Verfügung - zu bündeln und die wissenschaftliche Arbeit für den Bürger überschaubar zu machen. Dabei kann er kraft der Autorität seines Amtes die Grenzen der deutschen Geschichte weit ziehen. Er ist weder an die bestehenden Staatsgrenzen, noch an die Staatsräson gebunden. Er kann daher weiter als die politische Gegenwart greifen und auch Österreich und Preußen, die verlorenen Ostgebiete, die Vertreibungsgebiete und die Zwangsemigrationen der beiden letzten Jahrhunderte einschließen, ohne sich damit dem Vorwurf des Revanchismus auszusetzen. Und er kann ebenfalls kraft seiner Stellung dafür sorgen, dass die Ereignisse und die Eliten der deutschen Geschichte auch in den Blick der anderen Nationen geraten.

Doch das Amt gestattet noch mehr: Der Bundespräsident kann unmittelbar zur Bewahrung des kulturellen Erbes eingreifen. Gewissermaßen als Wächter über den Umgang mit der Vergangenheit obliegt es ihm, für die Verwaltung des deutschen Kulturbesitzes zu sorgen. Entsprechendes gilt für die Gegenwart: Die Gründung einer "Deutschen Nationalakademie" ist überfällig. Schließlich ist der Bundespräsident auch für die Außenrepräsentanz der deutschen Kulturnation zuständig, und dies schließt, etwa beim schwierigen Thema der so genannten Beutekunst, den Schutz eines Kernbereichs der Kultur jenseits des politisch Verhandelbaren und Verfügbaren ein.

Die Aufgabe ist groß. Sie wartet darauf, erfüllt zu werden. Das Amt des Bundespräsidenten harrt seiner nationalen Sinngebung. Der Bundespräsident muss nur die bestehenden Freiräume im Bereich der Freiheit der Wissenschaft und der Kunst nutzen und gestalten. All dies dient dazu - und dies ist seine zutiefst politische Aufgabe -, das deutsche Volk wieder Kulturnation werden zu lassen. Dann kann es über seine Geschichte befinden und über deren Annahme das Plebiszit abgeben, eine Staatsnation sein zu wollen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Sein berühmter Vortrag ist neu auf Deutsch veröffentlicht worden: Ernest Renan, Was ist eine Nation? Rede am 11. Marz 1882 an der Sorbonne. Mit einem Essay von Walter Euchner, Frankfurt/M. 1995.

  2. Ich sage dies ungeschützt und lasse offen, wie weit die subjektiven Definitionen und Begriffsverwendungen der Vergangenheit auseinander gehen und welche Rolle juristische Aussagen gespielt haben. Voraussetzung für eine solche Analyse wäre die Bestandsaufnahme der Begriffsverwendung. Sie fehlt aber beispielsweise in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. 1 - 8, Neuausgabe, Stuttgart 2004.

  3. Seit Ferdinand Lassalle und Friedrich Naumann war gegen sie nichts einzuwenden. Worin besteht der Unterschied zwischen der Theorie und der historischen Herrschaftsordnung? Vgl. zu diesem Problem allgemein Thilo Ramm, Juristensozialismus in Deutschland, sowie ders., Anton Menger und die DDR, oder: Theorie und Praxis des Sozialismus. Ein Nachwort, beide in: Thomas Vormbaum (Hrsg.), Themen Juristischer Zeitgeschichte (= Juristische Zeitgeschichte, Abt. 2, Bd. 6), Baden-Baden 2000, S. 1 u. 17.

  4. Dem Sieger fehlte zur Versöhnung der Wille. US-General Eisenhower bezeichnete sich als Eroberer ("conqueror"). Die Kriegsziele waren außer der "denazification" die "demilitarisation" (weshalb der Staat Preußen aufgelöst wurde) und die "decartellisation" - insgesamt die Zerschlagung der Herrschaftsstruktur des deutschen "totalen Staats", der als solcher eine Bedrohung des Weltfriedens bildete. Die bedingungslose Kapitulation vom Mai 1945 war die Aufgabe der politischen Selbstbestimmung, die zuletzt allein noch durch das deutsche Heer verkörpert wurde. Der Waffenstillstand von 1918 war deutscherseits unter Bezugnahme auf Wilsons 14 Punkte erfolgt; 1945 dagegen wurden die Waffen "auf Gnade und Ungnade" gestreckt. Dies schloss auch die künftige politische Herrschaft über Deutschland ein.

  5. Die Konstellation ist seit den Befreiungskriegen bekannt: Die Vertreibung des fremden Usurpators allein stellt keine Freiheit her.

  6. Der Zusammenbruch des zweiten deutschen Teilstaats, der DDR, ist nicht der Bonner Republik als Erfolg zuzurechnen, auch wenn die Wiedervereinigung unter ihren Vorzeichen erfolgte.

  7. Nach der Aufkündigung des "alten Reichs" durch den Reichsdeputationshauptschluss 1803 und die Gründung des Rheinbunds 1806 übernahmen die Deutschen im österreichischen Kaiserreich die Rolle des Trägervolks, das nunmehr einem Vielvölkerstaat als Klammer diente.

  8. Diese anachronistische Definition erhielt sich bis zur Präambel der Weimarer Reichsverfassung von 1919 und wurde von Josef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (3 Bde., Regensburg 1912 - 1928; 4 Bde., 4. Aufl., Berlin 1938 - 1941) übernommen. Vielleicht kann in ihr, im Rückgriff auf die germanische Tradition, eine der Ursachen des Misslingens der nationalsozialistischen "Neuordnung des Reichs" gesehen werden. Der juristische Begriff des Föderalismus taugt zur Erfassung der deutschen Geschichte nur wenig; vgl. dazu kritisch Thilo Ramm, Föderalismus in Deutschland, in: Thomas Vormbaum (Hrsg.), Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte, 3 (2001/02), S. 1.

  9. Der "deutsche Kaiser" war eben nicht als "Kaiser von Deutschland" den Fürsten übergeordnet. Der preußische König blieb formal als "Primus inter Pares" innerhalb der durch den Rheinbund als staatsrechtliches Modell vorgegebenen Ordnung. Doch war das Modell stets durch die Hegemonie ergänzt worden: durch die französische, durch die Doppelhegemonie Österreichs und Preußens und dann seit 1866/71 durch die ausschließlich preußische.

  10. Nach Goethes Bericht in "Dichtung und Wahrheit" waren die Frankfurter (die Bürger der Freien Reichsstadt und Krönungsstadt des Reichs) "fritzisch" gesonnen.

  11. Der Spott begann mit dem (wirklich ungewollten?) Druckfehler über die "e(i)lende Reichsarmee". In Auerbachs Keller (Goethes "Urfaust", 1773/1775) hieß es: "Das liebe heilge römsche Reich, wie hälts nur noch zusammen." Samuel Pufendorf sprach vom "monstrum irregulare", und Hegel erkannte dem Reich die Vernunft und damit die Realität ab (1802).

  12. Der von Friedrich Wilhelm I. geprägte Militärkult war mit der Katastrophe von 1806 zusammengebrochen. Doch ging die Erneuerung Preußens von der allgemeinen Wehrpflicht aus, so dass die Armee einen neuen Stellenwert erhielt.

  13. Wird die zeitgenössische Bewertung und nicht die spätere zugrunde gelegt, so ist zwischen der allgemeinen Ablehnung der Besatzungsarmee und der finanziellen Ausbeutung, dem emotionalen, kollektiven Empfinden der Demütigung sowie den Reaktionen der Eliten zu unterscheiden: der des Adels als des militärischen Versagers von 1806, und der des Bürgertums, das den Widerspruch zwischen französischer Menschheitsideologie und Imperialismus mitsamt Napoleons organisiertem Kunstraub zutiefst empfand. Das Volk, das noch in patriarchalische Verhältnisse eingebunden war, bedurfte des Aufrufs des Königs von 1813 zum Befreiungskampf.

  14. Nach Kriegen besteht stets ein allgemeines Bedürfnis nach einem Ruhe und Ordnung symbolisierenden und garantierenden "Landesvater". Kontinuität verspricht die Familie, die seit dem 19. Jahrhundert zumindest in Deutschland mit bürgerlichen Maßstäben gemessen wurde.

  15. Vgl. hierzu Johannes Haller, Tausend Jahre deutsch-französischer Beziehungen, Stuttgart 1930. Zeitzeuge für die damalige Reaktion ist Friedrich Engels, der Elsass-Lothringen zurückforderte.

  16. Dies besagt die erste Strophe: "wenn es stets zu Schutz und Trutze brüderlich zusammenhält".

  17. Aus seiner Spätzeit stammt die Äußerung: "Ich bin es müde, über Sklaven zu herrschen." Sie markiert ein Ende des "aufgeklärten Absolutismus". Das andere markiert Leopold II. als Großherzog der Toskana: die fortschreitende Machtbeschränkung des Monarchen bis zu seiner Selbstaufhebung. Dieser Gedanke findet sich auch in den letzten, fragmentarischen Äußerungen Fichtes, die Ferdinand Lassalle 1860 publizistisch für Preußen ins Spiel brachte.

  18. Damit wird ein zentraler Punkt des deutschen Geschichtsverständnisses berührt: Das Individuum ist nicht das in sich ruhende, ungebrochene, das selbstverständlich agiert - und mit sich selbst einig ist, auch beim Königsmord. Geht dies auf den Protestantismus zurück?

  19. Die Liquidation der feudalistischen Ordnung in den Rheinbundstaaten bezahlten nicht zuletzt die in den napoleonischen Vernichtungskriegen im Zuge der Militärallianz zu Soldaten gepressten Untertanen.

  20. Wie weit war der preußische Staat überhaupt integrationsfähig? Das Preußische Allgemeine Landrecht bot eine Integrationschance - die des aufgeklärten Absolutismus. Ob sie ausgereicht hätte, wenn nicht Friedrichs des Großen Nachfolger mediokre Persönlichkeiten gewesen wären? Ob Friedrich III. den Beweis hätte führen können? Historisch ging die Integration nicht über die Herrschaftssicherung durch Armee, Verwaltung und Justiz hinaus - ausgenommen die Selbstverwaltung der Städte. Die Assimilation der jüdischen Oberschicht gelang, nicht die der polnischen Untertanen in den Ostprovinzen.

  21. Vgl. hierzu Th. Ramm (Anm. 8).

  22. Die Haltung des Bundeskanzlers, unter Berufung auf das Grundgesetz eine Volksabstimmung über den europäischen Verfassungsentwurf abzulehnen, die in anderen Staaten durchgeführt wird, ist unbegreiflich, hat er doch vor nicht allzu langer Zeit den Entwurf einer Grundgesetzänderung eingebracht, der die Einführung von Volksabstimmungen zum Gegenstand hatte.

  23. In Deutschland sind erst im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Nationen, die objektiven Bedingungen der Staatsbildung gesetzt wurden. Diese Zeitversetzung hat unter dem Stichwort der "verspäteten Nation" Helmuth Plessner abgehandelt. Konflikte, die früher als solche der Monarchien gesehen und abgetan wurden, wurden zu nationalen. So war Frankreich nach außen, d.h. territorial, mit Ludwig XIV. und subjektiv mit der Französischen Revolution abgeschlossen.

  24. Vgl. zu den mit der Rückkehr zu Ranke verbundenen Forderungen Thilo Ramm, Der Jurist und das kollektive Erinnern, in: Juristenzeitung, 56 (2004) 14, S. 689 - 695.

  25. Dies sollte durchaus förmlich, durch Ernennung eines besonderen Tribunals, etwa früherer Verfassungsrichter, geschehen. Ein solches juristisches Urteil über die Rechtmäßigkeit der Herrschaft ist zugleich auch eines über die des Widerstands. Ein Gesamturteil ist an der Zeit - nachdem die Urteile über die kollektiven Morde bis hin zurRehabilitierung der Deserteure erfolgt sind. Das Drängen der Bonner Republik um die Rechtsnachfolge desReiches entbehrt schon seit der Wiedervereinigung des politischen Anlasses.

  26. Vgl. hierzu meinen "Standpunkt" in: Focus, (2004) 21.

  27. Damit setzt er eine alte, seit dem Freiherrn vom Stein bestehende Tradition fort. Doch ist nicht das Mittelalter und die Förderung der spärlichen Kenntnis durch die Herausgabe von Geschichtsquellen das Ziel, sondern die Beherrschbarkeit der Überfülle von Quellen und Deutungen in der Neuzeit.

  28. Um den Akzent unmissverständlich zu setzen: Die deutsche Kulturnation hat nach 1933 nicht im braunen Deutschland, sondern in der Emigration überdauert.

  29. National ist somit nicht nationalistisch. Andererseits kann noch nicht von einem gemeinsamen übernationalen, europäischen Standpunkt Geschichte geschrieben werden. Hierzu bedarf es erst der Feststellung des Gemeinsamen oder der Rückbesinnung auf eine frühere, historisch gegebene Gemeinsamkeit: etwa auf das Reich Karls des Großen.

Dr. jur., geb. 1925; em. o. Professor für Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht; bis 1977 Ordinarius an der Universität Gießen und an der Fernuniversität Hagen.
Anschrift: Brahmsweg 11 A, 64287 Darmstadt.
E-Mail: E-Mail Link: thilo@proframm.de

Veröffentlichungen u.a.: Familienrecht. Verfassung, Geschichte, Reform, Tübingen 2000; Zum freiheitlichen sozialen Rechtsstaat, Frankfurt/M. 2001; Ferdinand Lassalle, Berlin 2004.