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Großbritannien nach der Devolution | Großbritannien | bpb.de

Großbritannien Editorial Maggies Zehn Gebote - Essay New Labour und die britische Außenpolitik Großbritannien nach der Unterhauswahl Deutsche und Briten seit 1990 Großbritannien nach der Devolution "Ende der Geschichte" in Nordirland?

Großbritannien nach der Devolution

James Mitchell

/ 16 Minuten zu lesen

Das Vereinigte Königreich ist ein vielfältiger Staat. Devolution scheint dazu beigetragen zu haben, dass diese Vielfalt noch stärker verwurzelt ist. Weitere, schrittweise Veränderungen sind zu erwarten.

Einleitung

Devolution, die Übertragung administrativer Unabhängigkeit an regionale Körperschaften, scheint mit einer langen Tradition zentralisierter Regierung im Vereinigten Königreich zu brechen, doch wurzelt sie in Institutionen der Vergangenheit. Während andere Länder über eine schriftlich niedergelegte Verfassung mit Grundrechten verfügen, ist es in Großbritannien die Geschichte, die Anschauungsmaterial über das Funktionieren und die institutionelle Beschaffenheit der Verfassung vermittelt. Die Praxis der Vergangenheit ist ebenso wichtig wie die nur bruchstückhaft aufgeschriebene Verfassung: der Unionsvertrag von 1707, der Schottland und England vereinte, der Beitrittsvertrag von 1972, der Großbritannien in die EWG führte, sowie verschiedene vom Parlament verabschiedete Gesetze.

Großbritannien genießt zu Recht einen Ruf als eine der zentralisiertesten liberalen Demokratien, es verfügte aber dennoch stets über eine Vielfalt politischer Institutionen. Das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland ist durch eine Reihe von Bündnissen entstanden. Die verschiedenen Bündnisse, die England in historischer Zeit erschaffen haben, wirkten, verglichen mit anderen in Europa, assimilierend. Mit der Zeit wurden die Spuren eines englischen Regionalismus verwischt. Das Erbe jener ersten Union, aus der sich das spätere England entwickelt hat - der größte Bestandteil des Vereinigten Königreichs -, hat sich als prägend erwiesen. England war der Prototyp eines Einheitsstaates. Dieses Staatsverständnis fand seinen Ausdruck im politischen Denken. In England finden Vorschläge für eine Dezentralisierung der politischen Macht (und vor allem für eine Übertragung legislativer Befugnisse auf gewählte Körperschaften) bis heute nur wenig Unterstützung. Es ist eine beachtliche kulturelle Vielfalt erkennbar, die sich bislang jedoch nicht in Forderungen nach mehr Autonomie niedergeschlagen hat.

Die Union zwischen England und Wales von 1536 war assimilierender Natur, obschon Wales als eigenständiges Gebilde fortbestand. Kulturell identifizierten sich die Waliser vor allem über ihre Sprache, die sich auf ein geografisches Gebiet konzentriert. Die Union Englands mit Schottland 1707 erfolgte freiwillig (zumindest was die schottischen Eliten betraf), war mit dem Beibehalt bedeutsamer schottischer Institutionen verbunden und wirkte weniger assimilierend. Die Legitimität der Union mit Irland von 1541 wurde immer wieder in Frage gestellt.

Diese Bündnisse, aus denen das Vereinigte Königreich entstand, spiegeln sich im breit gefächerten Wesen des Staates wider. Einige Facetten, vor allem landesweite kirchliche Institutionen oder das schottische Rechtssystem, verloren im Zuge der Säkularisierung und der Entstehung neuer Rechtskörperschaften an Bedeutung. Diesem Trend zur Uniformität aber stand die Entwicklung neuer Institutionen gegenüber, welche die politische Vielfalt bewahrten. Der Souverän, später das Parlament, stellte das Zentrum dieses komplexen Staatsverbandes dar.

Die Doktrin von einer vereinheitlichten Quelle der Legitimität war für die Zentralisierung der Macht von Bedeutung. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert stellte der Rechtsgelehrte Albert Venn Dicey diese Doktrin auf und brachte sie in die Debatten über die irische Selbstverwaltung ein. Er argumentierte, dass jene mit der parlamentarischen Souveränität unvereinbar sei, gestand aber ein, dass das Vereinigte Königreich kein uniformes Staatswesen sei. Für ihn galten drei Schlagworte: Einheit der Regierung, Gleichheit der politischen Rechte und Vielfalt der Institutionen.

Übersetzung aus dem Englischen: Susanne Laux, Königswinter.

Selbstverwaltung der Regionen

Als Reaktion auf Klagen, die schottische Eigenart werde ignoriert, wurde 1885 ein Ministerium für Schottland (Scottish Office) geschaffen. Es wurde von einem vom Premierminister ernannten Minister geleitet und übernahm unter anderem die Verantwortung für das Bildungs- und Erziehungswesen. Seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts hat der für Schottland zuständige Minister einen Sitz im Kabinett (wenn auch als eines der rangniedrigsten Mitglieder) und ist Westminster rechenschaftspflichtig. Bis zur Schaffung des schottischen Parlaments im Jahr 1999 wurde das Scottish Office von solchen Politikern der in Großbritannien regierenden Partei geführt, die schottische Wurzeln hatten; nach 1945 hatten sie jeweils einen der schottischen Sitze im House of Commons inne.

Im späten 19. Jahrhundert wurde die britische Politik von der "irischen Frage" beherrscht. Die "Lösung" bestand im Angebot einer Selbstverwaltung unter britischer Regierungshoheit. Damit wäre das Parlament in Nordirland, wo sich der Widerstand gegen die irische Selbstverwaltung konzentrierte, nicht einer für ganz Irland geltenden parlamentarischen Legislative unterstellt worden. Diese Pläne wurden nur teilweise umgesetzt - der Süden verließ das Vereinigte Königreich, und Nordirland, das der devolution am ablehnendsten gegenüberstand, blieb der einzige Landesteil mit einem eigenständigen Regionalparlament. Zwischen 1922 und 1972 rief die in Stormont bei Belfast amtierende Regierung den Widerstand der katholischen Minderheit hervor, die von der protestantischen Gemeinschaft diskriminiert wurde. Die Aufgaben und Befugnisse des Regionalparlaments waren breit gefächert. Die Diceyschen Verfassungsgrundsätze wurden ausgehöhlt, die parlamentarische Souveränität der Zentralregierung von Beginn an herausgefordert. Stormont hatte Entscheidungen Westminsters anfangs zurückgewiesen - auch in Fragen des Wahlsystems. Als Westminster im Jahr 1972 entschied, das Parlament auf unbestimmte Zeit zu vertagen, machte es seine Souveränität geltend, hinterließ jedoch auch ein institutionelles Vermächtnis. Nordirland war nicht vollständig in das restliche Großbritannien integriert; es wurde ein an das Scottish Office angelehntes Ministerium für Nordirland (NIO) eingerichtet. Der entscheidende Unterschied bestand darin, dass der Minister vom Premierminister ernannt wurde, ausnahmslos jedoch nicht aus Nordirland stammte, wo ein anderes Parteiensystem als in England existiert.

Trotz der assimilierenden Natur der anglo-walisischen Union und der Annahme, dass rechtliche und politische Verweise auf England sich stets auch auf Wales bezogen, entstanden im 20. Jahrhundert institutionelle Strukturen, die unverkennbar walisisch waren. Das Ministerium für walisische Angelegenheiten (Welsh Office) wurde erst 1964 eingerichtet, doch hatte auch diese Institution walisische Vorläufer. Das Welsh Office erhielt, ähnlich wie das Scottish Office, immer größere Zuständigkeiten. Die Berufung seiner politischen Führung folgte dem schottischen Muster, bis Premierministerin Margaret Thatcher 1987 einen Abgeordneten zum Wales-Minister ernannte, der nicht aus Wales stammte - damit provozierte sie Forderungen nach einer weitergehenden walisischen Selbstverwaltung.

Dieses unterschiedliche Vorgehen ließ einen Staatsverband entstehen, der zugleich asymmetrisch, institutionell vielfältig und zentralistisch ausgerichtet war. Das Parlament von Westminister wachte eifersüchtig über seine legislative Autorität. Trotzdem verfügten die Institutionen, aus denen sich die Exekutive zusammensetzte, über Autonomie. Vor der devolution fielen wichtige Aufgaben (vor allem des Sozialstaats) in Schottland, Wales und Nordirland in die Zuständigkeit territorialer Abteilungen, die Westminster gegenüber rechenschaftspflichtig und vornehmlich in den Hauptstädten der Landesteile angesiedelt waren. Neben einer einheitlichen Quelle der Souveränität gab es institutionelle Vielfalt. Dies war ein Staat nach Diceyschem Muster: Die Einheit der Regierung und die politischen Rechte wurden durch die Souveränität des Parlaments gewährleistet, und die Vielfalt der Institutionen wurde in den territorialen Abteilungen erkennbar.

Bei der Einrichtung des Scottish Office hatte Premierminister Lord Salisbury den ersten Amtsinhaber davor gewarnt, dass die "Erwartungen der Schotten ,ans Eingemachte` gingen". Vielfalt war nicht genug; es stellte sich die Erwartung heraus, dass die Institutionen eher schottischen und walisischen Autoritäten unterstellt werden sollten als dem Staat als Ganzem. Dies rief kaum Probleme hervor, solange die in London regierende Partei auch in Schottland und Wales die stärkste war.

Die Lage verschärfte sich, als Margaret Thatcher 1979 Premierministerin wurde. Sie galt als unerschütterliche Verfechterin des Unionismus - ein Ruf, den sie bei der Suche nach einer Friedenslösung für Nordirland verlor. Die Unionisten sahen die Initiativen ihrer Regierung mehr und mehr als Verrat. Ihr Unionismus wurde in Schottland und Wales zwar nicht angezweifelt, nahm allerdings eine ungewöhnliche Form an: Sie wurde als Vertreterin eines Denkens wahrgenommen, in dem Großbritannien nur eine Erweiterung Englands war. Die Konservativen hatten sich bei der Wahl 1979 in Schottland und Wales zwar erholen können, fielen in den Folgejahren - abgesehen von Schottland 1992 - in der Wählergunst aber erneut zurück. Thatchers Problem war, dass das Scottish wie das Welsh Office nicht mehr als großzügige Zugeständnisse der Zentralregierung erschienen. Wie sie in ihren Memoiren verdeutlichte, konnte sie nicht verstehen, weshalb es ein Scottish Office überhaupt geben müsse: "Das Scottish Office (dessen Struktur nur noch mehr Bürokratie bedeutete und Reformen im Weg stand, die sich in England so bezahlt machen sollten) war stolz darauf, dass die öffentlichen Pro-Kopf-Ausgaben in Schottland weit höher lagen als in England." Thatcher konnte nie nachvollziehen, dass das Vereinigte Königreich ein Verband verschiedener Staaten war. Aus diesem Blickwinkel betrachtet waren es nicht die Scottish National Party oder Plaid Cymru - die nationalistischen Parteien in Schottland und Wales -, die den Zusammenhalt Großbritanniens bedrohten, sondern Thatcher selbst.

Ihr Nachfolger John Major unternahm den Versuch, seine Sympathie für eine größere Selbstverwaltung der Regionen mit symbolischen Gesten unter Beweis zu stellen, die ein Jahrzehnt zuvor vielleicht noch verfangen hätten. Doch als er sein Amt antrat, befand sich die Konservative Partei in Schottland und Wales in einer desolaten Lage. Lediglich in Nordirland leistete Major einen wichtigen Beitrag - dort wurde devolution zu einem Teil des "Friedensprozesses", wenn auch nicht dessen bedeutsamster. Major ist es nie gelungen, eine zufrieden stellende Erklärung dafür zu liefern, warum devolution für Nordirland notwendig war, in Schottland und Wales aber den Zusammenhalt Großbritanniens untergraben würde.

Tony Blair erbte 1997 die Politik der devolution, der er zunächst wenig abgewinnen konnte. Sie war aber eine der wenigen Hinterlassenschaften, die Blair aus Furcht vor einer Abstrafung bei Wahlen nicht in Frage stellen wollte. In Schottland und Wales war die Unterstützung für die devolution während der Regierungszeit der Konservativen stärker geworden, und immer mehr Menschen traten für die vollständige schottische Unabhängigkeit ein. Nach der Wahl von 1997, bei der die Konservativen sämtliche Mandate in Schottland und Wales verloren hatten, wurden in beiden Landesteilen die zweiten Referenden zur devolution durchgeführt. Als Antwort auf die zunehmende Unterstützung für die Nationalisten hatte die Regierung die Bevölkerung bereits in den siebziger Jahren abstimmen lassen: In Wales mit überwältigender Mehrheit gegen und in Schottland mit einer knappen Mehrheit für devolution - zu wenig, um die vom Parlament geforderten Quoren zu erreichen. In Schottland hatten 1979 (bei einer Beteiligung von 63,6 Prozent) 51,6 Prozent mit Ja gestimmt, 48,8 Prozent dagegen; eine 40-prozentige Zustimmung aller Wahlberechtigten war erforderlich. Der Anteil der Wahlberechtigten, die mit Ja stimmten, lag bei 32,8, mit Nein stimmten 30,8 Prozent. Labour verfügte in dieser Frage über keine Mehrheit im Parlament, da mindestens 100 Labour-Abgeordnete in Westminster gegen die devolution in Schottland waren. 1997 hingegen stimmten (bei einer Beteiligung von 60,2 Prozent) 74,3 Prozent mit Ja, nur noch 25,7 Prozent lehnten devolution in Schottland ab. In Wales wuchs die Zustimmung von 20,3 Prozent (1979) auf 50,3 (1997) - bei einer Beteiligung von 58,3 bzw. 50,1 Prozent.

In Nordirland wurde 1998 eine Volksbefragung zum Karfreitags-Abkommen durchgeführt. Diesem waren Gespräche vorausgegangen, an denen acht politische Parteien sowie die britische und die irische Regierung beteiligt waren. Das Abkommen bestand aus drei konstitutionellen "Strängen", die sich auf die Regelung interner Angelegenheiten in Nordirland, die Beziehungen der Provinz zur Republik Irland sowie zu Großbritannien bezogen. Darüber hinaus behandelte das Abkommen eine Reform des Polizeiwesens und die Entwaffnung der paramilitärischen Organisationen. Dublin verpflichtete sich, seinen in der Verfassung verankerten territorialen Anspruch auf Nordirland nach einem Referendum im Süden aufzugeben, das am selben Tag wie die Volksbefragung im Norden durchgeführt wurde. In der Volksabstimmung stimmten in Nordirland 71,1 Prozent dem Abkommen zu, in der Republik Irland waren es gar 94,4 Prozent - dort allerdings bei einer weit geringeren Beteiligung als im Norden der geteilten Insel (56,1 gegenüber 80,9 Prozent).

England alleine

Es erscheint absurd, die Ausgestaltung der politischen Strukturen Großbritanniens ausgerechnet in England als abweichend zu beschreiben, dem mit 50,1 Millionen Menschen (83,7 Prozent) größten Landesteil des 59,8 Millionen Menschen umfassenden Vereinigten Königreichs. Vor dem Hintergrund jüngster konstitutioneller Veränderungen aber scheint das Erbe der Uniformität (die in England größer ist als in anderen Teilen des Vereinigten Königreichs) genau das zu sein: eine Eigenentwicklung. Es gibt nur wenige, die einer föderalen Ordnung im Vereinigten Königreich das Wort reden, und sie stehen am Rand des politischen Spektrums. Die Liberaldemokraten, Großbritanniens drittstärkste Partei, treten formell für eine föderale Ausrichtung ein, heben dies aber im Wahlkampf nicht besonders hervor.

Doch ist auch in England der Regionalismus von Bedeutung. Wie in jedem größeren und entwickelten Staat ist Dezentralisierung notwendig, damit Politik überhaupt betrieben werden kann. Der in viele Belange eingreifende Sozialstaat brachte eine Reihe von Ad-hoc-Körperschaften auf regionaler Ebene hervor, in deren Verantwortung zahlreiche (begrenzte) Politikbereiche fielen, die letztlich aber der Zentralregierung unterstellt waren. Wie es in einer historischen Studie heißt, herrschte in England "ein Chaos von Bereichen, Körperschaften und Steuersätzen". Die lokale Regierungsausübung wurde mit der Schaffung weniger Ad-omnia-Behörden gestärkt, doch geschah dies nicht mit den über ganz England verteilten Behörden der Zentralregierung. Eine Studie konnte Mitte der neunziger Jahre etwa 100 unterschiedliche regionale Verwaltungsstrukturen in England ausmachen.

Während der Amtszeit Majors wurden Anstrengungen unternommen, die Regionalbehörden zu stärken. Über Regierungsbehörden für die Regionen (Government Offices for the Regions/GORs) konnten einige regionale Belange indirekt wieder an London übertragen werden. 1992, als Labour noch in der Opposition war, trat sie für regionale Versammlungen ein, doch räumte sie diesem Vorhaben keine Priorität ein. Auch nach 1997 scheiterte die Labour-Regierung an diesem Vorhaben, obwohl 1999 regionale Entwicklungsgesellschaften (Regional Development Agencies/RDAs) eingerichtet wurden. Diese verfügten anfangs jedoch nur über ein Budget, das unter einem Prozent der Gesamtausgaben der Regierung für die Regionen lag.

Im Wahlprogramm von 2001 versprach Labour erneut, Regionalversammlungen in England einzurichten. Für den Herbst 2004 kündigte die Regierung drei Volksbefragungen an - im Nordosten Englands, im Nordwesten und in der Region Yorkshire-Humberside. Im Juli 2004 erklärte der stellvertretende Premierminister John Prescott, dass nur eine dieser Befragungen - die im Nordosten - durchgeführt werde, da in diesen Gebieten Probleme bei der Briefwahl aufgetaucht seien. Es gab zwei tatsächliche Gründe, die zur Verschiebung der Volksbefragungen führten. Zum einen war sich Labour in dieser Frage nicht einig, und zum anderen wäre eine Zustimmung zur Einrichtung von Regionalversammlungen höchst unwahrscheinlich gewesen. Angesichts der unmittelbar bevorstehenden Unterhauswahl konnte sich Labour aber eine Niederlage kaum leisten - vor allem, da die Konservativen im Wahlkampf vehement gegen die Schaffung solcher Regionalversammlungen eintreten würden. Der Nordosten Englands, eine recht solide Labour-Hochburg, stimmte aber im November 2004 mit überwältigender Mehrheit gegen eine Regionalversammlung (bei einer Beteiligung von 48 Prozent lag der Anteil der Nein-Stimmen bei 78 Prozent). Dies bedeutete das vorläufige Ende aller Überlegungen zur Einrichtung gewählter Regionalregierungen in England.

Zwei unterschiedliche Entwicklungen dürften künftig für Veränderungsdruck sorgen. Die erste ist demokratischer Natur und ähnelt den Forderungen nach devolution in Schottland und Wales. Doch es ist bemerkenswert, dass sich selbst im Nordosten, der am weitesten vom Zentrum entfernt liegenden Region mit einer eigenen politischen Kultur, wenig Unterstützung für devolution in England fand. Der zweite Grund ist eher technokratischer Natur: London ist auf eine regionale Ausübung der Regierungshoheit angewiesen, ob diese nun direkt gewählt ist oder nicht.

Die West-Lothian-Frage

Einem föderalen Regierungssystem nicht näher gekommen zu sein, hinterlässt in der Verfassung des Vereinigten Königreichs einen schweren Webfehler. Schon in den siebziger Jahren stellte Tam Dalyell, der Labour-Abgeordnete für West Lothian, immer wieder die Frage, warum er, der einen schottischen Wahlkreis im House of Commons vertrat, über das englische Gesundheitssystem, den Wohnungsbau in England und andere englische Belange abstimmen dürfe, während er in diesen Punkten nicht abstimmen dürfe, wenn sie seine eigenen Wähler beträfen, da sie der beabsichtigten schottischen Regionalversammlung übertragen werden sollten. Natürlich rief Dalyells Kritik neuen Widerstand englischer Abgeordneter gegen die devolution in Schottland und Wales hervor.

Es gibt Alternativen, doch dringt keine zum Kern des Problems vor oder wird gegenwärtig ernsthaft diskutiert. Erstens könnten sich die Abgeordneten aus den devolved parts des Vereinigten Königreichs der Stimme enthalten, wenn es um Dinge geht, die den Rest des Landes betreffen, die in dem von ihnen vertretenen Landesteil aber eigenständig geregelt werden. Diese in-and-out-Haltung könnte jedoch eine Situation zur Folge haben, in der eine Partei im Vereinigten Königreich über eine absolute Mehrheit in Fragen von allgemeinem Interesse verfügt und eine andere über eine Mehrheit in "englischen" Fragen. Die Ausübung der Regierungsgewalt durch das Kabinett wäre unmöglich. Zweitens könnten Fragen, die von allgemeinem Interesse sind, auch in einem streng föderalen Gefüge, in dem jeder Landesteil zumindest ähnliche Rechte hätte, dem Unterhaus überlassen werden. Nach dem Ergebnis des Referendums im Nordosten Englands scheint daran jedoch niemand Gefallen zu finden. Drittens ist eine Verringerung der Zahl der Abgeordneten aus den devolved parts denkbar. Dies würde die Chancen verringern, dass solche Abgeordneten bei der Stimmabgabe im House of Commons zu Schlüsselfiguren in Fragen würden, die lediglich England berühren. Die Anzahl der schottischen Parlamentsabgeordneten wurde mit der Unterhauswahl 2005 von 72 auf 59 reduziert. Die Anzahl der Parlamentsabgeordneten aus Wales und Nordirland, wo die devolution schwächer ausgeprägt ist, ist gleich geblieben. Eine vierte Lösung wäre es, dass Schottland, Wales und Nordirland gar keine Abgeordneten mehr nach Westminster entsenden, doch liefe dies entweder auf die vollständige Unabhängkeit dieser Landesteile oder aber auf den historischen Protestruf "No taxation without representation" ("Keine Besteuerung ohne Vertretung") hinaus.

England bleibt der Schlüssel zur Zukunft der devolution. Labour errang in den vergangenen drei Unterhauswahlen in Schottland, Wales und England mehr Sitze als alle anderen Parteien zusammen, obwohl die Konservativen 2005 in England zwar nicht mehr Sitze, aber doch mehr Stimmen als Labour auf sich vereinen konnten. Mit Sicherheit aber würde eine schwere politische Krise entstehen, wenn eine Labour-Regierung auf der Grundlage der Stimmen in Schottland und Wales gewählt werden würde bzw. die Konservativen an einer Übernahme der Macht gehindert würden, obwohl sie in England über eine Mehrheit der Sitze verfügen.

Fixierte Vielfalt

Die Vorschläge zur devolution in Schottland, Wales und Nordirland waren unterschiedlich. Der für das konstitutionelle Programm von Labour verantwortliche Justizminister erklärte, Großbritannien sei eine "asymmetrische politische Einheit", und der Ansatz der Regierung spiegele "die unterschiedliche Geschichte und gegenwärtigen Umstände in England, Schottland und Nordirland" wider: "Wir werben nicht für eine uniforme Dezentralisierung der Macht im föderalen Stil, sondern für eine differenzierte devolution in unterschiedlichen Teilen des Vereinigten Königreichs."

Dem schottischen Parlament wurden nur begrenzte Befugnisse zugestanden, Steuern zu erheben, dafür aber weitreichende gesetzgeberische Kompetenzen, die es vom Scottish Office "geerbt" hatte. Wales wurde eine "Versammlung" gegeben, die weder über steuerliche noch übergeordnete gesetzgeberische Befugnisse verfügt, aber Prioritäten in der Ausgabenpolitik festlegen soll. Beide Institutionen werden nach dem "additional member system" gewählt, das die Wahl von Parteien und einzelnen Kandidaten erlaubt und mehr Repräsentativität gewährleistet als das Mehrheitswahlrecht. Dies hatte zur Folge, dass Labour und die Liberaldemokraten in Edinburgh und in Cardiff (1999 bis 2003) eine Koalition eingingen und es in Wales eine Minderheitsregierung von Labour gab.

Die Nordirische Versammlung hat keine Kompetenzen in der Steuerpolitik und nur wenige legislative Befugnisse. Die Exekutive wird nach einer Formel gebildet, die sicherstellt, dass die vier stärksten Parteien beteiligt sind. Dieses Konsoziationsmodell, das eine Teilung der Macht in den gespaltenen Gemeinden gewährleisten soll, hatte eine zerstrittene Exekutive zur Folge. Seit ihrer Einberufung ist die Nordirische Versammlung wegen fehlender Fortschritte im "Friedensprozess" immer wieder und für einen langen Zeitraum ausgesetzt worden. Im Vergleich zu früher mag ein "friedlicher und geordneter Zustand" erreicht worden sein, doch würden nur wenige sagen, für Nordirland sei "Good Governance" kennzeichnend. Minister wurden dafür kritisiert, "in ihren jeweiligen Abteilungen wie auf ,Lehnsgütern` zu residieren". Die fortdauernde Aussetzung der Versammlung bedeutet, dass das Nordirland-Ministerium auch weiterhin eine wichtige Rolle spielen wird.

Rhodri Morgan, der Erste Minister der walisischen Regionalregierung, hat eine Kommission zur Umsetzung der devolution eingesetzt, auch wenn es nicht in der Macht der Versammlung steht, eine Änderung ihrer Kompetenzen oder des Wahlverfahrens vorzunehmen. Die Unzufriedenheit mit der in Wales vollzogenen devolution ist in Unterstützung für weitere Reformen umgewandelt worden. Die Empfehlungen der parteiübergreifenden Richard-Kommission 2004 waren weitreichender Natur und ließen London einen Katalog von Antworten entwickeln. Noch immer aber gibt es starken Widerstand gegen eine weitergehende devolution in Wales, vor allem unter den Labour-Abgeordneten in Westminster. In Schottland sind Stimmen für eine weitergehende devolution laut geworden, besonders für ein größeres Maß an steuerlicher Eigenständigkeit. In Nordirland dagegen bewegt man sich, was verfassungspolitische Fragen betrifft, in eingefahrenen Gleisen, da die Hardliner auf beiden Seiten in den jüngsten Wahlen hinzugewonnen haben.

Weniger als ein Jahrzehnt nach der Regierungsübernahme durch Labour lässt sich mithin kaum überzeugend vorhersagen, ob über das institutionelle Gefüge des britischen Staatsverbandes bereits endgültig entschieden ist. Erstens weist die Wirtschaft Großbritanniens seit Jahren gute Ergebnisse vor (gemeinsam mit einem hohen Niveau der öffentlichen Ausgaben), sodass die devolution und ihre Institutionen ihre Kinderjahre in guten Zeiten erlebt haben. Zweitens ist Labour in London an der Regierung und gleichzeitig stärkste Partei in Schottland und Wales. Künftig aber ist eine Periode nachhaltiger wirtschaftlicher Schwierigkeiten und daraus folgender finanzieller Zwänge ebenso denkbar wie unterschiedliche Regierungsparteien in den verschiedenen Teilen Großbritanniens.

Zerfällt Großbritannien?

Theoretisch könnte Westminster das schottische Parlament und die walisische Nationalversammlung ebenso abschaffen, wie es das Nordirische Parlament 1972 vertagt und die Nordirische Versammlung in jüngerer Zeit ausgesetzt hat. Doch es gäbe wohl wenig, was einem Wiedererstarken des Nationalismus in Schottland und Wales förderlicher wäre als der schwerfällige Versuch, die devolution dadurch zu unterminieren, dass sich London zu einem Vorgehen versteigt, das der Politik Thatchers in den achtziger Jahren ähnelt. London wird sich mit dem Vorhandensein unterschiedlicher Quellen von Autorität abfinden müssen. Die Stellung dieser neuen Institutionen sollte jedoch nicht zu hoch eingeschätzt werden: Das House of Commons wird auch weiterhin mehr Macht haben als das walisische oder das schottische Parlament.

Vor 20 Jahren noch erschien jeder Fortschritt der devolution als Zukunftsmusik. Das Vereinigte Königreich ist ein vielfältiger Staat; Uniformität hat es niemals gegeben, und sie wird wohl auch nicht entstehen. Die devolution scheint dazu beigetragen zu haben, dass diese Vielfalt noch stärker verwurzelt ist als früher, und sie scheint institutionelle Triebkräfte für eine noch größere Vielfalt geschaffen zu haben. Weitere Veränderungen sind zu erwarten. Radikale Schritte hingegen sind weniger wahrscheinlich - solange nicht Spannungen entstehen, die durch eine unsensible Regierung in London heraufbeschworen werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. R. F. V. Heuston, Essays in Constitutional Law, London 1964(2), S. 1.

  2. Vgl. Albert Venn Dicey, England's Case Against Home Rule, Richmond 1973 (Original 1886).

  3. James Mitchell, Governing Scotland, Basingstoke 2003, S. 214.

  4. Margaret Thatcher, The Downing Street Years, London 1993, S. 627.

  5. Vgl. David Denver/James Mitchell/Charles Pattie/Hugh Bochel, Scotland Decides: The Devolution Issue and the 1997 Referendum, London 2000.

  6. John Clarke, The Local Government of the United Kingdom, London 1948(14), S. 54.

  7. Vgl. Brian Hogwood, Mapping the Regions: Boundaries, Co-ordination and Government, Bristol 1996.

  8. Vgl. Guy Lodge/James Mitchell, Whitehall and the government of England, in: Robert Hazell (Hrsg.), The English Question, Manchester (i.E. 2006), S. 96 - 118.

  9. Lord Irvine of Lairg, Government's Programme of Constitutional Reform, London 1998.

  10. Zur Diskussion der Konsoziation in Nordirland vgl. Brendan O'Leary, The Nature of the British-Irish-Agreement, in: New Left Review, 233 (1999), S. 66 - 96.

  11. Robin Wilson/Rick Wilford, Northern Ireland: Endgame, in: Alan Trench (Hrsg.), The State of the Nations 2001, London 2001, S. 84.

  12. Vgl. zur besten Einschätzung der devolution in Wales: Richard Rawlings, Delineating Wales, Cardiff 2003, sowie House of Lords Select Commitee on the constitution Report Session 2002 - 03.

  13. Commission on the Powers and Electoral Arrangements of the National Assembly for Wales, Report of the Richard Commission (National Assembly for Wales), Cardiff 2004.

  14. Wales Office, Better Governance for Wales CM.6582, London 2005; in: www.walesoffice.gov.uk/better_governance_for_wales_report.pdf.

M.A., D. Phil., geb. 1960; Professor of Government, University of Strathclyde, McCance Building, 16 Richmond Street, Glasgow G 1 1XG, Schottland/UK.
E-Mail: E-Mail Link: j.mitchell@strath.ac.uk