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"Bestseller sind wie Fieberthermometer" | Lesen | bpb.de

Lesen Editorial "Bestseller sind wie Fieberthermometer". Ein Gespräch über erfolgreiche Bücher als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen Facettenreich und unverzichtbar. Die multiplen Leistungen und Funktionen der Kulturtechnik Lesen Historische Ambivalenzen des Lesens Lesekompetenz und Lesebegriff Die Ökonomisierung des Ästhetischen. Konsum, Rendite und Wachstum in der Lesekultur Lesekultur im Wandel Der Kontakt zu unserer Kultur steht auf dem Spiel. Acht Leseforscher aus verschiedenen Disziplinen antworten auf Fragen zum Einfluss der Digitalisierung Lesen und gelesen werden. Wie Social Media die öffentliche Debatte steuert

"Bestseller sind wie Fieberthermometer" Ein Gespräch über erfolgreiche Bücher als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen

Jörg Magenau

/ 13 Minuten zu lesen

In Bestsellern spiegeln sich gesellschaftliche Entwicklungen wider, Bücher können diffuse Stimmungen auch erst explizit machen. Ein literarischer Streifzug durch die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Herr Magenau, Sie haben sich ausführlich mit Bestsellern und Bestseller-Listen beschäftigt. Wie kommt es, dass auf unterschiedlichen Listen unterschiedliche Bücher stehen?

Jörg Magenau: Eine Bestsellerliste folgt keinem anderen Kriterium außer dem, welche Bücher die bestverkauften sind. "Bestseller" sagt nichts über die Qualität der Bücher aus. Die maßgeblichen Listen sind vor allem die, die der "Buchreport" und der "Spiegel" gemeinsam produzieren und auf der anderen Seite die Liste vom "Focus". Dass die sich etwas unterscheiden, hat mit der Datenerhebung zu tun. Das ist wie bei politischen Umfragen: Wenn man die Prognosen zwischen ARD und ZDF vergleicht, gibt es auch leichte Abweichungen im Prozentbereich, und das ist bei den Bestsellerlisten auch so. Die Verkaufszahlen werden vor allem über Computerkassen erhoben. Das heißt, dass da in erster Linie die großen Buchhandelsketten wie Thalia und Hugendubel maßgeblich sind. Die kleinen mit vielleicht noch handbetriebenen Kassen kommen nur geschätzt oder gar nicht vor. Das führt dazu, dass gerade die Bücher, die nicht so sehr bestsellerverdächtig sind – etwa Lyrik oder Spezialsortimente oder kleine Verlage – und die in den Buchhandelsketten gar nicht zum Verkauf stehen, wenn sie nicht extra bestellt werden, unterrepräsentiert sind. Und bei den großen Verlagen und den bestsellerverdächtigen Titeln gibt es Abweichungen zwischen den einzelnen Listen, weil nicht unbedingt immer die identischen Buchhandlungen abgefragt werden. Bei der einen ist zum Beispiel Amazon drin, bei der anderen nicht.

Gibt es etwas, das alle Bestseller gemeinsam haben? Also gewisse Grundzutaten, die schon mal ein guter Ausgangspunkt für einen Bestseller sind?

Das würden natürlich alle Autoren und Verlage gerne wissen. Wenn Verlage die Bestseller-Formel hätten, dann würden sie wahrscheinlich nichts anderes mehr produzieren als Bestseller und wahnsinnig viel Geld einnehmen. Aber es kann schon deshalb keine klare Formel geben, weil das Geheimnis des Erfolgs eben nicht nur in den Büchern steckt, sondern vor allem auch immer in der Zeit, in der ein Buch erscheint. Ein Buch kann zu einer bestimmten Zeit vollkommen sang- und klanglos untergehen und fünfzig Jahre später plötzlich entdeckt werden. Deshalb besteht die Kunst eines Verlegers auch darin, eine Nase zu haben und vorauszuahnen, welche Diskussionen in einem oder zwei Jahren maßgeblich sein werden, wohin die Debatte läuft, wie ein Land sich entwickelt, und abschätzen zu können, auf welchen Boden ein Buch dann tatsächlich fällt und ob es erfolgreich sein kann.

Dieses Jahr erinnern wir 70 Jahre Grundgesetz und 70 Jahre Gründung der beiden deutschen Staaten. Gibt es Bücher, die die Entwicklung von Staat und Gesellschaft besonders gut einfangen?

Zumindest gibt es immer Bücher, die die Stimmung zu ihrer Zeit besonders gut wiedergeben, oder aus denen man ablesen kann, was im Lande los war in einer bestimmten Phase. Wenn man mal auf die Liste guckt, was vor 70 Jahren, noch vor Gründung der Bundesrepublik, ein Bestseller war – angefangen von Theodor Plieviers "Stalingrad" 1945, also tatsächlich ein Kriegsbuch, das sich mit dem Zusammenbruch an der Ostfront beschäftigte, über Eugen Kogons "Der SS-Staat" bis hin zu Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür" – dann waren das zunächst einmal Bücher, die sich tatsächlich unmittelbar mit dem Krieg und der Vergangenheit beschäftigt haben. Dann kam aber 1949 von C.W. Ceram "Götter, Gräber und Gelehrte"– jahrzehntelang der größte Sachbuch-Bestseller des Landes. Ein Buch über Archäologie, über Troja, über die ägyptischen Königsgräber, über Ausgrabungen in Pompeji. Das ist ein Beispiel dafür, wie Bestseller funktionieren können: Sie machen ein Angebot, in ferne, andere Welten zu entkommen – in diesem Fall Schliemanns Troja – und tragen gleichzeitig aber, hinterrücks sozusagen, das mit, vor dem man davonläuft. Das ist eine meiner Thesen: Es gibt keinen Eskapismus. Alles, wovor Leser davonlaufen – und man läuft ja immer davon, wenn man liest, man sucht eine andere Welt, eine Gegenwelt – transportiert zugleich das, was einem als Gegenwärtiges zu schmerzhaft ist. Bei Ceram waren das die Trümmer, die Nachkriegszeit, die Beschäftigung mit der Geschichte, die Hoffnung, man könnte in den Trümmern doch noch etwas Kostbares entdecken. Dass nicht alles kaputtgeht, dass etwas bleibt. Diese Bedürfnisse und Sehnsüchte von 1949 werden in diesem Buch bedient, und zwar genau deshalb, weil die unmittelbare Geschichte gar nicht darin vorkommt. Kein Wort über den Zweiten Weltkrieg, kein Wort über Deutschland. Dass der Autor selbst Kriegspropaganda-Schriftsteller im Zweiten Weltkrieg war – kein Wort davon. Aber das alles ist subkutan vorhanden und spielt eine Rolle.

Und das ist bei vielen Bestsellern so: Dass das Verdrängte in den Büchern und in der eigenen Fluchtbewegung doch vorhanden bleibt. Ein anderes Beispiel: In den 1980er Jahren – ein hochpolitisches Jahrzehnt mit der Friedensbewegung, der Anti-AKW-Bewegung, mit Angst vor einer Apokalypse, die dann mit Tschernobyl auch eintrat und überlebbar war –, in dieser politisierten Zeit gab es gleichzeitig in der Literatur eine große Fantasy-Welle. Das reichte von Michael Endes "Die unendliche Geschichte" über Umberto Ecos "Der Name der Rose" und Isabel Allendes "Das Geisterhaus" und zahlreiche andere lateinamerikanische Autoren des magischen Realismus bis hin zu Patrick Süßkinds "Das Parfum". Das sind die Romane, die die 1980er Jahre geprägt haben. Auch Michael Endes "Momo": Das ist eine Geschichte, die all das enthält, was politisch kritisiert wurde, aber als Märchen. Die grauen Männer mit den Zigarren, die den Menschen die Zeit wegrauchen, das ist natürlich ein Bild für den Kapitalismus und die entfremdete Zeit, in der man lebt, und das das als Märchen wiedergibt. Auch hier handelt es sich also um eine Fluchtbewegung, die erkennen lässt, was gesellschaftlich gerade los ist. Das ist eines von mehreren Mustern, die in Bestsellern zum Vorschein kommen. Man läuft weg, begibt sich in eine Gegenwelt, und kommt dann verwandelt als ein anderer zurück und schaut mit anderen Augen auf die eigene Welt.

Wie ging es dann in den 1990er und 2000er Jahren weiter? Was waren da vorherrschende Muster?

Das war die Wendezeit, die wurde begleitet von Franz Alts Buch "Jesus – der erste neue Mann", dann kam die Welle der skandinavischen Krimis, es kam mit Ute Erhardt und "Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin" eine Emanzipationszusammenfassung … Die 1990er Jahre sind eher disparat, während in den 2000er Jahren die Auseinandersetzung mit der DDR in den Vordergrund trat und es viele Bestseller gab, die die DDR behandelt haben. Angefangen mit Ingo Schulzes "Neue Leben" über die Buchpreisgewinner Uwe Tellkamp mit "Der Turm" bis hin zu Eugen Ruge mit "In Zeiten des abnehmenden Lichts". Es gibt immer auch eine zeitliche Verschiebung: Das, was gerade unmittelbar aktuell ist, braucht eine Weile, bis es in der Literatur verarbeitet wird. Schneller und direkter sind die Sachbücher. Das war in den 1990er Jahren auch ein neuer Trend: das Bedürfnis nach Bildung, nach Welterfassung, nach Überblick über das Unübersichtliche, das uns umgibt. Das hat damals zum Beispiel Jostein Gaarder mit "Sofies Welt" geleistet, ein erstes großes Buch über Philosophie. Mehr als zehn Jahre später kam dann Richard David Precht mit "Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?", der daran anknüpfte. Das Anknüpfen an einen früheren Erfolg ist ein weiteres Muster von Bestsellern: Dass man als Leser etwas wiedererkennt, was schon einmal sehr erfolgreich war, was dann aber in anderer Form erneuert wird. Leser sind konservativ: Sie wollen Bekanntes, aber es soll möglichst neu sein. Bei Richard David Precht geht das bis ins Buch-Cover, das mit dem blauen Globus spielt, der schon bei Jostein Gaarder zu sehen war. Es wird also auch farblich und grafisch ganz bewusst an frühere Erfolge angeknüpft. Das kommt immer wieder vor.

Gibt es denn Bestseller, bei denen Sie nicht damit gerechnet hätten, dass dieser Titel oder dieses Thema zu einer bestimmten Zeit auftaucht? Sie haben ja schon die frühe Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg genannt.

Es gibt überraschende Verschiebungen. Zum Beispiel war 1958 "Das Schloß" von Franz Kafka ein Bestseller. Also über 35 Jahre, nachdem das Buch zum ersten Mal erschienen ist. Kafka ist generell mit großer Verspätung in Deutschland angekommen, er wurde zunächst durch den Nationalsozialismus verhindert. Aber dass er 1958 zum Bestseller wurde, das fand ich schon sehr überraschend. Das hatte auch damit zu tun, dass man sich damals zunehmend mit dem Bürokratischen und dem Überleben in der Bürokratie auseinandergesetzt hat. C. Northcote Parkinsons "Parkinsons Gesetz", wo es um Absurditäten der Arbeitswelt ging, war zeitgleich mit Kafka ein Bestseller. Die Wirtschaftswunderwirklichkeit, die Verbürokratisierung, das Arbeitnehmerdasein haben dazu geführt, dass man sich mit derlei Büchern beschäftigt, weil man sich tatsächlich darin wiederfinden konnte. Eine andere, sehr interessante Geschichte ist Dale Carnegies "Sorge dich nicht – lebe!", in der deutschen Ausgabe 1948 erschienen, die amerikanische erschien schon vor dem Zweiten Weltkrieg. Carnegie war ein amerikanischer Sachbuchautor, der eigentlich so einen Fernsehprediger-Tonfall anschlug, und der die Mutter aller Ratgeber geschrieben hat. "Sorge dich nicht – lebe!" ist ein Titel, der sprichwörtlich wurde, und zusammenfasst, worum es in all diesen Ratgebern und denen, die ihm folgten, geht: Nämlich um die Sorge um sich selbst. Aber zum Nummer-Eins-Bestseller der Sachbücher wurde er dann erstaunlicherweise erst in den 1990er Jahren. Davor war er schon zehn, zwanzig Jahre lang immer in den Bestseller-Listen vertreten, kam dann immer weiter nach vorne und war 1998 plötzlich auf Platz 1. Da habe ich mich gefragt: Wie kommt das, dass ein Buch 50 Jahre nach Erscheinen plötzlich im Jahresverlauf Nummer eins der Sachbuch-Bestseller-Liste ist? Ich denke, dass das auch wieder etwas mit den aktuellen Bedürfnissen zu tun hatte: Dass der neue Markt, der damals boomte, der Kapitalismus, der in Ostdeutschland eingeübt wurde, das harte Kapitalistische, das nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes stärker wurde, genau passte zu einem Buch, das in den 1930er Jahren in Amerika geschrieben wurde. Auch in den USA der 1930er herrschte noch ein roherer Kapitalismus; und die Maxime "ich muss mich gegen die Konkurrenz durchsetzen" und stark sein und an mich glauben und so weiter, also die wirklichen amerikanischen Tugenden, wie man vom Tellerwäscher zum Millionär wird, fand offenbar in der Zeit in Deutschland nach der Wiedervereinigung plötzlich einen Boden, auf dem man genau das brauchen konnte. Und zwar in Ost und West gleichermaßen.

Wir haben bisher über die Bundesrepublik gesprochen und die Wende- und Nachwendezeit. Wie sah die Lage in der DDR aus?

Bestseller-Listen konnte es dort nicht geben, weil es auch keine Bestseller gab, weil es keinen freien Markt gab. Bücher konnten lediglich anhand der verordneten Auflage sortiert werden. Letztlich war es die SED – das Kulturministerium und die Zensurbehörde –, die über die Auflagenhöhe der einzelnen Bücher entschied, darüber, ob es überhaupt gedruckt wurde, und ob es massentauglich sein sollte. Das war eine politische Entscheidung. Das ist etwas anderes als ein Markt, wo Leute in die Buchhandlung gehen und qua ihrer eigenen Kaufentscheidung darüber bestimmen, ob ein Buch zum Bestseller wird oder nicht. In der DDR gab es natürlich auch viele Bestseller, und oft war da der Geschmack der Partei vielleicht gar nicht so anders als der der lesenden Menschen: Bücher von Dieter Noll, Erwin Strittmatter, Eva Strittmatter, Hermann Kant, von Christa Wolf vielleicht auch, aber die war in der DDR schon nicht mehr richtig mit einer höheren Auflage vertreten, weil sie politisch zu unklar war. "Nachdenken über Christa T." war in Westdeutschland ein Bestseller, erschien in der DDR aber um Jahre verzögert und nur mit einer kleinen Auflage von ein paar Tausend Exemplaren. Daran sieht man schon, dass es kein freies Spiel war. Dass ein Bestseller sich nicht herausbilden konnte, aber verhindert oder festgelegt werden konnte. Deshalb müsste man eine Geschichte der Bücher in der DDR unter ganz anderen Kriterien betrachten. Die DDR spielt eigentlich erst in der Nachwendezeit eine Rolle als Phänomen, als Thema der Bücher.

Wie kann man denn ganz generell die Wechselwirkungen zwischen Zeitgeist und öffentlichem Diskurs einerseits und Bestseller andererseits beschreiben?

Das ist ein Kreislauf. Nehmen wir zum Beispiel "Deutschland schafft sich ab" von Thilo Sarrazin 2010: Das war ein Buch, das eine bestimmte Stimmung, eine anwachsende Fremdenfeindlichkeit mit rassistischen Grundtönen breit publik machte und zu einem Millionenseller wurde. Das Buch und sein Erfolg haben deutlich gemacht, dass es diese Stimmung gab. Dass viele Leute sich davon angesprochen fühlten, auch von dem Tonfall, den Sarrazin anschlug. Also dieses "Tabubrecherische", das er hatte, und was man ja heute auch bei vielen Pegida-Demos hört. Das basiert einerseits auf einer breiten Stimmung, die darin zum Ausdruck kommt, und gleichzeitig schafft und erzeugt so ein Buch und so ein Titel auch eine bestimmte Stimmung. Das ist immer ein Hin und Her, so wie es eben das Buch und den Leser gibt. Das Buch wäre ohne Leserschaft nichts. Und umgekehrt. Beides hängt zusammen. Bestseller haben da auch eine Fieberthermometer-Funktion: Dass man tatsächlich sieht, woran es gerade in einer Gesellschaft krankt. Wo sind die Leitgefühle, wo sind die Ängste? Und der Bestseller-Markt hat sehr viel mit Ängsten zu tun. Die ganze Ratgeberliteratur – Sorge dich nicht, lebe; Vereinfache dein Leben; Mach es so und so; Räum deinen Schreibtisch auf; und mach das Fenster zu und dann mach noch die Grenzen dicht, damit wir nicht bedroht werden, und so weiter – das geht ja nahtlos ineinander über: die Sorgen, die man hat um das eigene Leben, die Sorgen, die man hat um das große Ganze. Die Angst, man könnte irgendetwas verlieren, all das spielt eine Rolle und aus all diesen diffusen Gefühlen heraus entstehen Stimmungen, die sich dann wiederum Nahrung suchen in intellektuellen und weniger intellektuellen Beiträgen.

Können Bücher die Gesellschaft verändern?

So optimistisch möchte ich schon sein, dass Bücher die Gesellschaft verändern können. Vielleicht im ganz Kleinen. Vielleicht auch nur bei einzelnen Menschen. Aber auch eine Veränderung in einem einzigen Menschen ist eine Veränderung der Gesellschaft. Und jeder Mensch, der ein Buch liest, verändert sich. Wie er sich verändert, das wissen wir nicht. Das kann auch zum Schlechten sein. Sarrazin hat sicher auch die Gesellschaft verändert. Es gilt also nicht: Alles wird besser, wenn man liest – so meine ich das nicht. Aber jedes Buch, das wir lesen, jeder von uns – und alle lesen wir – verändert uns. Sonst würden wir nicht lesen. Lesend begeben wir uns in eine andere Welt. Lesend erkunden wir die Welt mit anderen Augen. Lesend nehmen wir eine andere Perspektive ein. Und weil wir dazu in der Lage sind, verändern wir uns auch, weil wir dann mit anderen Augen aufs eigene Leben schauen können. Lesen ist deshalb eine grunddemokratische Tugend, weil es Zweifel und Perspektivwechsel lehrt. Womöglich sogar Widerspruch provoziert. Und das ist dann schon ein hoffnungsvoller Aspekt des Lesens. Deshalb sind Diktatoren auch meistens literatur- und bücherfeindlich: Weil sie Angst haben vor anderen Ansichten und vor der Fähigkeit der Menschen, andere Ansichten als die eigenen annehmen zu können. All das schafft das Lesen. Und deshalb verändert das Lesen die Welt. Und es verändert sie nicht nur, es ist eigentlich viel mehr: Es ist eine Grundlage des Menschseins. Wenn wir aufhören würden, zu lesen in dem Sinne, dass wir aufhören würden, uns mit anderen Gedanken, mit anderen Empfindungen, mit anderen Weltsichten zu beschäftigen, dann wären wir ziemlich stumpfe Geschöpfe, dann wären wir keine Menschen. Und deshalb muss der Mensch – auf welche Weise auch immer – lesend die Welt mit den Augen anderer zur Kenntnis nehmen.

In welcher Verantwortung sehen Sie in diesem Zusammenhang Verleger und Buchhändler?

Dass sie nicht nur auf ökonomische Zwänge reagieren, sondern weiterhin für ein breites, vielfältiges Sortiment sorgen. Ich weiß: Als Kritiker, der von außen spricht und fordert, hat man leicht reden, wo es für die Verlage ums Überleben geht und um die zunehmend verzweifelte Hoffnung auf den nächsten Bestseller. Der Erhalt der Buchpreisbindung ist deshalb enorm wichtig, weil nur so Querfinanzierung und Mischkalkulation möglich sind. Nur dann können die Bestseller eines Verlages die spezielleren Angebote oder den dann gerne als Beispiel genommenen Lyrikband mittragen, der seinerseits vielleicht das Renommee des Verlages erhält und stärkt. So gesehen sind nicht nur Bestseller, sondern auch und vor allem die Bücher, für die Verlage sich wirklich und mit Liebe einsetzen, gut angelegtes Kapital.

Sie sagen, wir lesen alle, und wir lesen oft – gleichzeitig beklagt der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, dass immer weniger Menschen Bücher kaufen. Wie spiegelt sich verändertes Leseverhalten in Bestseller-Listen wider? Kann man darüber überhaupt eine Aussage treffen?

Ich glaube, es gab keine Zeit der Menschheitsgeschichte, in der so viel gelesen wird wie heute – weil wir von morgens bis abends an Bildschirmen sitzen. Text ist präsenter denn je. Es werden aber gleichzeitig viel weniger Bücher verkauft eben deshalb, weil die Aufmerksamkeit durch andere Medien absorbiert wird. Aber wie wir lesen und was wir lesen, ist nicht so wichtig, als dass wir es tun. Für den Buchmarkt bedeutet das, dass er kleiner wird. In den letzten sechs Jahren sind etwa sechs Millionen Leser verlorengegangen. Das Geschäft wird weniger und härter, die Verlage konkurrieren stärker, kleine Verlage drohen einzugehen. Gerade die kleinen, die nicht an Konzerne gebunden sind, haben große Schwierigkeiten, sich zu behaupten. Und auch für die großen wird das Geschäft härter; das heißt, auch das Bestseller-Geschäft wird härter. Der Buchmarkt wird sich wahrscheinlich stärker auf die marktgängigen Waren konzentrieren, als wir das eh schon erleben. Das ist ein Marktphänomen. Und auf der anderen Seite muss man fragen: Was passiert mit dem Lesen? Was passiert, wenn wir mehr elektronisch lesen, und keine Bücher? Die Hoffnung auf E-Books hat sich ja eigentlich gar nicht erfüllt. Das finde ich ein erstaunliches Phänomen, dass dieser Markt total stagniert und bei wenigen Prozent des gesamten Buchmarkts einfach hängen bleibt. Also Leute lesen offenbar, wenn sie lesen, immer noch lieber Bücher als E-Books. Das ist ein Phänomen, das man ernstnehmen muss. Und das darauf hinweist, dass eine bestimmte Form des Lesens durch das Buch immer noch am besten befriedigt wird. Eine bestimmte Form, die auch mit einer gewissen Langsamkeit, mit Reflexion, mit Sich-Zurücklehnen, mit einer Atmosphäre des Lesens zu tun hat – wie man sitzt, wo man sitzt, wie man den Text zur Kenntnis nimmt –, und dass es nicht egal ist, ob es auf dem Bildschirm passiert oder auf Papier. Die meisten Leute bevorzugen also in der Tat offenbar immer noch das Papier, weil es angenehmer für die Augen ist und man einen besseren Überblick haben kann. Deshalb werden die Bücher nicht aussterben, sondern in einer bestimmten Form und auch mit dem Bedürfnis nach etwas Schönem immer weiter existieren. Da mache ich mir relativ wenig Sorgen.

Das Interview führte Christina Lotter am 22. Oktober 2018.

ist Journalist und Literaturkritiker, unter anderem für die "Tageszeitung" und die Wochenzeitung "Der Freitag", und Autor des Buches "Bestseller. Bücher, die wir liebten – und was sie über uns verraten." E-Mail Link: magenau@t-online.de