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Marktwirtschaft und Sozialstaat: Zukunftsmodell für Deutschland | Wirtschaftspolitik | bpb.de

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Marktwirtschaft und Sozialstaat: Zukunftsmodell für Deutschland

Gerhard D. Kleinhenz

/ 16 Minuten zu lesen

Die Konzeption des modernen deutschen Sozialstaats ist integraler Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft. Sinkendes Wirtschaftswachstum, steigende Arbeitslosigkeit und die Belastungen aus der Wiedervereinigung zeigen die Grenzen der Belastbarkeit der Wirtschaft auf.

Einleitung

Es bedarf gegenwärtig schon einer ganz persönlichen Herausforderung als Motivation für einen wissenschaftlichen Beitrag über die Zukunft von Sozialpolitik und Sozialstaat im Rahmen einer gesellschaftlichen Politikkonzeption für die Bundesrepublik Deutschland. In den Wirtschaftswissenschaften wird seit Mitte der siebziger Jahre eine Krise des Sozialstaats thematisiert. Im vergangenen Jahrzehnt finden sich in der öffentlichen Debatte im Zusammenhang mit der Analyse der Globalisierung zunehmend Beiträge, für die das Ende des traditionellen deutschen Sozialstaatsmodells schon feststeht. Gleichwohl war bei der vorgezogenen Neuwahl zum Deutschen Bundestag im September 2005 in der Argumentation aller Parteien im Konkurrenzkampf um die Wählerstimmen ihr Verhältnis zu diesem Sozialstaat ein Schlüsselkriterium der vom Wähler erwarteten Richtungsentscheidung.

Die im Bundestag schon vertretenen Parteien versuchten jeweils einen schwierigen Spagat: Einerseits mussten sie Zustimmung für den jeweils von ihnen anvisierten Weg zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit und für die Fortsetzung oder Inangriffnahme weiterer Reformen erlangen. Andererseits bedurfte es eines Bekenntnisses zu den Grundsätzen des alten Sozialstaats bzw. wenigstens der Zerstreuung jeden Verdachts, man wolle eine andere Republik, oder eine Gesellschaft der "sozialen Kälte". Der Ausgang dieser Wahl spricht wiederum dafür, dass für die Wähler (den Souverän) in der Bundesrepublik bei grundsätzlich vorhandener Reformbereitschaft das Sozialstaatsmodell noch lange nicht überholt ist. Die politischen Parteien müssen auf diese Problematik erst noch Antworten finden, die auch für eine klare Mehrheit überzeugend sind. In der Wissenschaft, bei Medien oder von Verbänden mögen Forderungen nach Reformen auch einseitig begründet werden, zum Beispiel mit dem verfehlten Ansatz einer sozialen Ausrichtung der Marktwirtschaft, der Fehlkonstruktion oder den Fehlentwicklungen des Sozialstaats. Politische Programme für Wahlen müssen offenbar doch diesem Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit von Reformen und der Anpassung an die veränderten weltwirtschaftlichen Herausforderungen sowie der Wahrung eines verlässlichen Grundgehaltes an Werten (Versprechungen) des Sozialstaates in Form der Chancen-, Mindestbedarfs- und Teilhabegerechtigkeit sowie sozialer Sicherheit und solidarischen Zusammenhaltes in der Gesellschaft Rechnung tragen.

Die Suche nach einer überzeugenden Balance von Sozialstaatsreformen sowie Stabilisierung und Vertrauensbildung für die nachhaltige Leistungsfähigkeit des Sozialstaates bleibt also nicht nur eine intellektuell reizvolle Aufgabe. Sie bleibt bei den zu vermutenden politischen Einstellungen der Wähler in der Bundesrepublik Deutschland auch ein eminent wichtiges Anliegen für alle Akteure im Konkurrenzkampf um politischen Einfluss und um den Zugang zur politischen Macht.

Ist der deutsche Sozialstaat passé?

Der Erfolg bei der Suche nach einer ausgewogenen Lösung von Reform und Bewahrung des Sozialstaats, die Entdeckung eines zeitgemäßen Pfades der Sozialen Marktwirtschaft, könnte angesichts der ordnungspolitischen Denktraditionen in der deutschen Nationalökonomie wohl auch am ehesten in Deutschland gelingen. Nur wenn wir diesen (möglicherweise nur schmalen und offenbar nicht mehr klar beschilderten) Pfad einer Gratwanderung Hand in Hand von Marktwirtschaft und Sozialstaat finden und wenn wir diesen Pfad mit langem Atem sensibel begehen, werden wir unsere Beschäftigungs- und Wachstumsprobleme lösen und angesichts unserer heutigen Herausforderungen (Folgen der Wiedervereinigung, Bevölkerungsentwicklung und Globalisierung) den Weg der Weltwohlstandsnationen mit sozialer und politischer Stabilität weitergehen können.

Das Gelingen einer solchen Sozialstaatsreform, die das Leistungs- und Synergiepotenzial von Marktwirtschaft und Sozialstaat voll ausschöpft, könnte ein Zukunftsmodell für Deutschland sein. Entsprechende Reformprogramme könnten politische Mehrheiten finden, Systemakzeptanz vermitteln und Leistungsbereitschaft mobilisieren. Die Neue Soziale Marktwirtschaft würde - wie die Soziale Marktwirtschaft durch das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg - auch als Vorbild für die Ausgestaltung der Gesellschaftssysteme in vielen Ländern der Welt wirken können.

Der vorliegende Beitrag folgt der Vorstellung, dass für die zukünftigen Herausforderungen an die Bundesrepublik Deutschland ein der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft gemäßer Weg der Reform von Sozialpolitik und Sozialstaat gefunden und auch politisch realisiert werden kann. Vor dem Hintergrund einer Konkretisierung dieser Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft, die allerdings von ganz unterschiedlichen Positionen für sich in Anspruch genommen wird, soll eine konzeptionelle Beurteilung der Entwicklung des Sozialstaats und der Ausgestaltung der sozialen Sicherung erfolgen. Auf Grund der inzwischen realisierten Herausforderungen für den Sozialstaat und der Restriktionen seines Handlungsspielraums lassen sich einige Perspektiven für die zukünftige Entwicklung der Sicherungseinrichtungen und -leistungen unabhängig von jeweiligen Regierungskoalitionen aufzeigen. Schließlich soll der Frage nachgegangen werden, ob die Krise nicht auch die Chance enthält, mit einem stärker freiheitlichen Sozialstaatsmodell eine Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft zu erreichen.

Sozialstaatskonzeption und tatsächliche Entwicklung der Sozialpolitik

Der heute in Deutschland bestehende Sozialstaat mit der Institutionalisierung und Regulierung des Arbeitsmarktes, der sozialen Sicherung gegen die Standardlebensrisiken und anderen Bereichen einer Politik des sozialen Ausgleichs ist das Ergebnis eines langen historischen Prozesses. Er ist eine Ausprägung von vielen denkbaren Umsetzungen einer Sozialstaatskonzeption unter unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen und historischen Entwicklungsbedingungen. Reformen an einem solchen historischen Sozialstaat sollten, wie das notwendige jährliche Schneiden eines Weinstocks, nicht von vornherein als Abbau des Sozialstaats diskreditiert werden.

Für die Bundesrepublik lag nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst der historische Anschluss an die Gesetzgebung und die Sicherungseinrichtungen der Bismarck'schen Sozialgesetzgebung und der Weimarer Zeit nahe. Im bundesdeutschen Sozialstaat war Sozialpolitik in erster Linie eine integrale Wirtschaftsordnungsaufgabe, der Staat nicht "Nachtwächter", sondern Ordnungsmacht. Marktwirtschaft brachte auch den Arbeitnehmern mehr materielle Freiheit und ermöglichte auf der Grundlage ihrer Leistungsfähigkeit ein hohes Maß an sozialem Ausgleich. Diese Kombination von Marktwirtschaft und Sozialstaat war in sich konsistent, weil die Sozialversicherung in Beitrags- und Leistungsgestaltung im Wesentlichen eine intertemporale Umverteilung von Lebens-Leistungseinkommen für die Versicherten organisierte. Dies galt (im Umlagesystem) auch mit der 1957 eingeführten Lebensstandardsicherung für die Renten und mit der Begründung eines Rechtsanspruchs auf die Sicherung eines Mindesteinkommens für ein menschenwürdiges Leben in der Sozialhilfe durch das Bundesverfassungsgericht.

Der konzeptionelle Einklang von marktwirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und Sozialstaatlichkeit wurde in der praktischen Umsetzung nach der Überwindung der Nachkriegsnot und -arbeitslosigkeit zunächst durch ein weitgehend stetiges und dynamisches Wirtschaftswachstum getragen und bestätigte die Grundauffassung der Regierung Adenauer, dass eine gute Wirtschaftspolitik (zwar noch nicht selbst die beste Sozialpolitik aber) die wichtigste Voraussetzung für eine gute Sozialpolitik sei. Dieser Wachstumsprozess ermöglichte in Westdeutschland bei wachsender Arbeitskräfteknappheit und gut organisierten Gewerkschaften einen kräftigen Anstieg der Realeinkommen der Arbeitnehmer und eine unvergleichliche Expansion des sozialpolitischen Handlungsspielraums. Dieser Spielraum wurde in der Konkurrenz der Parteien um die Wählerstimmen (meist im Konsens) auch genutzt für eine Ausweitung der in die soziale Sicherung einbezogenen Personengruppen (bis auf ca. 90 Prozent der Bevölkerung), eine Berücksichtigung neuer Risiken (z.B. Vorbeugung gegenüber Arbeitslosigkeit durch Aktive Arbeitsmarktpolitik) und eine Anhebung der Sicherungsstandards.

Der tragende Wachstumsprozess war vom Aufbau der öffentlichen Infrastruktur abgesehen nicht ein Ergebnis gezielter Wachstumspolitik, sondern Resultat einer breiten und starken Leistungsmotivation und des Strebens der Bevölkerung nach Verbesserung des Lebensstandards sowie nach sozialem Aufstieg und einer auch durch (bescheidene) Vermögensbildung, insbesondere durch Wohneigentum, abgesicherten "mittelständischen" Existenz der Arbeitnehmer.

Im Zuge dieser Expansion der Sozialpolitik war die Sozialleistungsquote auf fast ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes gestiegen, die Einkommensentwicklung und die Lebensstandardsicherung hatten eine Gewöhnung ("Anspruch") an Einkommenssteigerung und soziale Besitzstände bei der Bevölkerung begründet, und die Sozialpolitik hatte sich auf der Basis wissenschaftlicher Projektionen (die offenbar nicht immer mit allen nötigen Warnungen versehen worden waren) auf die Verfügung zukünftiger Handlungsspielräume und die Verausgabung von erwarteten Finanzierungsüberschüssen eingestellt. Die rasche Überwindung der ersten Nachkriegsrezession 1967 mithilfe der Globalsteuerung stärkte offenbar auch das Vertrauen in die politische Beherrschbarkeit des Zusammenhangs von Wirtschaftswachstum und "sozialem Fortschritt". Warnungen von Wissenschaftlern in Bezug auf eine Nutzung steigenden Wohlstands zu vermehrter Eigenverantwortung waren in dieser Wachstumsperiode eher selten.

Sozialpolitik als Belastung für die Soziale Marktwirtschaft

Die wesentlichen Entwicklungen, an denen die Wende für die Rolle der Sozialpolitik innerhalb des Gesamtsystems der Sozialen Marktwirtschaft markiert werden kann, lassen sich ebenfalls nur holzschnittartig skizzieren. In dieser Wende wurde deutlich, dass Konzeption und Realität eines mit der Marktwirtschaft verträglichen Sozialstaats auseinanderdrifteten und dass Sozialpolitik jenseits ihrer produktiven Rolle auch negative Nebenwirkungen als Belastung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Gesellschaft entfalten kann. Diese Skizze kann auch verdeutlichen, dass die heute (oft mit heimlicher Genugtuung) diskutierte Krisensituation der sozialen Sicherungseinrichtungen schon sehr früh und meist in überparteilichem Konsens begründet wurde. Die Krise ist auch nicht allein Folge von Konstruktionsfehlern des Sozialstaats, sondern resultiert eher aus einem Politikversagen bei der Sicherung der Leistungs- und Zukunftsfähigkeit dieses Sozialstaats unter veränderten historischen Bedingungen.

Erstens: Wie die Expansion der Sozialpolitik vor allem dem Wirtschaftswachstum folgte, so lässt sich mit den ersten beiden Ölpreisschocks zu Anfang und Ende der siebziger Jahre und ihrer nachhaltigen Dämpfung des Trendwachstums in der Bundesrepublik die eigentliche Wende in der systemischen Bedeutung des Sozialstaats markieren. Verstärkt wurde diese Wende durch Tariflohnabschlüsse, die noch im Vertrauen auf eine ungebrochene Wachstumsdynamik oder auf staatliche Wachstums- und Beschäftigungspolitik mehr an Kaufkraftsicherung und Erhöhung der Lohnquote als an Beschäftigungsausweitung ausgerichtet waren. Ebenso bedeutsam als Fehlentwicklung im engeren Bereich der sozialen Sicherung sind die im Konsens von Politik und Sozialpartnern verfolgten Strategien zur Frühverrentung älterer Arbeitnehmer, von denen gegenwärtig in einem langwierigen Prozess des Umdenkens und Umsteuerns Abschied genommen werden muss. Trotz der raschen Ernüchterung in Bezug auf die staatlichen Möglichkeiten der Globalsteuerung von Wachstum und Beschäftigung sowie der "Aktiven Arbeitsmarktpolitik" wurde die mit der Strategie der Angebotsverknappung verbundene Gefahr der Erosion der Beitragsbasis der sozialen Sicherungssysteme politisch nicht wahrgenommen.

Zweitens: Ölpreisschocks und die Diskussion über die Grenzen des Wachstums gaben in der Bundesrepublik einer ökologischen gesellschaftlichen Bewegung einen solchen Auftrieb, dass diese sich als politische Partei etablieren konnte und ökologische Probleme für die Programmatik der bestehenden Parteien unverzichtbar wurden. Die entstehende ökologische Regulierung und die Einführung oder Erhöhung politischer Preise für die Nutzung von Umweltgütern wurden jedoch praktisch nicht gegenüber sozialstaatlichen Regulierungen und Belastungen der Wirtschaft abgewogen, sondern zusätzlich vorgenommen. Das "Gesellschaftsmodell Deutschland" sollte sozialpolitisch und umweltpolitisch eine Vorbildfunktion in der Welt wahrnehmen.

Drittens: Der nationale Glücksfall der Wiedervereinigung hat dann mit der Übertragung des Arbeits- und Sozialrechts im "Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion" die enorme Tragfähigkeit und Belastbarkeit des Systems "Soziale Marktwirtschaft" unter Beweis gestellt. Nachdem sich die Hoffnung auf ein schnelles "Wirtschaftswunder" im Osten nicht erfüllte und der wirtschaftliche Aufholprozess in den neuen Bundesländern erlahmte, wurden die Grenzen der Belastbarkeit der deutschen Wirtschaft unübersehbar deutlich, und zwar in einer (gegenüber vielen vergleichbaren Ländern) zunehmend unbefriedigenden Beschäftigungs- und Wachstumsentwicklung.

Viertens: Bei allem Ernst der Lage und angesichts des schon bekannten Reformbedarfs gelang es im letzten Jahrzehnt der Politik und in öffentlichen Debatten, die Wähler nachdrücklich auf den seit langem erkennbaren Prozess der Alterung und Schrumpfung unserer Bevölkerung aufmerksam zu machen. Unter Verweis auf die Auswirkungen dieser Bevölkerungsentwicklung auf die sozialen Sicherungssysteme konnte der Reformbedarf nun öffentlichkeitswirksam begründet werden, auch wenn bislang in Form der mit steigender Lebenserwartung verlängerten Rentenbezugsdauer erst einige Wolken eines Tiefs wahrnehmbar sind, das in den Jahren nach 2020 und 2030 im übertragenen Sinne zu einem regelrechten "Hurrikan" anwachsen könnte.

Fünftens: Schließlich wird eine zunehmende Abweichung der tatsächlichen Sozialpolitik von der Konzeption im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft an einem in der Sozialwissenschaft vielfach behandelten Viereck von Problemen deutlich:

  • Die zunehmende Gewichtung von Gleichstellungszielen, von Bedarfs- und Ergebnisorientierung der Leistungen in der Sozialpolitik anstelle einer Chancen- und Leistungsorientierung führt zu einem erhöhten Anteil interpersoneller Umverteilung und vermindert den Charakter von solidarischer Selbsthilfe und Äquivalenz von Beitrag und Leistung.

  • Die Verrechtlichung der Sozialpolitik und die strikte Bindung an rechtsstaatliche Verwaltungs- und Verfahrensgrundsätze erschwert die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und des Grundsatzes von "Fördern und Fordern".

  • "Anspruchshaltungen" in Bezug auf beitragsäquivalente Ausschüttungen und die Existenz vielfältiger Informationen zur Inanspruchnahme größtmöglicher Leistungen verdrängen "verschämte Armut" und die Präferenz für Selbsthilfe.

  • Eine vielfach auch nicht mehr durch christliche oder solidarische Werthaltungen gefilterte Einstellung zur gesetzwidrigen Inanspruchnahme von solidarisch finanzierten Leistungen "bestraft" Eigenverantwortlichkeit und Gesetzestreue als Dummheit im Umgang mit dem System.

    Der Fall eines "Florida-Rolf" kann zwar kein wissenschaftliches Urteil über die mangelnde Funktionsfähigkeit der Sozialsysteme begründen. Solche Fälle können aber verdeutlichen, dass der dem Subsidiaritätsprinzip (des Vorrangs von personaler Eigenverantwortung sowie von Hilfe zur Entfaltung und Hilfe zur Selbsthilfe) entlehnte moderne Grundsatz von "Fördern und Fordern" letztlich nicht mehr durch eine noch so gute Sozialverwaltung gesichert werden kann.

    Schleichender Übergang vom Sozialstaat zur Grundsicherung



    Die gegenwärtige Situation des deutschen Sozialstaats muss wohl tatsächlich in vielerlei Hinsicht als krisenhaft bezeichnet werden. Das gesamte Ausmaß des Mangels an sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen und der niedrige Anteil von Erwerbstätigen in der Bevölkerung bedeuten für die Arbeitslosen einen oft nachhaltigen Verlust an Entfaltungs- und Lebenschancen. Für den Sozialstaat bedeuten sie den Ausfall sonst möglicher Beiträge. Die auch in der Vergangenheit nur noch spärlich verfügbaren Reserven der Rentenversicherung sind aufgebraucht. Eine Verbesserung der Finanzsituation durch Beitragssteigerungen (gleichbedeutend mit einer Erhöhung der Lohnnebenkosten) verbietet sich wegen negativer Beschäftigungseffekte noch mehr als der Ausweg von Steuererhöhungen. Angesichts der allgemeinen Haushaltssituation sind auch Lastenverschiebungen kaum zu realisieren und insgesamt eher der Abbau der Staatsverschuldung und der Abgabenquote zu betreiben. Diese krisenhafte Situation des Sozialstaats heute ist jedoch nicht einem Konstruktionsfehler der Umlagefinanzierung in den Sozialversicherungssystemen, sondern früher unterlassenen Anpassungen zuzuschreiben, insbesondere bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, bei der Strategie der Frühverrentung und bei der Belastung mit versicherungsfremden Aufgaben.

    Für die Stabilisierung der Finanzsituation der Sozialversicherungseinrichtungen wurde - von den Ansätzen zur Verstärkung betrieblicher und privater Altersvorsorge abgesehen - aus der Not der Finanzklemme und der demographisch absehbaren Zukunftsbelastung die "Tugend" der einnahmeorientierten Begrenzung der Ausgaben entwickelt. Die dabei eingeführten oder für die Zukunft geplanten Reduzierungen des Rentenniveaus stellen den Verzicht auf die Lebensstandardsicherung durch die gesetzliche Altersrente dar. Für die Geburtskohorten ab den fünfziger und sechziger Jahren gibt es zwar inzwischen Klarheit über die Notwendigkeit einer ergänzenden kapitalfundierten Altersvorsorge. Zugleich muss diese Generation für die gesetzliche Grundsicherung im Alter mit einer Erhöhung der gesetzlichen Altersgrenze rechnen und von einer abnehmenden "Rendite" für ihre Einzahlungen ausgehen. Im Vergleich von Lebenschancen und Lebenseinkommen wird sich vor allem für Arbeitnehmer mit Standardqualifikationen der durch Lebensleistung erzielbare Abstand zu dem durch die Sozialhilfe gewährleisteten sozialkulturellen Existenzminimum im schlimmsten Fall noch weiter verringern.

    Ein entscheidender Schritt der Abkehr von der Lebensstandardsicherung wurde durch die Aufhebung der Arbeitslosenhilfe im Anschluss an den versicherungsmäßigen Einkommensersatz mit "Hartz IV" vollzogen. Inder Gesetzlichen Krankenversicherung scheint über die Pläne der Parteien hinaus auf mittlere Sicht die Festlegung eines Grundleistungskatalogs für die solidarische Krankenversicherung unvermeidlich. Im Pflegefall erweisen sich die Ansprüche aus Renten- und Pflegeversicherung schon heute als unzureichend für die Vorstellung von einem sozialkulturellen Mindestbedarf. Die Konsequenzen der zunehmenden Ausrichtung auf eine generelle Grundsicherung wäre dann allerdings auch der Übergang von der Beitrags- zur Steuerfinanzierung.

    Wie sich diese Abkehr von der beitragsorientierten Lebensstandardsicherung und die Annäherung an ein angelsächsisches Grundsicherungsmodell auf den produktiven Beitrag des Sozialstaats zur Gesamtleistungsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft auswirken werden, bleibt ungewiss. Vermutlich werden die (bisher noch als unterschiedlich vermuteten) Einstellungen der Bürger zu den Sozialabgaben (als Leistung an eine selbständige und selbst verwaltete Einrichtung und für eine spezielle Gegenleistung) im Vergleich zu den allgemeinen Steuern voll angeglichen. Wahrscheinlich hat diese Entwicklung (abgesehen von der nicht endenden Debatte über die Krise des Sozialstaats) auch schon zur Abnahme des Vertrauens der Deutschen in ihre sozialen Sicherungssysteme beigetragen.

    Dass sich dieser schleichende System- oder Konzeptionswechsel so weitgehend ohne intensive wissenschaftliche Debatten und politische Auseinandersetzungen vollzog, kann wohl zum Teil der Dringlichkeit des Sanierungsbedarfs bei der Finanzsituation der Sozialversicherung, zum Teil der angelsächsischen Orientierung des Zeitgeistes zugeschrieben werden. Angesichts der kritischen Einstellung marktwirtschaftlicher Ordnungsvorstellungen zum Wohlfahrtsstaat, zu staatlicher Zwangsvorsorge und zur Abkehr von einer Äquivalenzorientierung hätte man mehr Einspruch erwarten können.

    Perspektiven der Sozialpolitik in Deutschland



    Die Weiterentwicklung der Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland wird unabhängig von der zustande kommenden Regierungskoalition vor allem vom begrenzten Handlungsspielraum und dem Ziel einer Vertrauensgewinnung für Verlässlichkeit und Zukunftsfähigkeit unseres Wirtschafts- und Sozialsystems bestimmt sein. Da ein einzelner großer Befreiungsschlag nicht erkennbar ist, wird es darum gehen, einen exogenen Schub oder die durch eine Regierungsbildung verstärkte Aufschwungstimmung zu nutzen und durch eine zweite Reformstufe wieder einen höheren Wachstumspfad zu erreichen.

    Keine Regierung wird wohl noch einmal den Fehler begehen, einen der schon einmal eingeleiteten (und grundsätzlich in die richtige Richtung gehenden) Reformschritte zurückzunehmen. Dies gilt auf mittlere Sicht zum Beispiel in besonderem Maße für die so genannten "Hartz-I" bis "Hartz-IV-Gesetze". Die (von der Hartz-Kommission ursprünglich noch gar nicht empfohlene) Begrenzung der Bezugsdauer der Versicherungsleistung "Arbeitslosengeld I" auf zwölf Monate ist ein entscheidender Schritt, Anreize zur Mitnahme des Lohnersatzes auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite einzuschränken, die Relevanz von überhöhten Anspruchslöhnen abzuschwächen und Eigenanstrengungen zur Wiederaufnahme einer Beschäftigung anzuregen. Die Probleme einer Hilfefalle sind jedoch auch durch "Hartz IV" noch nicht hinreichend gelöst. Andere Teile der Arbeitsmarktreformen werden positive Beschäftigungseffekte erst im Zusammenwirken mit steigender Arbeitsnachfrage entfalten können.

    Weitere Deregulierungen des Arbeitsmarktes sind in Deutschland sicher nötig und möglich, ohne das wichtige Gefühl von Fairness der Arbeitsbedingungen und eine gewisse Beständigkeit der Arbeitsverhältnisse zu gefährden, die im beiderseitigen Interesse von Arbeitnehmern und Arbeitgebern liegen sollte. Der Einstieg bei solchen Lösungen könnte mit den Tarifparteien bei einer Ausweitung der Arbeitszeitflexibilisierung bis zu mittel- und langfristig disponierbaren Zeitkonten erfolgen, die einem lebenslangen berufsbegleitenden Weiterlernen dienen oder eine individuell gewünschte Flexibilisierung bzw. Verkürzung der Lebensarbeitszeit beim Übergang zum Ruhestand ermöglichen können. Mit den Tarifparteien sollten sich auch betriebliche Bündnisse für Lohn- und Arbeitszeitspielräume im Rahmen der Flächentarifverträge vereinbaren lassen. Insgesamt könnte bei der Flexibilisierung von Arbeitsbedingungen mehr (als in der Reformdebatte zugestanden) auf die Sozialpartner gesetzt werden, wenn man nachhaltige Lösungen der Verbindung von Flexibilität und Sicherheit (Flexecurity) für die Arbeitswelt finden möchte. Beide Tarifparteien, auch die Gewerkschaften, die gegenwärtig oft in erster Linie als Blockierer angeprangert werden, haben sich in der Vergangenheit immer wieder bewährt und oft auch innovative Lösungen im Interesse der Arbeitnehmer und der Betriebe gefunden. Auf diese Sozialpartnerschaft zu verzichten, würde insgesamt das Vertrauen in den Reformprozess eher gefährden.

    Ein Bereich für eine solche innovative Lösung könnte dabei der Kündigungsschutz sein, wo Ländervergleiche (zum Beispiel mit Dänemark) zeigen, dass ein hoher Standard des sozialen Schutzes nicht durch mehrfache Sicherung, sondern eher durch eine Kombination von Einkommenssicherung und Flexibilität bei Entlassungen und Einstellungen möglich ist. Bei der Debatte über eine Lockerung des Kündigungsschutzes würde es auch um die Erprobung eines Reformverfahrens von "trial and error" gehen statt um das Warten auf die vorab wissenschaftlich als allein wirksam erwiesene Strategie. Letztlich wird eine Gesellschaft (mit einer geringen Neigung zur Selbstständigkeit) annehmen müssen, dass man den insgesamt eher weniger werdenden Unternehmern auch bei gefühlten Einstellungshemmnissen entgegen kommen muss.

    Die Chance für einen Neuanfang



    Im Bereich der sozialen Sicherung lässt sich das (aus der Not schon angegangene und teilweise noch zu vollendende) Zurückschneiden auf eine Grundsicherung im Sinne einer freiheitlichen, der Sozialen Marktwirtschaft entsprechenden Konzeption des Sozialstaats durchaus zu einer Tugend machen.

    Eine solche Grundsicherung, deren Bestand und Verlässlichkeit wir auch über die demographische Spitze in den kommenden Jahrzehnten hinweg werden erwirtschaften können, wird für die Bürger einen gewissen Zwang zur Schließung der Versorgungslücke beinhalten. Die Ergänzung der gesetzlichen Grundsicherung durch eigenverantwortliche private Altersvorsorge hätte man sich auch schon in der Phase des Wohlstandswachstums und der Expansion des Sozialstaats gewünscht. Good Governance in der Sozialpolitik in Deutschland wird sich daran erweisen, ob eine Mehrheit der Bevölkerung für ein Modell des Sozialstaats gewonnen werden kann, in dem mündige Bürger ihre Lebensstandardsicherung für ein verlängertes Leben zusammen mit der staatlichen Grundsicherung in die eigene Hand nehmen.

    Im globalen Entwicklungsprozess wird die Bevölkerung der hoch entwickelten und reichen Industriegesellschaft der Bundesrepublik Deutschland zunehmend ihre Gerechtigkeitsansprüche auch weltweit anwenden und sozialpolitisch Weltverantwortung wahrnehmen müssen. Das Zurückschneiden der Wohlstandsexpansion im Sozialstaat ist kein Ende des Sozialstaats. Selbstbemitleidung steht bislang keiner der lebenden Generationen dieses Landes im notwendigen Anpassungsprozess wirklich an.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Jürgen B. Donges, Das alte europäische Sozialmodell ist passé, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. 8. 2005.

  2. Vgl. Heinz Lampert, Kann der Sozialstaat gerettet werden?, in: Volkswirtschaftliche Diskussionsreihe, Beitrag Nr. 247, Augsburg 2003.

  3. Dabei sei weniger an Ludwig Erhard als an die wissenschaftlichen Begründer der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft in der "Freiburger Schule" der Staatswissenschaften erinnert. Vgl. Heinz Lampert/Albrecht Bossert, Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen Union, München 2004, S. 88ff. Vgl. auch die überzeugende theoretische Fundierung durch Walter Eucken: Gerhard D. Kleinhenz, Sozialstaatlichkeit in der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft, eine ordnungspolitische Fundierung der Sozialstaatsreform, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 216/4+5, Stuttgart 1997, S. 392 - 412.

  4. Als Gesamtdarstellung vgl. Heinz Lampert/Jörg Althammer, Lehrbuch der Sozialpolitik, Berlin-Heidelberg-New York 2004.

  5. Die Bezeichnung dieser Sozialstaatskonzeption als "Bismarck-Modell" war im Rahmen der neuen Demokratie und der Sozialen Marktwirtschaft allerdings schon immer irreführend.

  6. Vgl. G. D. Kleinhenz (Anm. 3), S. 398f. sowie ders., Schwerpunktbeitrag: Sozialpolitik als Reform des Sozialstaates, in: Gablers Wirtschaftslexikon, Wiesbaden 2004.

  7. Vgl. über diese Grundentscheidung hinaus als differenzierte Aufarbeitung der sozialpolitischen Entwicklung im einzelnen Gerhard D. Kleinhenz/Heinz Lampert, Zwei Jahrzehnte Sozialpolitik in der Bun-desrepublik Deutschland - eine kritische Analyse, in: Ordo, Bd. XXII (1971), S. 103 - 158.

  8. Vgl. die gründliche Aufarbeitung von Heinz Lampert, Politikversagen als Ursache der deutschen Sozialstaatskrise, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 225 (2005) 1, Stuttgart 2005, S. 44 - 59.

  9. Vgl. ebd., S. 46f.

  10. Vgl. als zeitnahe Analyse Gerhard D. Kleinhenz, Die Zukunft des Sozialstaats, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 37 (1992), S. 43 - 71.

  11. Vgl. ders., Bevölkerung und Wachstum. Die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland als Herausforderung für Wirtschafts- und Sozialpolitik, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd.224 1+2, Stuttgart 2004, S. 74 - 90.

  12. Vgl. Gerhard D. Kleinhenz, Erwerbsarbeit und Soziale Sicherung. Wird aus dem Prototyp der Bismarck-Länder ein Beveridge-Land?, in: Irene Becker/Notburga Ott/Gabriele Rolf (Hrsg.), Soziale Sicherung in einer dynamischen Gesellschaft, Festschrift für Richard Hauser, Frankfurt/M.-New York 2001, S. 87 - 100.

  13. Vgl. Hanns-Seidel-Stiftung (Hrsg.), Generationenstudie 2005. Wertewandel, politische Einstellungen und gesellschaftliche Konfliktpotenziale im Spannungsfeld von Generationen und Regionen, München 2005, S. 47.

  14. Vielleicht hängt dieser heimliche Konzeptionswechsel mit der in internationalen Vergleichen verwendeten Typisierung von Sozialsystemen durch die Unterscheidung von Bismarck-Ländern (mit Beitragsfinanzierung) und Beveridge-Ländern (mit Steuer-Transfer-System) zusammen. Die neue Bedeutung des Sozialstaats in der Sozialen Marktwirtschaft wird durch diese Typisierung nicht erfasst. Eine Distanz zu Bismarck hätte daher die Hinwendung zur Grundsicherung nicht begründen können.

  15. Dabei können sowohl hohe Lohnersatzraten oder Sozialtransfers als auch eine durch Langzeitarbeitslosigkeit geminderte Produktivität dazu führen, dass sich die Lohnerwartungen von Arbeitslosen nicht realisieren lassen.

  16. Vgl. Gerhard D. Kleinhenz, Flexibilität der Erwerbsarbeit, in: Horst Wildemann (Hrsg.), Personal und Organisation. Festschrift für Rolf Bühner, München 2004, S. 501 - 517.

  17. Damit wird das hehre Ziel der Lebensstandardsicherung nicht nachträglich für ordnungsinkonform erklärt. Es entsprach vermutlich so den Präferenzen der Menschen, und auch heute scheint bei verbesserten Finanzinstitutionen erst eine Minderheit der Bürger sich die Mündigkeit für eine eigenverantwortliche Gestaltung eines wesentlichen Teils der Altersvorsorge in Ergänzung der staatlichen Säule zuzutrauen.

  18. Von den Unternehmen für Finanzdienstleistungen wird diese Versorgungslücke zunehmend aufgezeigt und zur Werbung eingesetzt.

Dr. phil., geb. 1940; Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Passau, Innstraße 27, 94030 Passau.
E-Mail: E-Mail Link: kleinhenz@uni-passau.de